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DISKURS/027: 1968 als Durchgangspunkt (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 38 vom 19. September 2008
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

1968 als Durchgangspunkt

Georg Fülberth über Aufstieg und Revolte der Intelligenz


Unter all den vielen Äußerungen zum Thema 1968 kann man inzwischen auswählen und sich auf das bislang schon vorliegende Vernünftige stützen, zum Beispiel auf den Mittelteil von Eric Hobsbawms Jahrhundertbilanz "Das Zeitalter der Extreme". Dort findet man den Hinweis, dass tatsächlich eine soziale Revolution stattgefunden habe, aber nicht 1968, sondern in den Jahrzehnten vorher. Die Revolte war nur eine Reaktion darauf.


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Versteht man unter sozialer und politischer Revolution den Sturz einer Klassenherrschaft und ihre Ersetzung durch eine andere, dann handelte es sich allerdings nicht um eine Revolution. Der Kapitalismus war vorher und hinterher ja noch da. Korrigieren wir also Eric Hobsbawm und sprechen besser von Transformation.

In den hoch entwickelten kapitalistischen Ländern verschwanden nach 1960 die Bauern als eine quantitativ und ökonomisch relevante Menschengruppe und es stieg eine neue Massenschicht auf: die Intelligenz. Bis dahin war sie ein Anhängsel der Bourgeoisie (vorher: des Adels) gewesen. Wer sich jetzt um eine empirische Analyse der BRD-Sozialstruktur bemühte, geriet in Schwierigkeiten: Wohin gehörte die Intelligenz? Die Antwort wird heute lauten müssen: Sie ist eine eigenständige Schicht, teils lohnabhängig, teils auf eigene Rechnung. Der Gegensatz von Kapital und Arbeit ist dadurch nicht aufgehoben, aber zwischen die beiden hauptsächlichen ökonomischen "Klassen an sich" (Bourgeoisie und Proletariat) hat sich nun die Intelligenz geschoben, die in höherem Maße eine "Klasse für sich" geworden ist als das Proletariat. Ihre Artikulationsfähigkeit ist weit stärker entwickelt als die der Arbeiter- und ebenso groß wie die der Kapitalistenklasse. Da die wirtschaftlichen Grundverhältnisse aber unverändert geblieben sind, bleibt die Hegemonie des Kapitals erhalten und macht die Kenntnisse und Fertigkeiten der Intelligenz sich dienstbar. Aber es handelt sich jetzt um eine Konvergenz der Interessen, nicht immer um ein unmittelbares Abhängigkeitsverhältnis.

Die Revolte von 1968 war das Betriebsgeräusch, das dadurch entstand, dass die neue Massenschicht sich auf ihren Platz im politischen und gesellschaftlichen System drängelte. Schließlich - mit Zeitverzögerung von einem Jahrzehnt - produzierte sie sogar eine eigene Partei: die Grünen. Eine Dramatisierung erfuhr der Aufstieg der Intelligenz dadurch, dass sie in den sechziger Jahren auf dem Arbeitsmarkt stark nachgefragt war. Bis 1961 hatte die BRD kaum in ihre Bildungs-Infrastruktur investieren müssen: Die DDR sorgte ständig für gut ausgebildeten Nachschub. Mit dem Mauerbau 1961 kam Panik auf: Woher nun die bisher frei Haus gelieferten Abiturienten, Facharbeiter und Ärzte nehmen? So entstand die "deutsche Bildungskatastrophe". Die gesteigerte Nachfrage nach akademisch Auszubildenden steigerte deren Selbstbewusstsein.

Allerdings war dies nicht auf die Bundesrepublik und Westberlin beschränkt. In den USA hatte der Sputnik-Schock von 1957 die gleiche Wirkung. Aber das sind schon wieder so Ereignisse, die geeignet sind, den Blick auf einen wichtigeren und langfristigen Basis-Prozess zu verstellen: die zunehmende Bestimmung der Produktions- und Reproduktionsvorgänge durch neue Technologien. Das gibt es zwar schon seit der Industriellen Revolution, nahm aber seit den fünfziger Jahren an Umfang und Intensität enorm zu. Hierbei nahm damit nicht nur die Zahl von Ingenieuren und Naturwissenschaftlern zu, sondern auch von Geisteswissenschaftlern. Die Bewusstseinsindustrie war in hohem Maße von neuen Reproduktionstechniken (Unterhaltungselektronik) abhängig und ist zumindest in ihrer heutigen Form deren Resultat. Da bekamen auch Absolventinnen und Absolventen der geisteswissenschaftlichen Fakultäten ihre Chance. Die notgedrungene Bereitschaft der politischen und ökonomischen Eliten nach 1957 (USA) und 1961 (BRD) zur Reform der Infrastruktur führte überdies zu einem hastigen Ausbau der Bildungsinstitutionen und schuf ebenfalls neuen Bedarf. Er konnte nur gedeckt werden, indem das bisherige akademische Privileg des Bürgertums zumindest relativiert wurde. Jetzt kamen tatsächlich Leute aus den bisher "bildungsfremden" Schichten an die Uni.

Dort fühlten sie sich allerdings zunächst eher eingeschüchtert als ermutigt. Zugleich waren inzwischen ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen aus besserem Hause verunsichert: Bisheriges Wissen drohte schneller zu veralten, der alt-akademische Hintergrund reichte allein nicht mehr aus, Tunlichkeit eines Seitenwechsels war zu erwägen. Die Wortführer des SDS kamen mehrheitlich aus jenem gehobenen Bürgertum, das jetzt aber an den Universitäten nicht mehr ganz unter sich blieb. Aber das ist schon wieder die verengte Innen-Wahrnehmung der weit fundamentaleren Voraussetzung: die Neurekrutierung und enorme Ausweitung der Intelligenz-Schicht.

Wer Neues zu verarbeiten hat, greift häufig auf ältere Bilder zurück. Das nennt man dann eine Projektion. Die Jahre 1968-1973 waren die letzte Etappe einer Periode, die man im Nachhinein als das "goldene Zeitalter" des modernen Kapitalismus zu erkennen gelernt hat: Vollbeschäftigung. Dass es 1966/67 durch eine Mini-Rezession eingetrübt worden war, hatte erste Blicke auf die Krisenhaftigkeit dieser Gesellschaft erlaubt, der bald darauf neu einsetzende Aufschwung - 1968 war ein Boom-Jahr - erzeugte bei Intellektuellen, die sich als eine neue Klasse zu halluzinieren begannen, jene Kombination aus Verunsicherung und Selbstbewusstsein, das zur Aktion animierte. Dass ein universeller Aufbruch begonnen habe, vergleichbar früheren Aufstands-Zeiten in Europa, las man an den Emanzipationsbewegungen der Dritten Welt ab. Als im Mai 1968 in Frankreich auch die Arbeiterklasse in Bewegung geriet und sich dies 1969 in den Heißen Herbsten in Italien und sogar in der Montanindustrie der Bundesrepublik wiederholte, gewannen Revolutions-Projektionen noch mehr scheinbare Evidenz.

Erst einige Jahre später - etwa ab 1974 - lernte man, dass das, was man als den Neuanfang sozialer Kämpfe buchstabiert hatte, in Wirklichkeit schon das Ende einer Periode gewesen ist. Die zeitweilige Waffenparität zwischen Kapital und Arbeit war vorbei. Die Intelligenz musste sich neu sortieren. Statt der Arbeiterklasse entdeckte sie realistischerweise nun sich selbst.

Dass die Intellektuellen ihren Aufbruch sich sozialistisch vorstellten, hatte nicht nur mit ihrer zeitweiligen Orientierung an einer als aktuell revolutionär missverstandenen Arbeiterklasse zu tun, sondern mit der Stärke des Realen Sozialismus in jener Zeit. Er schien sich endgültig gegen den Kapitalismus behauptet zu haben und sogar in der Offensive zu sein. In Vietnam kämpfte eine vom SDS gefeierte nationale Befreiungsbewegung mit sowjetischen Waffen, Kuba stützte sich auf die Sowjetunion. Die blauen Bände der Marx-Engels-Werkausgabe waren in der DDR gedruckt. Dies alles machte die linken Intellektuellen keineswegs mehrheitlich zu Kommunistinnen und Kommunisten, aber sie arbeiteten sich daran ab, und wenn ihnen der Reale Sozialismus nicht gefiel, dann musste es ein anderer sein, aber eben Sozialismus.

Die politische und ökonomische Revolution war ausgefallen, die soziale Transformation hatte stattgefunden, die wissenschaftlich-technische war noch im Gang. Eine weitere kam hinzu: die kulturelle. Sie bestand darin, dass im Alltag zwei Merkmale des konservativen Habitus: Distanz und Differenz, an Bedeutung verloren zugunsten der scheinbaren Egalität der "flachen Hierarchien" und von eher lockerem Umgang. Auch hier wurde 1968 nur beschleunigt, was schon seit den fünfziger Jahren in der "Amerikanisierung" auf den Weg gekommen war.

Teil der kulturellen Revolution war die sexuelle. Wer zu Beginn der sechziger Jahre noch nicht erwachsen war, kann sich heute nicht mehr vorstellen, wie angst- und sanktionsbelegt die nichtehelichen Beziehungen der Geschlechter damals gewesen sind. Dass dies sich nun änderte, verdankte sich einer pharmazeutischen Umwälzung. Die hatte schon vor 1968 stattgefunden, erhielt in diesem Jahr aber ihre Ideologisierung. Es fand nicht die Abschaffung, aber eine Transformation des Patriarchats statt.

Günter Amendt hat - und zwar positiv - auf die Bedeutung von Drogen in der Studierendenbewegung hingewiesen. Hier soll zunächst an eine Beobachtung erinnert werden, die der Historiker Fernand Braudel in seiner "Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts" gemacht hat: mit dem Aufstieg des Kapitalismus begann der massenhafte Verbrauch von Branntwein. Vorher kannte man Wein und Bier, die scharf gebrannten Sachen aber mussten nunmehr den Opfern des Kapitalismus diesen - scheinbar - etwas weniger unerträglich machen. Er kam auf einer Woge von Schnaps zur Herrschaft. Opium und Kokain dagegen waren zunächst etwas für die feineren Leute (Peter Hacks führt die deutsche und englische Romantik auf ihren Gebrauch in besseren Kreisen zurück), in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurden sie auch in weiteren Schichten verbreitet. Die wissenschaftlich-technische Revolution steuerte eine synthetische Droge hinzu: LSD. Heute sind bestimmte Erscheinungen von Showgeschäft, Sport, Politik, Wirtschaft ohne derlei Mittel kaum noch vorstellbar. Auch in dieser Hinsicht war 1968 ein Durchgangspunkt.

Der schwermütige Max Weber sah Kapitalismus noch als eine Zwangsanstalt, ein stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit. "Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" - das sagt schon viel. Luc Boltanski und Eve Ciapello haben in ihrem Buch "Der neue Geist des Kapitalismus" (deutsch 2003) darauf hingewiesen, dass diese Produktionsweise sich die "Künstlerkritik", die mittlerweile - und besonders laut 1968 - an ihr geübt wurde, zunutze machte: an die Stelle des Ausbeutungs-Zwangs von außen (genauer: neben diesen) tritt die intrinsische Motivation des sich selbst ausbeutenden "Arbeitskraftunternehmers".

Für den Kapitalismus gilt in Hinblick auf die gescheiterten Revolten gegen ihn: was ihn nicht umbringt, macht ihn nur stärker. Verzicht auf Gegenwehr aber würde seine Opfer vollends vernichten. So passen beide gut zusammen. Interessanter ist, was ihn denn schließlich wirklich umbrächte, statt ihn zu stärken, und ob dann etwas Besseres nachkommt. Aber das ist ein anderes Thema und hat mit 1968 nichts zu tun.

(Vortrag bei einer Konferenz am 5. September in Gütersloh)


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 40. Jahrgang, Nr. 38,
19. September 2008, Seite 12
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. September 2008