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FORSCHUNG/140: Armut in Stadt und Land im 19. Jahrhundert (Universität Augsburg)


Pressemitteilung der Universität Augsburg vom 6. April 2011

Armut in Stadt und Land im 19. Jahrhundert

Fritz Thyssen Stiftung fördert Forschungsprojekt zur kommunalen und privaten Armenfürsorge und zu den Überlebensstrategien armer Leute in der Augsburger Fuggerei und in Dörfern Mittelschwabens.


Augsburg/RK/KPP - Die "kommunale und private Armenfürsorge und Überlebensstrategien armer Leute in der Augsburger Fuggerei und in Dörfern Mittelschwabens" sind Gegenstand des Forschungsvorhabens "Armut in Stadt und Land vom Ende des Alten Reiches bis zum Ersten Weltkrieg" hat die Fritz Thyssen Stiftung der Schwäbischen Forschungsgemeinschaft Fördermittel für einen Zeitraum von zwei Jahren bewilligt. Der Universität Augsburg zugeordnet, wird dieses Projekt von Prof. Dr. Rolf Kießling, dem ehemaligen Inhaber des Augsburger Lehrstuhls für Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte, geleitet und von Dr. Anke Sczesny bearbeitet. "Unser neues Projekt stellt eine konsequente Erweiterung der sozial- und mikrogeschichtlichen Fragestellungen dar, die wir für den Übergang in das Zeitalter der Industrialisierung schon seit Jahren in mehreren Forschungsvorhaben verfolgt haben. Nun stehen die Armen im Mittelpunkt: Fürsorgewesen, Wohltätigkeit und Bedürftigkeit sowie der Umgang mit ihnen sind relevant für die Selbstdeutung vormoderner wie auch postmoderner Gesellschaften - und sie erzählen von Praktiken und Handlungsstrategien zur Existenzsicherung", so Kießling zur Einordnung des Projekts, in dem sich die Armut in der Stadt und die Armut auf dem Land als zwei gleichberechtigte Untersuchungsfelder ergänzen. Armut in der Stadt

Am Beispiel der ehemaligen Reichsstadt Augsburg, die vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert wirtschaftlich von der Textilindustrie getragen war, soll der Wandel des Umgangs mit der Armut untersucht werden, den die Industrialisierung im 19. Jahrhundert mit ihren gesellschaftlichen Implikationen auslöste. Im Mittelpunkt steht die Aufnahme in die Fuggerei als Institution der Fürsorge, denn das Fuggerarchiv in Dillingen verfügt über einen einzigartigen Bestand an seriellen Quellen, der einen detaillierten Einblick in die Lebenswelt bedürftiger Unterschichten im Augsburg des 19. Jahrhunderts geben kann: die Bittschriften in Not geratener Menschen, die sich durch die Aufnahme in die Sozialsiedlung Fuggerei eine Entlastung ihrer Gesamtsituation versprachen - sie spiegeln die Innensicht der Armut. Den Supplikationen liegen in den meisten Fällen standardisierte Aufnahmeformulare bei, die Auskunft über Alter, Beruf, Familie, Gesundheit, Lebensumstände usw. geben, sowie pfarramtliche Zeugnisse, ärztliche Atteste und Arbeitszeugnisse - sie erschließen die Außensicht. Da die Formulare, Zeugnisse und die Bittbriefe vom Bittsteller bei dem Magistrat der Stadt Augsburg eingereicht wurden, der diese Unterlagen wiederum an die fuggersche Stiftungsadministration mit der Bitte um Überprüfung weiterleitete, bieten sich auf diesem Wege weitere Indizien für die öffentliche bzw. behördliche Einschätzung der Bedürftigkeit. Damit kann der Fokus der Gesamtuntersuchung tatsächlich auf die Armen selbst gerichtet werden: Die Auswertung der individuell gestalteten Suppliken und der sie begleitenden Gutachten erlaubt einen fast einmaligen Einblick in die Bewältigungsstrategien der Unterschichten mit Armut und in die Einstellung der Gesellschaft zu diesem Problemfeld.


Armut auf dem Land

Ein solcher städtischer Befund bedarf der Einordnung - und das "Land" bietet dafür ein Vergleichsfeld. Freilich stand die ländliche Armenfürsorge des 19. Jahrhunderts bisher nicht gerade im Mittelpunkt der Analyse. Für die sozioökonomischen Rahmenbedingungen kann man sich zwar auf die bisherigen großflächigen Ergebnisse stützen, die für die Mischökonomie des ländlichen Schwabens bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts bereits erarbeitet wurden, aber zur Frage, wie man mit der Armut konkret umging, fehlen bislang genauere Untersuchungen.

Um grundsätzliche Erkenntnisse über die dörfliche Wohlfahrt zu erzielen, werden deshalb einerseits in einigen Dörfern im ehemaligen Landgericht Krumbach die einschlägigen Gemeindeakten, -rechnungen und - protokolle durchforstet, die Aussagen über die institutionell-verwaltungstechnische Ebene bieten. Lokale und überlokale Kreditbeziehungen und -netze von Gläubigern und Schuldnern eröffnen zudem Erkenntnisse über individuelle ökonomische (Not-)Situationen, die wiederum ein Licht auf die gesamtökonomische Situation eines Dorfes werfen können. In dieses Feld der Lebensbedingungen auf dem Land lassen sich Einzelanalysen der Betroffenen einbetten: Ansässigmachungs- und Verehelichungsakten sowie Gewerbekonzessionierungen bieten sehr genaue Einblicke in die konkreten Lebensverhältnisse und die Überlebensstrategien der Landbevölkerung. Neben den Elementen individueller Lebensbeschreibungen und Lebenswirklichkeiten können aber auch Antragsrhetoriken und Argumentationsstrategien entschlüsselt werden, die das Bild von Bedürftigkeit auf dem Land widerspiegeln.


Neuer methodischer Ansatz

Insgesamt zielt das Projekt auf eine Verschränkung von unterschiedlichen methodischen Ansätzen, um Armut und Wohltätigkeit im Zeitraum von 1806 bis 1914 greifen zu können: Zum einen sollen Aufbau und Wirksamkeit kommunaler sowie privater Armenfürsorge und die Bedürftigkeit armer Leute erhellt werden. Zum anderen sind durch den Vergleich von Stadt und Land Wesensunterschiede und Kongruenzen in der Armenpolitik genauer zu verorten. Den Konnex bilden die Überlebensstrategien armer Leute in Stadt und Land, die durch ein ausgefeiltes Bündel von Rechtsansprüchen, Verdienstmöglichkeiten und sozialen Netzwerken ihr Überleben zu sichern suchten. Über die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Armut lassen sich aber auch die Grenzen der Zugehörigkeit zur Gesellschaft genauer markieren.


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Quelle:
Pressemitteilung vom 6. April 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. April 2011