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BERICHT/253: Umfassende Untersuchung des Aachener Pfalzbereichs (idw)


Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen - 16.11.2011

"Eine der bedeutendsten Herrscherstätten des Mittelalters in Europa"

RWTH-Historiker, Denkmalpfleger, Bauforscher und Archäologen nehmen eine umfassende Untersuchung des Aachener Pfalzbereichs vor

Granusturm - © RWTH Aachen

In enger Kooperation mit und im Auftrag der
Stadt Aachen erarbeiten Archäologen,
Denkmalpfleger, Bauforscher und Historiker der
RWTH Aachen erstmals ein Grabungskataster
des Aachener Pfalzbereichs. Der Granusturm
gab durch die erforderliche Dachsanierung den
Auftakt zu den umfangreichen Bauaufnahmen.
© RWTH Aachen
"Das Innere des Granusturmes erinnert an ein Labyrinth." So beschreibt Univ.-Prof. Christian Raabe vom Lehr- und Forschungsgebiet Denkmalpflege der RWTH Aachen die aufwendige Architektur des Turmbaus. Die Sanierung des Turmhelms aus Konjunkturmitteln für Welterbestätten ist gerade abgeschlossen. Gleichzeitig diente das für die Sanierung notwendige Gerüst der Untersuchung der steinernen Außenwände des Turms und bildete somit den Auftakt für die grundlegende Aufarbeitung der gesamten Pfalz durch eine interdisziplinäre Forschung.

Beim Granusturm handelt es sich um den am höchsten erhaltenen Teil der kurz vor 800 erbauten karolingischen Königshalle, der sogenannten Aula Regia, in deren Überresten im 14. Jahrhundert das Aachener Rathaus errichtet wurde. Leider gibt es bisher nur Vermutungen über das Aussehen, die Funktion und zum Teil auch die Lage der gleichzeitig mit der Pfalzkirche errichteten Bauten. So existierten neben der Königshalle und dem Granusturm noch ein Verbindungsgang, der durch einen Querbau geteilt wurde, und zahlreiche andere in den Quellen genannte Gebäude. Gründe für diese Forschungslücken sind vor allem eine fehlende Dokumentation der erhaltenen Bausubstanz sowie eine unzureichende Aufarbeitung der Befunde aus den Altgrabungen und der schriftlichen Quellen.

Im Rahmen einer umfangreichen Forschungszusammenarbeit sollen in den nächsten drei Jahren Bausubstanz, Grabungen und Schriftquellen untersucht werden. In einer Kooperation des Lehr- und Forschungsgebietes Denkmalpflege (Univ.-Prof. Dr.-Ing. Christian Raabe, Dipl.-Ing. Marc Wietheger) mit dem Lehrstuhl für Baugeschichte (Dr.-Ing. Judith Ley) erfolgt eine genaue Dokumentation des Baubestandes und die Sichtung aller Archivalien. Hierfür stehen 398.000 Euro aus dem von Bund und Stadt geförderten "Investitionsprogramm nationale UNESCO-Welterbestätten: Pfalzenforschung aus der Perspektive der Bauforschung" zur Verfügung. Im Umfang von 250.000 Euro fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) das Projekt "Die Aula Regia in Aachen - Karolingische Königshalle und spätmittelalterliches Rathaus" (Dr.-Ing. Judith Ley), das die Analyse und bauhistorische Einordnung der mittelalterlichen Baubefunde zum Ziel hat. Die Aufarbeitung der Altgrabungen des letzten Jahrhunderts koordiniert der Lehrstuhl für Mittlere Geschichte (Univ.-Prof. Dr. Harald Müller, Privatdozent Dr. Sebastian Ristow). Auch hier liegen Mittel aus dem "Investitionsprogramm nationale UNESCO-Welterbestätten" im Umfang von 240.000 Euro bereit.

Für die Denkmalpfleger und Bauhistoriker steht die Bausubstanz im Mittelpunkt der Betrachtung. In enger Abstimmung mit dem Landschaftsverband Rheinland (LVR), der die Bauforschung am Dom durchgeführt hat, dem Amt für Denkmalpflege und dem Gebäudemanagement der Stadt Aachen erfolgt eine akribische Dokumentation und Bauaufnahme. Mit 3D-Scans, fotogrammetrischen Bildentzerrungen, computergestütztem tachymetrischem Aufmaß, aber auch detaillierten Handzeichnungen werden Materialien, Konstruktionen und Bauteile von Marc Wietheger, Judith Ley, dem Fotografen Robert Mehl und einen Team von studentischen Hilfskräften festgehalten. Hinzu kommen Analysen des Putzes und petrografische Gutachten, die Aussagen zur Herkunft des verwendeten Steinmaterials erlauben. "Das Ergebnis wird ein Bauphasenplan sein, mit dessen Hilfe genau ersichtlich ist, welche baulichen Maßnahmen mit welchen Auswirkungen zu welcher Zeit in der Gesamtanlage des Rathauses vorgenommen worden sind. Insofern wird erstmals in einer Gesamtschau nachvollziehbar sein, welche Veränderungen es in der Romanik und Gotik, im Barock sowie im 19. und 20. Jahrhundert gegeben hat. Wir hoffen, am Ende die bauliche Genese des Aachener Rathauses im Kontext der gesamten Pfalzanlage beschreiben zu können", so Professor Dr.-Ing. Christian Raabe.

Die bisherigen Forschungen lassen beispielsweise erkennen, dass es hinsichtlich der für den Granusturm verwendeten Baumaterialien und Bauweisen deutliche Parallelen zur Pfalzkirche gibt. Die Handwerker haben allerdings beim Kirchenbau einheitlichere bzw. großformatigere Steine verwendet als beim Bau des Turms und es wurde präziser gearbeitet. "Doch mit jeder Antwort tauchen neue Fragen auf, die die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den kommenden Monaten beschäftigen werden", weiß Raabe. Wie hat man um 800 ein mehr als 20 Meter hohes und im Inneren sehr komplexes Gebäude wie den Granusturm geplant und abgesteckt? Wie wurden die einzelnen Gebäude der Pfalz genutzt und wie waren sie miteinander verbunden? Inwieweit kann man die Anlage rekonstruieren? Hier sollen Vergleiche mit anderen Pfalzen und Bauten aus der Spätantike und dem Frühmittelalter Aufschluss geben.

Bei dieser Mammutaufgabe ist Unterstützung stets willkommen. Nicht zuletzt deshalb bieten der Lehrstuhl für Denkmalpflege, Baugeschichte und Mittlere Geschichte gemeinsam Forschungsseminare an, die sich bei den Studierenden großer Beliebtheit erfreuen. "Interdisziplinäres Arbeiten ist unabdingbar. Insofern lag es nahe, über die konkrete Forschungsarbeit hinaus einen Arbeitskreis zur Pfalzenforschung in Aachen einzurichten", schildert Dr.-Ing. Judith Ley, Sprecherin des Arbeitskreises. Hier finden die an der Forschung beteiligten Institutionen zusammen, so neben den bereits genannten RWTH-Einrichtungen das Amt für Denkmalpflege, die Stadtarchäologie, die Beauftragten des Lehr- und Forschungsgebiets Stadtbaugeschichte für den Internationalen Rat für Denkmalpflege (ICOMOS), der Rathausverein, der Landschaftsverband Rheinland sowie die Dombauhütte. Der Arbeitskreis dient dem Informationsaustausch und sammelt, strukturiert und systematisiert das vorhandene Quellenmaterial, das derzeit an unterschiedlichen Stellen aufbewahrt wird - so auch den umfangreichen Nachlass des ehemaligen Dombaumeisters und Stadtkonservators Leo Hugot. "Wir haben damit erstmals die Möglichkeit, alle Daten in einem System allgemein verfügbar zusammenzustellen. So soll beispielsweise ein gemeinsam erarbeitetes und finanziertes Computermodell entstehen, das sowohl den Baubestand der Pfalz wie auch die archäologischen Befunde verortet. Diese Kooperation ist ein Katalysator für die Forschung", fasst Professor Raabe zusammen.

Der interdisziplinäre Ansatz von Bauforschung, Denkmalpflege, Archäologie und Mediävistik bedeutet auch aus Sicht von Professor Dr. Harald Müller vom Historischen Institut einen inhaltlichen Quantensprung: "Seit 1910 sind archäologische Grabungen im Pfalzbereich erfolgt, die weder systematisch ausgewertet noch gänzlich veröffentlicht worden sind", stellt der Lehrstuhlinhaber für Mittlere Geschichte fest. Auch wurde in den vergangenen Jahrzehnten selten disziplinenübergreifend geforscht. "Erstmals werden wir nach Abschluss der Forschungsarbeiten in etwa drei Jahren alle bisherigen Ergebnisse einheitlich zusammenführen, mit den Schriftquellen abgleichen und veröffentlichen. Ziel ist ein durch Privatdozent Dr. Sebastian Ristow erarbeiteter archäologischer Befund- und Phasenplan sowie ein Geländemodell des Pfalzbereichs von der Römerzeit bis heute." In dem Plan wird auch der Schmelzofen verortet sein, in dem allen Anschein nach die Messingtüren der Marienkirche gegossen worden sind. "Die Schmelze auf dem Katschhof wurde schon 1910/11 ansatzweise ausgegraben", so Müller.

Im Jubiläumsjahr 2014 wird Professor Müller darüber hinaus den wiederum interdisziplinär erarbeiteten Beitrag zur Karolinger-Zeit im zweiten Band der Aachener Stadtgeschichte vorlegen. Und soviel verrät er schon heute: "Die Vorstellung vom karolingischen Aachen, wie sie vor allem das von Leo Hugot gebaute Modell der Pfalz aus den 60er Jahren geprägt hat, müssen wir wohl in Teilen revidieren." Es gilt, die Schriftquellen vor dem Hintergrund der jüngsten Forschungen noch einmal neu zu analysieren. Ein kleines Beispiel hierfür ist der hölzerne Verbindungsgang zwischen Aula und Marienkirche. Er ist nur in diesen Quellen erwähnt, archäologische Spuren fehlen. Über seine Funktion, seine Lokalisierung in der Pfalz und sein Aussehen ist neu nachzudenken. "Wir werden insgesamt in Wort und Bild vor allem klar unterscheiden, was als gesichert gelten kann, was plausibel oder allenfalls wahrscheinlich ist", so Müller.

Was Professor Müller und seine Mitarbeiter wohl erst nach 2014 vorlegen können, ist der Band Aachen im "Repertorium der deutschen Königspfalzen". In diesem Repertorium werden die mittelalterlichen Herrschersitze auf dem Gebiet der Bundesrepublik ausführlich behandelt, Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufgezeigt. Aachen ist aufgrund seiner herausragenden Rolle in der Karolingerzeit und später als Ort der Königskrönungen das noch unbearbeitete Herzstück des Unternehmens. Die eng koordinierten interdisziplinären Forschungsarbeiten der nächsten Jahre werden die Grundlagen für diesen Band liefern.

Im Hinblick auf das Jubiläumsjahr 2014, in dem an den 1200. Todestag Karls des Großen erinnert wird, sind also durchaus noch einige Überraschungen zu erwarten. Die Leiterin der Abteilung für Denkmalpflege und Stadtarchäologie Monika Krücken freut sich schon jetzt auf die Ergebnisse der Forschungen über "eine der bedeutendsten Herrscherstätten des Mittelalters in Europa", die seitens der Stadt Aachen angestoßen und beauftragt wurden.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution63


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen,
Thomas von Salzen, 16.11.2011
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. November 2011