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BERICHT/244: Geschichte des Reichsfinanzministeriums - Erste Zwischenergebnisse (BMF)


Bundesministerium der Finanzen (BMF)
Pressemitteilung Nr. 45 vom 8. November 2010

Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Reichsfinanzministeriums stellte erste Zwischenergebnisse vor


Die vom Bundesministerium der Finanzen im vergangenen Jahr eingesetzte unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Reichsfinanzministeriums in der Zeit des Nationalsozialismus stellte heute erste Zwischenergebnisse ihrer Tätigkeit vor. Dazu begrüßte Werner Gatzer, Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen, Mitarbeiter des Ministeriums, Wissenschaftler und Journalisten.

Ziel des Projekts ist es, Funktion und Tätigkeit des Reichsfinanzministeriums im NS-Staat zu untersuchen und damit einen Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus zu leisten. Gleichzeitig sollen Impulse für weitere wissenschaftliche Forschungen in diesem Bereich gegeben werden. Aufbauend auf bisherigen, insbesondere regionalen, Untersuchungen zur Finanzverwaltung und einer systematischen Auswertung der heute verfügbaren Aktenbestände soll im Ergebnis eine wissenschaftlich fundierte Analyse der zentralen Behörde der Reichsfinanzverwaltung in der Zeit des Nationalsozialismus vorgelegt werden.

Die Kommission hat ein Forschungskonzept mit den Schwerpunkten Behördengeschichte des Reichsfinanzministeriums, Steuer- und Schuldenpolitik sowie fiskalische Judenverfolgung entwickelt und Wissenschaftler/innen mit der Bearbeitung einzelner Themen beauftragt. Sie wird die Forschungsarbeiten koordinieren und die Veröffentlichung der Ergebnisse begleiten.

Das Projekt ist auf einen Zeitraum von drei bis vier Jahren angelegt. Die Ergebnisse zu den einzelnen Schwerpunkten werden nach Abschluss der Forschungsarbeiten veröffentlicht.

In die heutige Vortragsveranstaltung mit anschließender Podiumsdiskussion führte Prof. Dr. Hans-Peter Ullmann von der Universität Köln ein. Der Sprecher der Historiker-Kommission gab einen Überblick über Inhalt und Verlauf des Projekts. Dem Vortrag von Dr. Christiane Kuller (Universität München) zum Thema "Finanzverwaltung und Judenverfolgung" schloss sich eine Podiumsdiskussion mit Mitgliedern der Historiker-Kommission zu dem Thema "Finanzen in der Diktatur" an.


Mitglieder der Kommission sind:

Prof. Dr. Jane Caplan, Universität Oxford
Prof. Dr. Ulrich Herbert, Universität Freiburg
Prof. Dr. Hans Günter Hockerts, Universität München
Prof. Dr. Werner Plumpe, Universität Frankfurt
Prof. Dr. Adam Tooze, Universität Yale
Prof. Dr. Hans-Peter Ullmann, Universität Köln
Prof. Dr. Patrick Wagner, Universität Halle


Ein detaillierter Bericht zum Projekt ist im BMF-Monatsbericht 6/2010 veröffentlicht.


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ES GILT DAS GESPROCHENE WORT!

Vortrag von Hans-Peter Ullmann

Geschichte des Reichsministeriums der Finanzen in der Zeit des Nationalsozialismus


"Wo es sich bei den Finanzsachverständigen ja doch letzten Endes um Spitzbuben handele", habe "ja nicht geringste Veranlassung bestanden, in den Angaben ihnen gegenüber restlos aufrichtig zu sein", befand Adolf Hitler bei einer Tischrunde im Führerhauptquartier Ende April 1942. Seine Verachtung für die Finanzbürokratie und die Missachtung geordneter Finanzen lässt sich kaum klarer formulieren. Doch bedurfte es leistungsfähiger öffentlicher Finanzen, um die Macht im Inneren zu erhalten und nach außen militärisch zu expandieren. Darum spielte das Reichsministerium der Finanzen beileibe keine Nebenrolle im Dritten Reich. Es war keine "Aufsichtsbehörde ohne politischen Rückhalt", und Lutz Graf Schwerin von Krosigk, der von 1932 bis 1945 an der Spitze des Hauses stand, sollte nicht als "Hauptbuchhalter der Nation" verharmlost werden. Eine solche Interpretation schreibt nur die Entlastungsstrategie leitender Personen des Reichsfinanzministeriums nach 1945 fort. Zwar konnten diese nach dem Weltkrieg nicht einfach beschweigen, wie sie im NS-System agiert hatten. Doch entwarf die ehemalige Führungsspitze des Ministeriums mit hoher Deutungskraft das Bild einer politisch neutralen Verwaltung, die allein fachlichen Grundsätzen gefolgt sei. Hinter dem Selbstbild verblasste, welchen unverzichtbaren Beitrag das Reichsfinanzministerium zum Funktionieren, zur Stabilität und damit zur verbrecherischen Politik des NS-Regimes geleistet hatte: erstens, indem es das Unrechtsregime samt seiner Politik der Aufrüstung und Kriegführung finanzierte; und zweitens, indem es sich dazu mit Steuern und Kredit nicht allein der herkömmlichen Mittel bediente, sondern in großem Umfang auf schlichten Raub setzte.

Die historische Forschung hat sich in den letzten zehn Jahren in regional oder lokal angelegten Studien mit der Mitwirkung der Finanzbürokratie an der Verfolgungs- und Raubpolitik des NS-Regimes beschäftigt. Was bis heute fehlt ist eine wissenschaftliche Untersuchung der Struktur und Tätigkeit sowie des politischen Gewichts des Reichsministeriums der Finanzen in der Zeit des Nationalsozialismus.

Im Jahr 2009 beauftragte das Bundesfinanzministerium deshalb eine siebenköpfige, international zusammengesetzte Historikerkommission mit einer solchen Arbeit. Diese steht noch ganz am Anfang. Deshalb kann es heute nicht darum gehen, Ergebnisse vorzustellen; ich will Ihnen vielmehr das Forschungsprogramm mit wenigen Strichen skizzieren. Dieses bündelt sich zu vier Schwerpunkten:

Der erste Schwerpunkt ist eine modernen wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Geschichte des Reichsfinanzministeriums als Behörde. Von seiner Gründung im Jahre 1919 an war das Ministerium eine "politisierte" Fachbehörde. Es lebte angesichts der Krisen und Katastrophen der Weimarer Zeit in einer Art permanentem Ausnahmezustand. Das erschwerte eine demokratische Kontrolle, prägte das Selbstverständnis des leitenden Personals und erleichterte es, die Behörde in das Herrschaftsgefüge des Dritten Reiches einzubinden. Im NS-System verlor das Ministerium einerseits durch die "Flucht aus dem Budget" an Gewicht. Reichswehr- und Reichsluftfahrtministerium, NSDAP und SS wirtschafteten außerhalb des Staatshaushalts, und der Einfluss auf entscheidende Politikfelder ging verloren: Arbeitsbeschaffung, Aufrüstung oder Kriegführung zählen dazu. Andererseits profitierte das Ministerium von der Entmachtung der Länder, der Ausweitung staatlicher Aufgaben und der Stärkung der Exekutive durch die Ausschaltung der Parlamente. Wie wirkten sich diese Veränderungen auf die innere Organisation, die Haltungen und Wertvorstellungen des Personals sowie die Kultur des Ministeriums aus? Welche Bedeutung gewann die NS-Ideologie als Grundlage finanzpolitischen Handelns? Wie sah nicht zuletzt nach 1945 das "Nachleben" der Reichsfinanzverwaltung aus? Hier geht es um personelle Kontinuitäten, "funktionale" Übergänge, das Selbstverständnis der Finanzbürokratie der jungen Bundesrepublik und ihren Umgang mit der eigenen Vergangenheit.

Die Behördengeschichte wird erweitert und vertieft durch Projekte, die sich den drei Säulen nationalsozialistischer Aufrüstungs- und Kriegsfinanzierung widmen: Steuern, Schulden und Raub. So nimmt der zweite Schwerpunkt die Steuerpolitik des Ministeriums in den Blick. Diese diente zuerst der Finanzierung des Regimes mit seinen vorrangigen Zielen der Aufrüstung und Kriegführung. Damit verbanden sich in einem Mischungsverhältnis, das genauer auszuloten sein wird, politische Zwecke: Steuern sollten die sog. "Volksgemeinschaft" durch die Umverteilung von Einkommen und Vermögen festigen und die sog. "Gemeinschaftsfremden" ausschließen, indem diese steuerlich unter Sonderrecht gestellt wurden. Vor dem Hintergrund der Steuerpolitik der Weimarer Republik ist zuerst nach dem Prozess der Besteuerung zu fragen, in dem sich seit der Steuerreform von 1934 nationalsozialistische Prinzipien zunehmend durchsetzten. Damit veränderte sich die Steuerlegitimation: Steuerzahlen wurde zu einer Ehrenpflicht gegenüber der sog. "Volksgemeinschaft". Zugleich hatte sich die Besteuerung den politischen Prioritäten des Regimes unterzuordnen, durfte vor allem die Moral der Bevölkerung im Krieg nicht untergraben. Schließlich kam der Steuer eine symbolische Funktion zu: Sie wahrte die Illusion solider öffentlicher Finanzen, sorgte für einen Schein fiskalischer "Normalität".

Den dritten Schwerpunkt bildet die Schuldenpolitik des Finanzministeriums. Denn der größte Teil der Mittel, die Rüstung und Kriegführung verschlangen, wurde durch Kredite aufgebracht. Als das Dritte Reich 1945 kapitulierte, hatte es einen Schuldenberg von mindestens 452 Mrd. Reichsmark aufgetürmt. Dass der Kreislauf von Geldschöpfung durch die Reichsbank, Neutralisierung von Kaufkraft und deren Abschöpfung durch Kredit bis 1943 weitgehend reibungslos funktionierte, verdankte das Regime einem Zusammenspiel von Institutionen und Akteuren, dessen Kern das Finanzministerium bildete. Deshalb ist der Schleier finanztechnischer, scheinbar unpolitischer Rationalität zu lüften und nach personalen Netzwerken zu fragen, die auf gemeinsam geteilten Interessen und Vorstellungen, Werten und Normen beruhten. Auch wird zu untersuchen sein, wie "geräuschlos" sich der Finanzierungskreislauf wirklich drehte. Viel spricht dafür, dass Sparer wussten, wofür ihre Ersparnisse verwendet wurden.

Der vierte Schwerpunkt ist der nationalsozialistischen Raub- und Beutefinanzierung gewidmet: zum einen der fiskalischen Judenverfolgung, über die Frau Dr. Kuller Ihnen gleich ausführlich berichten wird; zum anderen der Einziehung des Vermögens der sog. "Reichsfeinde" angefangen bei den politischen Emigranten und den durch das Regime Ausgebürgerten über Sinti und Roma bis hin zu politisch missliebigen Personen und Institutionen; schließlich der Ausplünderung der eroberten Länder. Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass die Raub- und Beutefinanzierung allein im Krieg mindestens 119 Mrd. eingebracht hat; das waren nicht weniger als 30 % der Aufwendungen für die Wehrmacht.

In der Zusammenschau der vier kurz skizzierten Schwerpunkte wird es darum gehen, die Handlungsspielräume bei dem Mix aus Steuer-, Kredit- und Raubfinanzierung auszuloten. Das berührt zugleich die Frage nach der Stellung des Finanzministeriums im NS-Herrschaftsgefüge, das Wechselspiel zwischen Machtverlust und -gewinn, die internen personen- und gruppenspezifischen Einflusszonen sowie den Ablauf der Entscheidungsprozesse. Wer die diskriminierende und repressive, zugleich aber auch umverteilende Steuerpolitik nach 1933 konzipiert, umgesetzt und zu verantworten hatte, ist ebenso zu fragen, wie herauszustellen, wer, warum und mit welchen Folgen an der nationalsozialistischen Raub- und Beutepolitik mitgewirkt hat.

"Die Ausgaben, die ein Gemeinwesen in den Voranschlag seines Budgets einstellt, sind der mathematische Ausdruck der Aufgaben, die es sich setzt", formulierte prägnant der Finanzsoziologe Rudolf Goldscheid. Wer die öffentlichen Finanzen im Dritten Reich unter diesem Aspekt betrachtet, stößt auf den Kern der NS-Diktatur und hier, in ihrem Zentrum, auf das Reichsministerium der Finanzen.


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Quelle:
BMF-Pressemitteilung Nr. 45 vom 08.11.2010
Herausgegeben vom Referat K (Kommunikation) des
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. November 2010