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FORSCHUNG/146: Kleidung und Sitzordnung spielten in der Vormoderne eine bedeutende Rolle (Uni Bielefeld)


BI.research 39.2011
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld

Zeige mir Dein Mantelfutter und ich sage Dir, wer Du bist
Kleidung und Sitzordnung spielten in der Vormoderne eine bedeutende Rolle

von Julia Siekmann



"Um heutige Vergleiche zu verstehen, hilft es, die vormodernen mit ihren ganz eigenen Mechanismen und Grenzen zu betrachten", meint Franz-Josef Arlinghaus, Professor für Geschichte des Hoch- und Spätmittelalters. Für die vormoderne Gesellschaft spielte der Vergleich eine zentrale Rolle, die der Historiker im Rahmen des beantragten Exzellenzclusters zur Kommunikation von Vergleichen untersuchen möchte. Dabei geht er von einer der Grundannahmen des im Cluster entwickelten Ansatzes aus, dass Vergleichen wechselseitiges Beobachten voraussetze, das kommuniziert werde und so dazu führe, sich aneinander anzugleichen oder voneinander abzugrenzen.


Dresscode zeigte sozialen Stand an

"Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Hochzeit und vergleichen im Gespräch mit ihrer Freundin die Kleidung der geladenen Personen. Nicht unwahrscheinlich, dass dieses Gespräch ihre Kleiderwahl für die nächste Hochzeit beeinflusst. In der Vormoderne hätte ein solcher Vergleich, vor allem, wenn er öffentlich gemacht werden würde, wesentlich weiter reichende Auswirkungen." Die damalige Ständegesellschaft war stark hierarchisiert. In einer Präsensgesellschaft wie der des Mittelalters und der Frühen Neuzeit fand Interaktion vor allem von Angesicht zu Angesicht statt. Für die Frage, wer wo in der Hierarchie steht, bekamen nonverbale Vergleichsmechanismen wie Kleidung oder Sitzordnungen eine große Bedeutung. Über sie wurden eine Fülle von Informationen mitgeteilt. "Die Sitzplätze bei einer Ratssitzung oder in der Kirche spiegelten die Sozialstruktur der Gesellschaft wider. Am Dresscode konnte man ablesen, mit wem man es zu tun hatte, ob Handwerker oder Kaufmann." Erste Kleiderordnungen im 13. und 14. Jahrhundert regelten zum Beispiel die erlaubte Rocklänge, die Stoffart oder das Tragen von Schmuck. Der Stadtrat legte schriftlich genau fest, welche Schicht welches Mantelfutter tragen durfte.


Vergleichen war ein Politikum

"Dieser Bereich wurde von der Wissenschaft bereits sehr gut erforscht. Was sie noch nicht beleuchtet hat, ist wie der Vergleich an sich funktioniert. Wenn ich eine Kleiderordnung akzeptiere, ist das dann schon ein kommunizierter Vergleich? Tendenziell ja", meint Arlinghaus. Gerade die Grenzen in der Kommunikation von Vergleichen sind es, die den Historiker interessieren. "Wenn es stimmt, dass der Vergleich für die Vormoderne so ein wichtiges, soziales Phänomen ist, warum ist es dann ausgerechnet in dieser hierarchischen Gesellschaft so schwierig, einen explizit gemachten Vergleich zu finden?" Erschwert wurde das Thematisieren von Vergleichen, so eine erste Vermutung, durch ihre gesamtgesellschaftlichen Verflechtungen. So war beispielsweise die Reihenfolge, in der man an einer Prozession teilnahm, nicht nur eine Abbildung von Hierarchien, sondern konnte diese auch erst herstellen. Ob der promovierte Jurist in landesherrlichen Diensten vor dem reichen Ratsherrn platziert wurde, hatte also große Auswirkungen. "Die ganze Gesellschaft konnte ins Rutschen geraten. Vergleichen war ein Politikum."


Auch Verstoß gegen Ordnung änderte nichts

Deutlich wurde das vor allem bei Konflikten. In einer Gesellschaft, die weitgehend über Anwesenheit funktionierte, war gerade das Nicht-Präsent-Sein eine beliebte Möglichkeit, mit Spannungen umzugehen. Mit seiner Kleidung oder seinem Sitzplatz positionierte man sich zwangsläufig innerhalb der Hierarchie und bestätigte diese. Selbst wenn man bewusst dagegen verstieß, in dem man sich auf den "falschen" Platz setzte oder ein Mantelfutter verwendete, das einem nicht zustand, nutzte man die etablierte Ordnung, um für sich selbst eine Standeserhöhung zu erreichen. Kam es zum Streit, mussten sich nicht selten auch die höchsten Reichsgerichte damit befassen.


Vergleiche entstehen heute wie von selbst

"Heute haben Vergleiche eine gewisse Eigendynamik entwickelt", sagt Arlinghaus. Ohne Steuerung von außen oder durch eine Institution entstehen beinahe automatisch Vergleiche, die zu großen Veränderungen führen. So sind Tabellen heute ein wichtiges Instrument, um Informationen und Vergleichskategorien übersichtlich gegenüberzustellen und so Vergleiche zu erleichtern - egal ob Uni-Rankings aufgestellt werden oder die Stiftung Warentest verschiedene Autoversicherungen untersucht. Auch wenn Tabellen im Mittelalter längst bekannt waren, wurden sie kaum verwendet. Woran liegt das? "Tabellen reduzieren Informationen sehr stark auf funktionale Sachverhalte. In einer Face-to-Face-Gesellschaft, in der bei jedem kommunikativen Akt sehr komplexe Strukturen mitgeführt und Hierarchisierungen vorgenommen werden, ist es unsinnig, in dieser Weise zu reduzieren", vermutet der Historiker. Erst die funktionalen Differenzierungen der Moderne, wie Finanz- oder Bildungssysteme, lassen es zu, dass auf Parameter wie Dezimalzahlen reduziert wird und machen damit die Tabelle zu einem hilfreichen Vergleichsmedium. "Ein Personenverbandsstaat wie in der Vormoderne ist zu komplex dafür. Das hat nichts damit zu tun, dass die Menschen damals Tabellen nicht verstanden hätten."

Eine große Bedeutung hatten Vergleiche also bereits im Mittelalter. Doch sie offen zu thematisieren, war alles andere als selbstverständlich. "Ihre Spezifik wirft ein ganz anderes Licht auf heutige Vergleiche ", ist Arlinghaus überzeugt.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
  • Fronleichnamsprozession während des Konstanzer Konzils (1414 bis 1418): Der Bildausschnitt zeigt die Teilnehmer gemäß ihrer gesellschaftlichen Stellung, zum Beispiel Schwertträger hinter Adeligen. Die Zeichnung stammt von dem Historiographen Ulrich von Richental.
  • Historiker Franz-Josef Arlinghaus befasst sich mit nonverbalen Vergleichsmechanismen.

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Quelle:
BI.research 39.2011, Seite 28-31
Herausgeber:
Referat für Kommunikation der Universität Bielefeld
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BI.research erscheint zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. August 2012