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FORSCHUNG/135: Experimentelle Archäologie - Die Inseln der Winde (Ruperto Carola - Uni Heidelberg)


Ruperto Carola - Forschungsmagazin der Universität Heidelberg 2/2010

Die Inseln der Winde
Die experimentelle Archäologie lässt Minos' Flotte wieder segeln

Von Thomas Guttandin, Diamantis Panagiotopoulos und Gerhard Plath


Die erstaunliche maritime Entwicklung des minoischen Kreta - der ersten Hochkultur auf europäischem Boden - vollziehen Heidelberger Fachleute mit den neuesten Techniken der experimentellen Archäologie nach. Dazu erstellen sie digitale Rekonstruktionen von minoischen Schiffen und Häfen und untersuchen die Seebedingungen, die während der agäischen Bronzezeit herrschten. Die bisherigen Ergebnisse der Wissenschaftler gehen weit über die Visualisierung bereits bekannter Tatsachen hinaus und bieten überraschende Erkenntnisse zum minoischen Seewesen.


"Minos nämlich war der erste, von dem wir Kunde haben, dass er eine Flotte besaß, die das heute hellenische Meer weithin beherrschte (...). Auch von den Seeräubern reinigte er vermutlich das Meer nach Kräften, um seine Einkünfte zu verbessern." Mit diesen Worten bewahrte Thukydides in der Einleitung seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges die griechische Erinnerung an eine ferne Vergangenheit, in welcher der legendäre kretische König Minos über die gesamte Ägäis herrschte. Erst die moderne archäologische Erforschung der Region konnte auf eindrucksvolle Weise nachweisen, dass Thukydides' Beschreibung einen historischen Kern besitzt.

Während der Mittleren und Späten Bronzezeit (circa bis 1500 v. Chr.) entwickelte sich auf der südlichsten europäischen Insel eine Hochkultur, deren Strahlkraft nicht nur die Ägäis, sondern auch Regionen des östlichen Mittelmeers erfasste. Eine Schlüsselrolle in diesem historischen Prozess spielte zweifellos die maritime Aktivität dieser Inselgesellschaft, die Archäologen - nach dem Namen des legendären Königs - als "minoisch" bezeichnen.

Die günstige geographische Lage der Insel und viele archäologische Zeugnisse der intensiven Außenbeziehungen zeigen, dass das Meer der treibende Motor der wirtschaftlichen und kulturellen Erfolgsgeschichte der minoischen Kultur war. Trotz der unbestrittenen Bedeutung des Seewesens ist es bis heute äußerst schwierig gewesen, die Voraussetzungen, Entwicklungsstadien und Mechanismen der minoischen maritimen Höchstleistungen zu erklären. Eine ungünstige Überlieferungs- und Publikationslage und das Fehlen einer wissenschaftlichen Systematik zum Auswerten des Materials führten lediglich zu allgemeinen Beobachtungen, die in der Regel um die Fragen der Schiffsgröße und des Schiffantriebs kreisten.

Im Rahmen des innovativ angelegten Projektes "Inseln der Winde: Die maritime Kultur der bronzezeitlichen Ägäis" bemühen sich seit einigen Jahren ein Designer (Thomas Guttandin), ein Ingenieur (Gerhard Plath) und ein Archäologe (Diamantis Panagiotopoulos) darum, die Geheimnisse des minoischen Seewesens zu lüften. Dazu werden die unterschiedlichsten Methoden kombiniert. Im Mittelpunkt stehen dabei nicht die traditionellen archäologischen Fragen, sondern vor allem Probleme praktischen Charakters, welche die technischen Aspekte der Schifffahrt, die Hafenkonstruktion und die logistische Organisation des Seehandels betreffen.

Jeder Versuch, eine umfassende Geschichte des minoischen Seewesens zu schreiben, wird vom bruchstückhaften Charakter der relevanten Quellen erschwert. Zum einen fehlen schriftliche Quellen, die auf die Schiffsart, die Häfen oder den maritimen Handel Bezug nehmen. Zum anderen gibt es aus der mehr als 2000-jährigen Geschichte der minoischen Kultur keinen einzigen Schiffsfund, der uns über Aussehen, Größe, Material, Konstruktion und die Nutzung dieser Schiffe informieren könnte.

Die einzigen Grundlagen für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung bieten die spärlichen Reste von Hafenanlagen auf Kreta und die Darstellungen von Häfen und Schiffen in der minoischen Bilderwelt. Bei den Schiffsdarstellungen handelt es sich um zahlreiche Bilder (Ritzungen in Tonschalen, Gravuren auf winzigen Siegeln, bunte Fresken und einfache Tonmodelle), welche die enge Verbundenheit der Minoer mit dem Meer dokumentieren. Das wesentliche Problem bei den meisten dieser Bilder ist ihre Miniaturgröße und die damit einhergehende stark reduzierte Darstellung. Die bisherigen Versuche, "echte" Schiffe aus diesen kleinen und sehr vereinfachten bildlichen Wiedergaben zu rekonstruieren, beruhten auf isolierten Quellen und wurden bisweilen von Archäologen unternommen, die mit den technischen Aspekten des Schiffbaus nicht vertraut waren. Es ist daher nicht überraschend, dass man sehr häufig zu widersprüchlichen Ergebnissen kam. Als Grundlage des Projektes "Inseln der Winde" dient eine systematische und diachron angelegte Untersuchung des minoischen Seewesens. Als Glücksfall erweist sich hier die ungebrochene Tradition der Schiffsdarstellungen über einen Zeitraum von circa 1600 Jahren, welche die gesamte Entwicklungsgeschichte des minoischen Schiffbaus überliefert.

Die analytische Durchdringung und Rekonstruktion des relevanten Bildmaterials im Rahmen unseres Projektes umfasst drei verschiedene Schritte: 1.) Am Ausgangspunkt unserer Untersuchung steht eine Auswahl von aussagekräftigen Bilddarstellungen und Tonmodellen minoischer Schiffe. Eine systematische Auswertung dieser Bilder, ihrer Träger, ihres sozialen Kontextes und ihrer Entstehungsbedingungen zielt darauf, den möglichen Einfluss von bildlichen Konventionen aufzuzeigen, die zu einer vereinfachten, verzerrten oder sogar falschen Darstellung der realen Vorlage führen. 2.) Die ausgewählten Bilder sind die Grundlage für das Erstellen digitaler zwei- beziehungsweise dreidimensionaler Zeichnungen, die sich für eine nähere Untersuchung der Konstruktionstechnik, Maße und Antriebsart der Schiffe als nützlich erweisen. Die digitalen Zeichnungen wollen ein von ikonographischen Konventionen und Ungenauigkeiten bereinigtes Bild minoischer Schiffe bieten. 3.) In einem dritten Schritt werden Modellnachbildungen von verschiedenen Schiffstypen im Maßstab 1:10 gefertigt. Sie machen es möglich, die Fahrtüchtigkeit der Schiffe unter realen Bedingungen zu testen. Dadurch lassen sich zum ersten Mal Fragen nach Größe und Form, nach Konstruktionsdetails und technischen Eigenschaften eingehend untersuchen.

Die exakte Rekonstruktion von Rumpf, Bug, Heck, Deck, Mast beziehungsweise Takelage, Segel, Rudern, Anker und Kochstelle erlaubt eine sehr konkrete Vorstellung von Geschwindigkeit, Antriebsart und Manövrierbarkeit des Schiffes und bietet einen Einblick in den Alltag der Matrosen auf offenem Meer. Durch die ersten Ergebnisse der zwei- und dreidimensionalen Rekonstruktionsversuche lässt sich die Entwicklungsgeschichte des minoischen beziehungsweise ägäischen Schiffbaus wesentlich konkreter fassen, als dies bei den älteren Versuchen der Fall war. Eine entscheidende Rolle spielen dabei ethnologische Vergleiche, insbesondere aus dem Mündungsgebiet des Gambia-River in Westafrika, welche die komplette Entwicklungslinie vom Einbaum bis zum Plankenschiff lückenlos dokumentieren.

Am Anfang steht der Einbaum, dessen Innenraum in einem ersten Schritt mit aufgesetzten Brettern erhöht wird. Im nächsten Entwicklungsschritt wird die Anzahl der Planken erhöht, der Kiel gekrümmt und ein Segel verwendet. Im letzten Entwicklungsschritt wird die Konstruktion vergrößert und entsprechend optimiert. Die Gestaltung des Rumpfs erfolgt in allen Kulturen ohne formgebende Rippen. Die hier beschriebene Entwicklung vom Einbaum zum Plankenschiff fand in vielen anderen Regionen voneinander unabhängig statt. So werden heute noch Boote und Schiffe mit diesem Entwicklungshintergrund in Westafrika in Indonesien, Thailand, Neuguinea und Ozeanien gebaut und genutzt.

Am Beginn des ägäischen Schiffbaus standen die Boote der Kykladen-Einwohner (circa 3000 bis 2200 v. Chr.), deren äußere Formen als dekorative Einritzungen auf den "Kykladenpfannen", einer markanten Form der lokalen frühbronzezeitlichen Keramik, erhalten sind. Die Auswertung dieser sehr kursorischen Bilder ist nicht leicht. Einigkeit herrscht unter den Wissenschaftlern nur in zwei Punkten:

Bei den kykladischen Langbooten handelt es sich um sehr große Einbäume mit einer aufgesetzten Planke zur Erhöhung der Bordkante;
die Boote wurden mit Paddeln vorangetrieben.

Andere Fragen werden hingegen immer noch sehr kontrovers diskutiert: Wie groß waren die Boote? Wo befanden sich Bug und Heck? Woher stammte das Baumaterial? Stellen die Striche und Dreiecke oberhalb der Rümpfe, die in der Regel als Paddler interpretiert werden, die komplette Besatzung dar oder nur eine Reihe auf einer Seite des Bootes? Was bedeutet der Knick in den Kiellinien? Wozu dienten die Finnen mit den Fischdarstellungen?

Durch ethnologische Vergleiche, digitale Rekonstruktionszeichnungen und die Erstellung eines Modells im Maßstab 1:10 konnten für all diese Fragen plausible Antworten vorgeschlagen werden. In keiner der regionalen Kulturen der bronzezeitlichen Ägäis hatten riesige Einbäume eine lange Tradition. Die für den Bau großer Einbäume verwendeten Bäume benötigten zwischen 600 und 1000 Jahre Wachstum. Die Einbäume konnten jedoch maximal eine Generation lang verwendet werden, bis sie zu verrotten begannen. Die Baumbestände verringerten sich schneller als sie nachwachsen konnten. Es wurde immer schwieriger, geeignete Bäume zu finden, sodass die Ressourcen bald erschöpft waren.

Für den Bau ähnlich großer Schiffe auf den Kykladen kommen nur zwei Holzarten in Betracht: die Stämme der Weißtanne und die der Orientfichte. Sie werden 60 bis 65 Meter groß bei einem Stammdurchmesser von zwei Metern. Beide Arten wachsen bevorzugt in Höhen zwischen 1000 und 2000 Metern an der Westküste Griechenlands. Auf den Kykladen selbst waren und sind sie nie heimisch gewesen.

Der Bau solcher riesigen Einbäume vollzog sich in allen Kulturen nach dem gleichen Muster: Der Stamm wurde grob bearbeitet und ausgehöhlt. Danach wurde der Rohling gewässert und an die eigentliche Baustelle zur Fertigstellung transportiert. Das breitere Ende des Stammes bildete immer den Bug eines Einbaums. Das Tonmodell eines Bootes aus der kretischen Siedlung von Palaikastro zeigt uns, dass sich die Finne am Heck befindet, denn der niedrige Teil des Rumpfes ist gleichzeitig der breitere - also der Bug. Der eigentümliche Knick auf den Kiellinien der Ritzzeichnungen entsteht durch das Ausformen der Bugpartie: Der Stamm wurde spitz zugearbeitet und die entstehenden Flanken konkav ausgebildet.

In der Frühbronzezeit war der Bau von großen Einbäumen ein Unternehmen, das einen großen Teil der Kommune über einen längeren Zeitraum band und entsprechende soziale und ökonomische Strukturen voraussetzte. Seit dem Beginn der Mittleren Bronzezeit (circa 2100 v. Chr.) wechselte die Bautradition und -konstruktion der Schiffe, was zeitlich in die Periode des größten Umbruchs der minoischen Kultur fällt: Neue Machtzentren mit Herrschaftsresidenzen (Palästen) entstanden, Siedlungen wurden ausgebaut, der Handel erweiterte sich und weitreichende Kontakte wurden geknüpft.

Für diesen gesellschaftlichen Umbruch hat man freie Arbeitskräfte benötigt. Hinter den Veränderungen in der Bootskonstruktion, nämlich der Abwendung vom riesigen Einbaum und der Hinwendung zum kleineren Plankenschiff, stand neben gesellschaftlichen und ökologischen Kräften eine massive ökonomische Notwendigkeit. Die neuen Boote in mittelminoischer Zeit konnten von sehr kleinen Gruppen in überschaubarer Zeit gebaut werden. Die Boote waren kleiner, der Materialeinsatz geringer und die Werkzeuge (Bronze) besser. Es konnten mehr Boote in kürzerer Zeit hergestellt werden, sodass einer größeren Personengruppe der Weg zu Fischfang und Handel offen stand.

Bestimmte also vorher der Baumstamm die Größe des Bootes, wurden die Minoer mit der neuen Bauweise unabhängig von den Dimensionen des Baumaterials. Kielhölzer und Planken konnten verlängert werden. Die Größe der Schiffe richtete sich nun nach den Erfordernissen und der Handhabung und nicht mehr nach der Größe des Bauholzes. Nun konnten Hölzer kleinerer Bäume verarbeitet werden. Damit wurden neue Ressourcen in doppelter Hinsicht erschlossen: Die Anzahl brauchbarer Holzstämme und die Auswahl der Holzarten erweiterte sich beträchtlich. Außerdem konnten gut erhaltene Bauteile beim Abwracken älterer Boote wiederverwendet werden. Ohne diese Neuerungen hätte die rasante wirtschaftliche Entwicklung seit dem Beginn der Mittleren Bronzezeit niemals stattfinden können.

Siegeldarstellungen aus dieser Periode bezeugen die Entwicklung eines neuen Bootstyps mit "geschnäbelten" Enden. Neu waren der kürzere und bauchigere Rumpf, ein Mast und Ruder. Der Kiel wurde manchmal gerade, leicht gebogen bis halbrund dargestellt. Auf den ersten Blick mag man annehmen, dass die stark gebogene Kiellinie durch die ovale Form der Siegelflächen bedingt war. Die Untersuchungen von Thomas Guttandin haben allerdings gezeigt, dass die Schiffe trotz dieses Miniaturformats sehr genau wiedergegeben wurden, da bei Booten mit gerundetem Kiel der Bug soweit aufgerichtet war, dass er nicht mehr unter die Wasserlinie eintauchte.

Wie müssen wir uns diese neuen Schiffe vorstellen, die auf den winzigen Siegeln mit eigentümlichen Elementen an den Bootsenden dargestellt wurden? Und auch hier wieder die Frage: Wo befanden sich Bug und Heck?

Einen Hinweis gibt die Heckfinne der früheren Kykladenboote, die in die Konstruktion integriert wurde, sodass wir hier Bug und Heck leicht unterscheiden können. Die Länge der Boote lässt sich aus der Anzahl der dargestellten Ruder errechnen. Der Abstand zwischen zwei Ruderern, die hintereinander sitzen, ist durch ihre Körpergröße und Ergonomie bestimmt. Für Männer mit einer durchschnittlichen Größe von 1,65 Meter ergibt sich ein Abstand von 0,9 Meter. So variieren die Bootslängen zwischen 7,6 bis 15,6 Meter. Die Rümpfe waren in der späten Früh- und Mittelbronzezeit durch ihre schmale Bauweise wenig seitenstabil und konnten nur eine leichte Segeleinrichtung tragen. Vorteilhaft war der relativ große Tiefgang der schlanken Rümpfe - dies wirkte wesentlich dem Abdriften der Schiffe entgegen.

In ihrer weiteren Entwicklung wurden die Schiffsrümpfe fülliger und waren geeignet, größere Segelflächen zu tragen. Nun hat man versucht, das verstärkte Abdriften durch den Einsatz doppelter Steuerruder auszugleichen. Letztere sind auf Siegeldarstellungen dieser Periode belegt.

Zum Übergang von der mittelminoischen zur spätminoischen Zeit um 1700 v. Chr. zeichnete sich auch im Schiffbau eine weitere Entwicklung ab. Die intensiven Handelskontakte im östlichen Mittelmeer bestimmten auch die Innovationen im spätminoischen Schiffbau. Die Schiffe wurden größer und verloren ihre überflüssig gewordene Kielverlängerung am Bug. Auf dem sogenannten Westhaus-Fries von Akrotiri, einer durch einen Vulkanausbruch um 1610 v. Chr. verschütteten Stadt auf der Insel Thera, ist eine Schiffsflotte in einer vorher nicht gekannten Detailfülle dargestellt. Diese Szene wirft jedoch mehr Fragen auf, als sie Antworten liefern kann: Wie groß waren die Schiffe? Warum wurden sie gepaddelt? Wozu dienten die Aufbauten? Welche Funktion hatten die seltsamen Konstruktionen im Heck?

Auch in diesem Fall machen es ethnologische Vergleichsbeispiele sowie die Remodellierung der Schiffe des Westhaus-Frieses im Computer und in Holzmodellen (Thomas Guttandin) möglich, Antworten auf die Fragen zu geben. Die auf dem Westhaus-Fries dargestellten Schiffe müssen zwischen 9,7 und 23,6 Meter lang gewesen sein. Sie waren flexibel einsetzbare Wasserfahrzeuge und konnten mit allen in der Antike bekannten Antriebsarten fortbewegt werden (paddeln, rudern und segeln). Je nach Intention der Fahrt wurde die kriegerische Seite mit Rammsporn und Raubtierkörper oder die friedliche Seite mit Schmuck- und Tierornamenten als Bug gewählt.

Eine weitere auffällige Neuerung spätminoischer Schiffe waren Aufbauten im Heck der Schiffe (Kajüten). Die großen Schiffe des Westhaus-Frieses tragen alle eine solche Kajüte und zeigen weitere Details: Die Aufbauten sind außen mit Leder verstärkt, in ihrem Inneren sitzt eine Person mit einem Eberzahnhelm, neben ihr ein griffbereiter über fünf Meter langer Schiffsspeer. Sehr wahrscheinlich dienten diese Aufbauten zum Schutz des Kriegers und trugen damit zur Verteidigung des Schiffes bei.

Durch diese wertvollen ikonographischen Details lässt sich eine sehr interessante historische Entwicklung sichtbar machen: In früh- und mittelminoischer Zeit hatten die Schiffe eine dem Wert der Ladung entsprechend große Besatzung und waren damit in der Lage, Überfälle abzuwehren. In spätminoischer Zeit wurde das Segel zum bevorzugten Antrieb der Schiffe, was zu einer Verkleinerung der Mannschaftsgröße führte, während gleichzeitig der Wert und die Menge der Ladung stiegen. Dieses Ungleichgewicht machte die Schiffe zu leichter Beute für Piraten. Aus diesem Grund wurden die Bewaffnung der Schiffe und die Seereise im Flottenverband zu wichtigen Voraussetzungen einer maritimen Handelsexpedition.

Eine systematische Untersuchung des minoischen Seewesens muss sich neben dem Schiffbau auch mit den Fragen nach der Entwicklung von Hafeneinrichtungen und Seewegen auseinandersetzen. Hafenanlagen unterliegen besonderen geologischen Bedingungen. Im Zeitraum der letzten 4000 Jahre haben Verlandungsprozesse, tektonische Bewegungen und Veränderungen der Meeresspiegelhöhe dazu geführt, dass die Ortung von minoischen Hafenanlagen in vielen Fällen sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, geworden ist. Ein zusätzliches Problem stellen Straßenbaumaßnahmen und touristische Erschließungen in jüngster Zeit dar, die nachträgliche Beeinflussungen von archäologischen Beständen verursachten.

Im Rahmen des Projektes "Inseln der Winde" wurden die wichtigsten minoischen Hafenanlagen kartographisch erfasst und mit Eigenschaftsprofilen versehen. Hieraus entstand ein Anforderungskatalog, wonach minoische Hafenanlagen definiert werden können.

Wegen der schlechten Überlieferungslage sind Darstellungen von Hafenstädten von großer Bedeutung. Auf dem Westhaus-Fries aus Thera ist uns das Bild des Ankunftshafens mit einer Reihe aufschlussreicher Details erhalten: Eine von einer Mauer umgebene Stadt in direkter Strandlage, ein großes Stadttor zum Wasser hin, eine als Kaianlage zu deutende Wasserlinie, Gebäude auf der Spitze eines Hügels, Läufer (die "Telefondrähte" der Antike) zwischen Stadt und Aussichtsposten, ein Lagerhaus außerhalb der Stadtmauern und zwei Buchten mit Schiffen mit dem Heck landwärts am Strand.

Die Existenz von Lagerhäusern in einer minoischen Hafenstadt erscheint aufgrund einer Kette von logischen Hypothesen unverzichtbar. Am Anfang dieser Kette steht das richtige Stauen und Trimmen eines Schiffes. Die aufzuwendende Sorgfalt hierfür war für die bronzezeitlichen Seeleute überlebenswichtig. Die Ladung musste fest verzurrt sein, damit sie nicht bei einer Welle verrutscht und das Schiff zum Kentern bringt. Dieser Aspekt lässt rückschließen auf den Zeitbedarf und das Bereitstellen der Transportgüter direkt am Ankerplatz.

Da wir keine Nachweise über Kaianlagen aus dieser Zeit haben, ist eine Be- und Entladung im Flachwasser von seichten Buchten in Betracht zu ziehen. Die Bauart der Schiffe erlaubte dank der starken Kiele das Hochziehen am Strand im unbeladenen Zustand und das Zuwasserlassen. Es ist extrem unwahrscheinlich, dass die bronzezeitlichen Seeleute ein beladenes Schiff über Tage im Flachwasser liegen ließen. Die Gefahr, dass die Ladung wegen drehenden Windes und des daraus resultierenden hohen Wellenganges verloren ging, war zu groß.

Darüber hinaus konnte die Fracht nur schwer bewacht werden - ein gerissenes Ankertau würde den Verlust von Schiff und Fracht bedeuten. Deshalb muss man den Prozess der Be- und Entladung in ein kurzes Zeitfenster einordnen, bevor in See gestochen beziehungsweise bevor das Schiff an Land gezogen wird. Wenn man nun davon ausgeht, dass in vielen Fällen der eigentliche Herkunfts- oder Zielort der Ladung nicht die Häfen, sondern die großen Zentren im kretischen Hinterland waren, wäre die Be- oder Entladung einer spätminoischen Flotte ohne eine kurzfristige Zwischenlagerung der Güter am Hafen unmöglich gewesen.

Die Fracht einer Flotte aus sieben Schiffen durchschnittlicher Größe muss etwa 40 Tonnen betragen haben. Ihr Transport aus einem Zentrum des Hinterlands würde eine 300-köpfige Eselskarawane von etwa einem Kilometer Länge erfordern. Nun ist es sehr schwer, sich 300 Esel an einem Sandstrand mit sieben Schiffen im Flachwasser vorzustellen. Durch diese logistischen Tatsachen lässt sich der Bau von Lagerräumen direkt am Strand erklären. Solche Gebäude sind uns tatsächlich aus den minoischen Häfen von Kommos, Malia, und Nirou-Chani bekannt.

Im Laufe unseres Projektes wurden Wind, Wellen und Strömungen des Ägäischen Meeres in einer Langzeitstudie aufgelistet und ausgewertet. Gerhard Plath hat die Daten, die vom "Poseidon System" des "Hellenic Centre for Marine Research" im Drei-Stunden-Takt herausgegeben werden, von März bis September 2007 täglich erfasst und mögliche Seerouten nach Rahsegeltechniken ermittelt. Im Jahr 2008 erfolgte eine Nacherfassung im gleichen Zeitraum mit dem Ziel, Änderungen festzustellen.

Alle als mögliche Routen erkannten Seewege ergeben folgendes Bild: Der in der ägäischen Forschung als "Western String" bekannte Seeweg Kea-Kythera-Kreta bietet gute Segelbedingungen. Hingegen ist der "Eastern String" (Dodekanes-Karpathos-Kreta) nur an wenigen Tagen durchweg segelbar. Die Insel Karpathos könnte hier als Zwischenstopp eine wichtige Rolle gespielt haben. Der Seeweg "unter Land" zwischen Lesbos bis Rhodos ist gut segelbar. Auffällig ist das Thera-Dreieck: Fast über das ganze Jahr gibt es gute Segelverbindungen von der Insel Thera zur Nordküste von Kreta. Eine überraschende Tatsache ist die fast unmögliche Verbindung von südlichen Häfen Kretas zur Nordküste. Die erreichbaren Ziele dieser südlichen Häfen liegen eher an der Nordküste von Afrika! Diese Küste ist nur spärlich mit geeigneten Buchten ausgestattet. Nur in Kyrene und Marsa Matruh sind geeignete Ankerplätze, die als Zwischenstopp auf dem Weg nach Ägypten und der Levante gedient haben könnten.

Es ist erstaunlich, dass diese Ergebnisse die auf rein archäologischen Indizien fußenden Theorien über den "Western String" und die engen Beziehungen zwischen Thera und Kreta bestätigen. Der vermutliche "Eastern String" kann hingegen durch die modernen meteorologischen Daten nicht bestätigt werden. Entlang einer solchen Route wäre ein Zwischenstopp auf Karpathos zwingend notwendig gewesen.

Was die Seerouten, die Kreta mit den Regionen des östlichen Mittelmeers verbanden und konkreter die Frage nach der Richtung der Rückreise von Ägypten in die Ägäis anbelangt, ist die Forschung uneins. Eine Route gegen den Uhrzeigersinn, nämlich von Ägypten über die Levante, Zypern und die Südküste Kleinasiens nach Rhodos erscheint wegen der vorherrschenden Winde problematisch. Besonders entlang des letzten Teils dieser Strecke, der Küste Kilikiens, Pamphyliens und Lykiens, herrschen unberechenbare Fallwinde. Die Hauptroute muss von Ägypten oder der Levante sehr wahrscheinlich direkt in nordnordwestlicher Richtung zu den kretischen Häfen von Zakros und Kommos geführt haben. Beide Häfen dienten in erster Linie dem Überseekontakt mit dem nördlichen Afrika.

Bezüglich der Antriebstechniken kann gesagt werden, dass ohne Ruder oder Paddel ein zielgerichtetes Ansteuern von Buchten unmöglich war. Die Schwerfälligkeit der antiken Rahsegel ließ keine Fahrt gegen den Wind zu. Die ikonographisch belegte Ausrüstung der minoischen Schiffe mit Segel und Paddel entspricht daher den nautischen Bedingungen der Ägäis.

In einem Versuch, die klimatischen Bedingungen der ägäischen Schifffahrt zu visualisieren, wurde von Gerhard Plath eine Reliefkarte der Ägäis erstellt, auf der mittels einer entsprechenden Software und Beamer-Technik die maritimen Bedingungen des Ägäischen Meeres dargestellt werden können. Hier werden nicht nur mögliche Seewege und Hafenorte, sondern auch Lagerstätten von Erzen und gefährliche Untiefen kartographisch erfasst. Auf Knopfdruck lassen sich ferner besondere Eigenschaften dieses Meeres, wie der unterschiedliche Salzgehalt, die Atlantikströmung sowie die Routen des mittelalterlichen Navigationsbuchs "Compasso di Navigare" von 1256 abrufen.

Durch die kombinierte Anwendung von verschiedenen Visualisierungs- und Rekonstruktionsmethoden erhofft das Projekt "Inseln der Winde", die erste umfassende Untersuchung der technischen, logistischen und klimatischen Aspekte der minoischen Schifffahrt zu bieten. Die Ergebnisse dieses Projektes sollen in einer Ausstellung in der Räumen des Instituts für Klassische Archäologie in Heidelberg vom 27. November 2010 bis 24. Juli 2011 präsentiert werden.


Thomas Guttandin ist Diplom-Designer. Er hat zahlreiche Ausstellungen konzipiert und beschäftigt sich seit einigen Jahren intensiv mit der Geschichte des ägäischen Schiffbaus. Von ihm stammen die Holzmodelle und zeichnerischen Schiffsrekonstruktionen auf den vorangegangenen Seiten.
Kontakt: guttandin@t-online.de

Diamantis Panagiotopoulos ist Professor am Institut für Klassische Archäologie der Universität Heidelberg. Seine wichtigsten Forschungsschwerpunkte sind die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen der bronzezeitlichen Ägäis und die kulturelle Interaktion im östlichen Mittelmeer des 2. Jt. v. Chr.
Kontakt: diamantis.panagiotopoulos@zaw.uni-heidelberg.de

Gerhard Plath ist Stadtplaner, Architekt und Ingenieur. Er hat an verschiedenen Feldprojekten auf Kreta teilgenommen. Seit mehreren Jahren erforscht er die ägäischen Hafenanlagen und Aspekte der logistischen Organisation der ägäischen Schifffahrt.
Kontakt: hist.bauforschung@gmail.com


Bildunterschriften der nicht in den Schattenblick übernommenen Abbildungen:
Den Artikel mit Bildern finden Sie unter:
http://www.uni-heidelberg.de/presse/ruca/2010-2/2arch.html

Das Modell eines minoischen Schiffes im Maßstab 1:10
Zeichnerische Rekonstruktion eines kykladischen Langbootes mit Mannschaft
Holzmodelle von kykladischen und minoischen Schiffen aus der Frühen, Mittleren und Späten Bronzezeit
Heck eines kykladischen Langbootes; Mitte: zeichnerische Rekonstruktion des Bootes mit Mannschaft
Tonmodell eines minoischen Bootes aus der Siedlung Palaikastro auf Kreta
Arbeit am Modell - die Rekonstruktion von Minos' Flotte; links außen: Die Reliefkarte der Ägäis zeigt die seinerzeit vorherrschenden Winde und Strömungen.

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Quelle:
Ruperto Carola - Forschungsmagazin der Universität Heidelberg 2/2010,
Seite 4-13
Herausgeber: Der Rektor der Universität Heidelberg
Redaktion: Pressestelle der Universität Heidelberg
Postfach 10 57 60, 69047 Heidelberg
Telefon: 06221/54 23-10, -11; Fax: 06221/54 23-17
E-Mail: presse@rektorat.uni-heidelberg.de
Internet: www.uni-heidelberg.de/presse/ruca

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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Dezember 2010