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FORSCHUNG/153: Gefahr von hoher See (RUBIN)


RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Frühjahr 2013
Ruhr-Universität Bochum

Gefahr von hoher See
Piraten prägten 3000 Jahre lang die Geschichte des Mittelmeers

von Dr. Maren Volkmann



Was fällt einem beim Begriff "Piraterie" ein? Augenklappe, Holzbein und Handhaken? Vielleicht denkt man auch an Leinwandpirat Jack Sparrow, der im Film "Der Fluch der Karibik" im Karibischen Meer auf Beutezug geht. Was viele nicht wissen: Auch das Mittelmeer haben Piraten lange Zeit unsicher gemacht. Von 1000 Jahre vor Christus bis ins 19. Jahrhundert - also fast 3000 Jahre lang - prägten sie seine Geschichte (Abb. 3-5). Wissenschaftler verschiedener Disziplinen erforschen dieses Thema am Zentrum für Mittelmeerstudien (ZMS, Info) an der RUB.


Das Mittelmeer hat als Binnenmeer eine ganz besondere Bedeutung: Es verbindet die drei Kontinente Europa, Asien und Afrika und wurde schon immer genutzt, um Handel zu treiben. "Die Waren, die man nicht lokal oder regional bekommt, bezieht man im Mittelmeerraum über die See", erklärt Prof. Dr. Nikolas Jaspert (Abb. 2), der als Mittelalterforscher das Zentrum für Mittelmeerstudien leitet. Die Wege, die zurückgelegt werden müssen, sind - im Vergleich zu anderen Meeren wie zum Beispiel dem Atlantik - nie sehr weit. Eigentlich bietet das Mittelmeer infrastrukturell viele Vorteile. Gäbe es da nicht eine ständig lauernde Gefahr: Piraten.

Die Piraten, die in der Vergangenheit auf dem Mittelmeer unterwegs waren, besaßen meist kleine Ruder- oder Segelschiffe, die es ihnen ermöglichten, schnell Reißaus zu nehmen. Häufig legten sie an Land an, um so genannte "Küstenrazzien" durchzuführen. Die Beute waren dabei nicht vorrangig Waren, sondern Menschen, die sie entführten und zu Sklaven machten. "Christen und Muslime durften nicht ihresgleichen versklaven, sondern nur sich gegenseitig", erklärt Jaspert. Im Süden lebten Muslime, im Norden Christen - das Mittelmeer spaltete sich so in zwei Teile auf, und dennoch gab es stets Kontakte und Austausch.

Aber wie wurde man überhaupt Pirat? War Pirat ein Beruf? "Nein", sagt Nikolas Jaspert. Meist seien es Adelige oder Kaufleute gewesen, die für einen bestimmten Zeitraum zu Piraten wurden. Das konnte verschiedene Gründe haben: weil sie selbst durch Piraten geschädigt wurden oder die Geschäfte schlecht liefen. Doch Pirat war nicht gleich Pirat. Das klarzustellen, war ein Anliegen der Tagung "Gefährdete Konnektivität - Piraterie im Mittelmeerraum", die das Zentrum für Mittelmeerstudien 2011 an der RUB organisiert hat und deren Ergebnisse in diesem Jahr in Form eines Sammelbands erscheinen werden. Neben dem Piraten, der individuell auf Seeraub ging, gab es nämlich noch den so genannten Korsaren: ein Seeräuber, der im Auftrag des Königs andere Schiffe überfiel. Von der Herrschaft erhielt er einen Kaperbrief - sozusagen einen Freifahrtschein zum Seeraub. "Das Korsarentum ist in der Geschichte viel ausgeprägter gewesen, als wir manchmal denken", so Dr. Sebastian Kolditz, der ebenfalls am ZMS tätig ist, die Tagung mitorganisierte und für die Drucklegung des Bandes mitverantwortlich ist.

Ein weiteres Anliegen der Tagung war es, die Opfer der Piraten in den Blick zu nehmen. Meist handelte es sich dabei um Personen, die in Küstennähe wohnten und von den Seeräubern verschleppt wurden. Entweder wurden sie daraufhin als Sklaven verkauft oder - wenn sie mehr Glück hatten - aus der Heimat freigekauft. Beim Lösegeld handelte es sich zuweilen um horrende Beträge. "Manchmal mehr, als jemand in seinem ganzen Leben erwirtschaften konnte", betont Jaspert.

Was sollte also ein armer Fischer aus Marseille tun, wenn seine Ehefrau von Piraten nach Tunis verschleppt worden war? Hier lautete das Stichwort Barmherzigkeit: "Spenden für den Nächsten waren in der damaligen Zeit für Christen und Muslime ein zentrales Anliegen", so Kolditz. So entstanden Orden, die sich vorrangig darum kümmerten, Geld für Gefangenenbefreiungen zu sammeln. Im Mittelalter gehörte es zudem zu den Herrschertugenden, sich für diese Belange einzusetzen, und in vielen Testamenten - vor allem von Personen, die in Küstennähe wohnten - waren Spenden für Gefangenenbefreiungen Standard.

Piraterie zog also sichtbare Folgen nach sich. Es entstanden Institutionen, die sich um die Gefangenenbefreiung kümmerten, wie eben genannte Orden, aber auch eine neue Berufsgruppe von Spezialisten: Mittelsmänner, die die Gefangenenbefreiung organisierten und dafür eine Kommission bekamen. Meist handelte es sich dabei um Kaufmänner, die zum einen die Sprache des Landes sprachen, aus dem die Piraten stammten, und zum anderen Handelsbeziehungen dorthin hatten.

"Aber auch die Geschichte des Versicherungswesens ist ganz unmittelbar mit der Piraterie verbunden", so Jaspert. Durch die permanente Gefahr, die von den Piraten ausging, kamen Kaufleute auf die Idee, dass sie ihre Waren nach einem Überfall eventuell "zurückbekommen" könnten, wenn sie einen Wetteinsatz tätigten. "Letztlich ist eine Versicherung im Kern nichts anderes als eine Wette", so Jaspert. Ab dem 14. Jahrhundert entstanden so große Versicherungszentren für den Handel im Mittelmeer - schließlich waren sowohl christliche als auch muslimische Staaten daran interessiert, dass der Handel über das Mittelmeer nicht durch Angst vor Piraten zum Erliegen kam.

Wenn man das Mittelmeer als verbindendes Element zwischen verschiedenen Territorien versteht, stellt sich natürlich die Frage, ob ein Pirat diese Konnektivität durchbricht - oder sie sogar fördert. "Auch Piratenüberfälle und Sklavenhandel sind Formen von Konnektivität", sagt Kolditz. Und das internationale Seerecht sei unter anderem deshalb entstanden, weil die Gefahr durch Piraterie so groß gewesen sei. Jaspert: "Letztlich tragen die Piraten mittelbar auch zur Verflechtung bei - auch wenn das nie ihre Absicht war."

Als Mittelalterhistoriker forscht Nikolas Jaspert zur zweiten Hälfte des Mittelalters (11. bis 15. Jahrhundert) und konzentriert sich dabei auf die Iberische Halbinsel, Italien und die so genannten Kreuzfahrerstaaten (z.B. Syrien, Palästina). Für seine wissenschaftliche Arbeit studiert er ganz unterschiedliche Quellengruppen: Das können zum Beispiel Beschwerdeschreiben an einen König sein, der seine Korsaren auf Schiffe eines bestimmten Landes angesetzt hatte. Aufschlussreich sind auch so genannte Bettelerlaubnisse: "Der Bischof von Valencia hat beispielsweise ein Register geführt, in dem eingetragen wurde, wer alles eine Bettelerlaubnis erhalten hat. Manchmal wurden dort auch genauere Umstände vermerkt, wieso jemand betteln gehen musste: zum Beispiel, weil der Bruder beim Fischen von Piraten gefangen genommen worden war", erklärt Jaspert. In Genua führte man zudem ein Register, das Ausgleichszahlungen festhielt. Wer von einem Genuesen beklaut wurde, konnte sich zur damaligen Zeit beim Rat von Genua beschweren. Dieser entschied dann darüber, ob es einen Schadensersatz gab - und vermerkte diesen gegebenenfalls in seinem Register.

Bei den meisten Dokumenten handelt es sich um alte Handschriften; nur schätzungsweise ein Prozent ist überhaupt gedruckt. "Diese Handschriften sind sehr schwer zu lesen", sagt Jaspert. Zur Arbeit des Mittelalterforschers gehört es, in die Archive der jeweiligen Länder zu reisen und dort die Quellen in mühsamer Kleinarbeit zu studieren.

Dem Zentrum für Mittelmeerstudien ist es ein Anliegen, seine Forschung zum Thema Piraterie transdisziplinär und transepochal zu gestalten. Damit möchten die Wissenschaftler Lücken in einer bislang zerklüfteten Piraterieforschung schließen. Neben Geschichtswissenschaftlern sind beispielsweise auch Rechtswissenschaftler und Literaturwissenschaftler mit von der Partie, die sich mit Themen wie Seerecht oder Gedichte der Romantik, in denen der Pirat auch positiv konnotiert sein kann, beschäftigen. Insgesamt wird ein Zeitraum vom 3000 Jahren abgedeckt: von den Seevölkern der Antike (1200 v. Chr.) bis ins 19. Jahrhundert, als das Ende der Piraterie im Mittelmeerraum - durch Abkommen zwischen den verschiedenen Staaten - eingeläutet wurde. Dass die Piraterie aber in anderen Gegenden nie ganz zum Erliegen gekommen ist, zeigen nicht zuletzt die dramatischen Zustände an der somalischen Küste in den vergangenen Jahren. Piraterie hat als Forschungsthema und als wirtschaftliches Phänomen seine Bedeutung bewahrt.


info

Mittelmeerraum als Forschungsaufgabe

Das Zentrum für Mittelmeerstudien existiert seit 2010 an der RUB. Es ist das erste und bislang einzige Mittelmeerzentrum in Deutschland. "International fügen wir uns in breite Forschungsaktivitäten ein", so Jaspert. Weitere Zentren für Mittelmeerstudien gibt es unter anderem in Barcelona, Malta oder Gibraltar; seit Jahrzehnten wird dort sowohl zu gegenwärtigen Entwicklungen als auch historischen Prozessen im Mittelmeerraum geforscht. Auch an der RUB arbeiten Wissenschaftler aus geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen zusammen: zum Beispiel Migrationshistoriker um Professor Mihran Dabag vom Institut für Diaspora- und Genozidforschung, Sozialanthropologen um Professor Dieter Haller und Archäologen um Professor Achim Lichtenberger. Piraterie ist dabei nur eins von vielen Themen - auch Wissensnetzwerke, die Finanzkrise oder der Arabische Frühling werden beleuchtet. "In der momentanen Krise droht die EU in eine nördliche und in eine mediterrane EU zu zerfallen - und das macht eine theoretische Expertise im Bereich der Mittelmeerstudien sehr wichtig. Da steckt ganz viel politisches Potenzial drin", so Nikolas Jaspert. Seit 2010 wird das Zentrum für Mittelmeerstudien vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit insgesamt zwei Millionen Euro für vier Jahre gefördert. Es ist Teil einer großen Initiative, Regionalstudien zu stärken. Weitere Informationen: www.zms.rub.de


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. 2: Prof. Dr. Nikolas Jaspert

Abb. 3: Dieses antike Mosaik "Neptune and the pirates" zeigt eine Szene, in der Neptun Piraten bestraft. Der Gott (Mitte) steht auf dem Schiff bereit, seinen Speer zum Einsatz zu bringen. Er wird begleitet von einer Mänade (rechts von ihm), einem Satyr (oder auch "Waldgott", links von ihm) und der ebenfalls aus der griechischen Mythologie stammenden Gestalt Silenos, die das Ruder hält. Ein Leopard attackiert vom Schiff aus die Piraten, die sich in dem Moment, als sie die göttliche Natur Neptuns erkennen, in Delfine verwandeln. Rechts im Bild versuchen Fischer, einen Oktopus zu fangen.

Abb. 4: Diese mittelalterliche Darstellung zeigt das Schiff des Mönchs Bavo (Mitte), wie es von Piraten angegriffen wird. Sie stammt aus den "Chroniques du Hanaut", einer französische Übersetzung einer lateinischen Chronik des späten 14. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt steht die Geschichte der Grafen des Hennegau. Bavo ist ein in Belgien und in den Niederlanden verehrter Heiliger aus dem 7. Jahrhundert.

Abb. 5: "An English ship in action with Barbary Corsairs" (ca. 1680) vom niederländischen Maler Willem Van de Velde der Jüngere ist eine typisch neuzeitliche Darstellung von Piraterie - so oder so ähnlich stellt man sich auch heute noch Seeraub vor. Das Bild zeigt einen Kampf zwischen einem englischen Schiff (links) und einem Piratenschiff (Mitte), das bereits in Flammen steht. Rechts sinkt ein Schiff, während die Besatzung versucht, sich zu retten. Das Gemälde zeigt kein spezielles historisches Ereignis, symbolisiert aber die generelle Gefahr, denen englische Schiffe in den 1660er- und 1670er-Jahren durch Piraten ausgesetzt waren.


Den Artikel mit Bildern finden Sie im Internet im PDF-Format unter:
http://www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/rubin-fruehjahr-13/beitraege/beitrag4.pdf

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Quelle:
RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Frühjahr 2013, S. 30-33
Herausgeber: Rektorat der Ruhr-Universität Bochum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juni 2013