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FORSCHUNG/112: Lucille Eichengreen - Rede zur Vorstellung der Chronik (Spiegel der Forschung - Uni Gießen)


Spiegel der Forschung Nr. 1/Juli 2008
Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen

"Ich empfinde Freude und Dankbarkeit - aber auch Trauer und Schmerz"
Rede einer Überlebenden des Holocaust zur Vorstellung der "Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt"

Von Lucille Eichengreen


Ein Festakt aus Anlass der Präsentation der Edition der "Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt" fand Mitte November 2007 im Georg-Büchner-Saal der Alten Universitätsbibliothek in Gießen statt. Veranstaltet hatte die Feierstunde, zu der auch die ehemalige Mitarbeiterin im "Archiv des Judenältesten von Litzmannstadt", Dr. Lucille Eichengreen, aus den USA nach Gießen angereist war, die Arbeitstelle Holocaustliteratur der Universität Gießen. Lucille Eichengreen überlebte das Getto Lodz/Litzmannstadt - anders als ihre kleine Schwester und ihre Mutter. Nach der Schließung des Gettos im Sommer 1944 hatte man sie in das Vernichtungslager Auschwitz, in das Hamburger KZ Neuengamme und nach Bergen-Belsen deportiert.

Wohngebiet der Juden

Sehr geehrte Damen und Herren,

63 Jahre nach Auflösung des Lodzer Gettos bin ich als Gast hierher nach Gießen gekommen. Vor mir liegt ein fünfbändiges Buchpaket, mit dessen Existenz ich vielleicht im Traum, aber nicht in gedruckter Wirklichkeit gerechnet habe: die jetzt fertiggestellte Lodzer Getto-Chronik.

Gleich vorab: Ich empfinde Freude und Dankbarkeit, zugleich aber auch Trauer und Schmerz. Es sind ambivalente Gefühle. Für mich ist die Lodzer Getto-Chronik auf höchst persönliche Weise immer sehr präsent gewesen. Die Chronik ist Teil meines Lebens, und ich bin ein Teil von ihr.

Wenn Sie in diesen Büchern blättern und lesen, begegnen Ihnen viele Namen - besser gesagt: Menschen, mit denen ich Jahre im Getto gelebt und gearbeitet habe. Das Chronikregister verzeichnet zum Beispiel den Namen Karin Landau, geboren am 13.6.1930 in Hamburg, deportiert am 25.10.1941 nach Lodz, deportiert am 11.9.1942 nach Kulmhof. Karin Landau war meine kleine Schwester. Sie wurde in Kulm of ermordet.

Ebenfalls verzeichnet ist Sara Landau, geborene Baumwollspinner, geboren am 5.1.1892 in Sambor, deportiert aus Hamburg am 25.10.1941, gestorben am 13.7.1942 im Getto Lodz. Sara Landau war meine Mutter. Was nicht im Register steht, doch was durch die Lektüre Hunderter von Chronikseiten schmerzlich deutlich wird, sind die Lebensbedingungen des Gettos: Sara Landau ist im Getto verhungert.

Bekanntmachung

1943 arbeitete ich in der Statistischen Abteilung des Gettos unter der Leitung von Dr. Oskar Singer. Diese Arbeit bedeutete für mich mehr als nur das lebensnotwendige Brot. Es bedeutete zugleich Glück, denn ich arbeitete mit anderen Gettoinsassen in einem Büro, wurde von dem Leiter der Abteilung und von den Kollegen gut behandelt und erhielt mehr und mehr Einblick und Wissen über Vorgänge im Lodzer Getto.

Oskar Singer war ein sehr tüchtiger Mann. Er war von großer Gestalt, doch sehr dünn. Er war intelligent, optimistisch. Er schien niemals müde zu sein. Alle Mitarbeiter der Büros hatten Respekt vor ihm. In mancher Hinsicht erinnerte er mich an meinen Vater. Oskar Singer hat mich nie mit meinem damaligen Vornamen angesprochen. Nie rief er Cecilia oder Cilly. Immer sprach er mich mit "Fräulein" an, was für mich als 18-Jährige ungewöhnlich klang.

Seine Hauptarbeit bestand darin, während des Tages "auf der Straße" - unterwegs - zu sein. Er ging von einem Getto-Büro zum nächsten, immer auf der Suche nach Neuigkeiten und Bemerkenswertem aus unserem Alltag. Vor allem nach Informationen über die aktuelle Nahrungssituation, die zu erwartenden Lebensmittellieferungen und die Verteilung der dürftigen Rationen. Solche Informationen halfen, uns entweder über unsere Gegenwart und unkalkulierbare Zukunft zu beruhigen oder uns in verdeckter Form über die schlechte oder sich verschlechternde Lage im Getto aufzuklären. Am Ende eines jeden Tages bekam ich seine Tagesinformationen. Er diskutierte nicht über seine Notizen, selten änderte er sie. Wir beide tippten sie auf dünnem Durchschlagpapier, was im Getto sehr knapp und schwer zu beschaffen war.

Mit dem Schriftsteller und Journalisten Oskar Rosenfeld, den er aus Prag kannte, diskutierte er sehr häufig. Beide Männer waren absolut gegensätzliche Persönlichkeiten: Rosenfeld war stets pessimistisch und sah düster in die Zukunft: Der Optimismus Dr. Singers hingegen ließ ihn glauben, dass er den Krieg überleben würde. Zu meinem großen Bedauern haben weder er noch seine Frau überlebt.

Doch haben beide Kinder überlebt und konnten sich nach dem Krieg ein neues Leben in Israel und in London aufbauen. Oskar Singers Tochter hatte ich im Getto kennen gelernt, und uns verbindet bis heute eine Freundschaft. Nach Schließung des Gettos hatte man uns in das Vernichtungslager Auschwitz, in das Hamburger KZ Neuengamme und nach Bergen-Belsen deportiert. Oskar Singers Tochter weigert sich bis heute, über die Vergangenheit zu sprechen.

Der Wunsch, all derer, die an und für die Chronik gearbeitet haben, sie eines Tages gedruckt zu sehen, ist nunmehr Wirklichkeit geworden. Ich danke der Justus-Liebig-Universität, Professor Erwin Leibfried, seinen Mitarbeitern Jörg Riecke und Sascha Feuchert sowie allen anderen Beteiligten für die immense Arbeit an der Sammlung, Erfassung und Bearbeitung dieser großartigen Ausgabe. Ich danke für all Ihre Mühen und Ihr großes Engagement, für Ihre Empathie mit den Opfern.

Mir bedeutet dies gedruckte Vermächtnis der Opfer und ehemaligen Gettobewohner sehr viel. Ich hoffe sehr - nicht nur mir.



Aussiedler-Kolonne

Dr. h.c. Lucille Eichengreen

c/o Pressestelle der Universität Gießen
Ludwigstraße 23 35390 Gießen
Telefon: 0641 99-12040
E-Mail: pressestelle@uni-giessen.de

Lucille Eichengreen, die 1925 als Cecilie Landau in Hamburg geboren wurde, hat das Getto Lodz sowie die Konzentrationslager Auschwitz, Bergen-Belsen und Neuengamme überlebt. Sie hat drei Bücher über ihre Erfahrungen im Holocaust geschrieben und spricht seit über 15 Jahren in unzähligen Vorträgen an Schulen und Universitäten über ihre Erlebnisse. Sie ermöglicht so den Schülern und Studierenden, den einmaligen Zugang zu den Erinnerungen und Gedanken einer Zeitzeugin. Wiederholte Male ist die in Berkeley (Kalifornien) lebende Lucille Eichengreen nach Gießen gekommen, um auch hier über ihre Bücher zu sprechen und mit den Studierenden zu diskutieren. Durch einen Antrag von Studierenden der Fachschaft Germanistik sowie von Prof. Dr. Erwin Leibfried, Prof. Dr. Jörg Riecke und Dr. Sascha Feuchert von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur wurde Lucille Eichengreen aufgrund eines einstimmigen Beschlusses des Fachbereichrats 05 Sprache - Literatur - Kultur die Ehrendoktorwürde der Justus-Liebig-Universität Gießen verliehen. Der Festakt zur Verleihung der Ehrendoktorwürde fand am 7. Mai 2007 statt.

Neben ihrem Engagement in Schulen und Universitäten wurde Lucille Eichengreen vor allem für ihr Mitwirken an der Edition der Lodzer Getto-Chronik geehrt, die von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur und dem Staatsarchiv Lodz 2007 erstmals vollständig herausgegeben wird. Ohne sie hätte das Projekt niemals verwirklicht werden können: Als Sekretärin des Schriftstellers und Journalisten Oskar Singer, einem der beiden Hauptautoren der Chronik, hat sie 1943 unmittelbar an der Entstehung dieses wichtigen Dokuments mitgewirkt. Darüber hinaus sind ihre Erinnerungen an die Prozesse, die die Chronik überhaupt möglich gemacht haben, für die Herausgeber von unschätzbarem Wert. Durch zahlreiche Hinweise und Informationen hat sie es erst ermöglicht, bestimmte Textstellen richtig zu verstehen und die Arbeitsbedingungen der Chronisten nachvollziehen zu können. Auch Kontakte zu anderen Zeitzeugen hat Lucille Eichengreen immer wieder unermüdlich vermittelt.


Alle Abbildungen: Copyright Staatsarchiv Lodz
mit freundlicher Genehmigung des Staatsarchivs Lodz
Erstveröffentlicht in: "Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt",
herausgegeben von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen in Zusammenarbeit mit dem Germanistischen Institut der polnischen Partneruniversität Lodz und dem Staatsarchiv Lodz.


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Quelle:
Spiegel der Forschung Nr. 1/Juli 2008, 25. Jahrgang, S. 4 - 6
Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen
Herausgeber: Der Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen
Pressestelle der JLU Gießen
Ludwigstraße 23, 35390 Gießen
Tel.: 0641/99-120 40; Fax: 0641/99-120 49
E-Mail: pressestelle@uni-giessen.de
Internet: www.uni-giessen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 03. April 2009