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FORSCHUNG/161: Gnade vom milden Monarchen (AGORA - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


AGORA - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 2 - 2014

Gnade vom milden Monarchen

Von Ulrich Hausmann



Gnadengesuche an den Kaiser waren zu Zeiten des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation eine häufig praktizierte Form der Kommunikation, welche derzeit deutsche und österreichische Historiker untersuchen. Die vorgebrachten Anliegen spiegeln den damaligen Alltag wider.


Während die Mehrheit der Bundesbürger heute den möglichen Straferlass auf dem Gnadenwege nur für höchstrichterliche Urteile durch den Bundespräsidenten kennt - mediale Aufmerksamkeit erhielt zuletzt 2007 die Ablehnung für den ehemaligen RAF-Terroristen Christian Klar - sah die Welt vor etwa 400 Jahren noch anders aus: Neben den Adeligen und den Ständen wandten sich regelmäßig auch viele "einfache" Bürger und Bauern, Frauen wie Männer christlichen und jüdischen Glaubens, an den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, um ihn um Gnade zu ersuchen. Dies erfolgte durch Supplizieren, d.h. durch das persönliche Einreichen einer schriftlichen Bitte (Supplik), mit der ein ritueller Akt der Supplikation einherging. Das lateinische Verbum supplicare bezeichnet eine flehentliche mit Kniefall vollzogene Bitte um Gnade, die sich offensichtlich vom römischantiken Kaiserkult auf das Sacrum Imperium übertrug. Die eingebrachten Suppliken ließ Kaiser Rudolf II. entweder durch seinen Reichshofrat bearbeiten oder nahm sich ihrer in Einzelfällen sogar persönlich an. Insgesamt sind ca. 7.800 Supplikenverfahren im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien überliefert. Knapp die Hälfte der bisher erfassten Bittschriften stammt von Untertanen aus den verschiedensten weltlichen und geistlichen Territorien des Alten Reiches.

Die in dieser Form dem Kaiser vorgetragenen Anliegen der Untertanen rekrutierten sich aus allen Problemlagen des alltäglichen Lebens und umfassten etwa Bitten um Verleihung eines Privilegs für ein Gewerbepatent, um die Legitimierung unehelicher Kinder, um die Begnadigung nach erfolgter Bestrafung durch die Strafjustiz ebenso wie Beschwerden über die Obrigkeit bis hin zu Problemen bei der Einbringung von Schulden. Sie sind nicht, wie oft vermutet, auf Bitten von Straftätern um Begnadigung beschränkt, gleichwohl dieser Bereich einen großen Umfang einnimmt. Hinter diesen Bittbriefen verbergen sich Einzelschicksale von Menschen aus der frühneuzeitlichen Bevölkerung, die mit den konjunkturellen Entwicklungen bzw. den spezifischen Problemen hierarchisch geprägter Gesellschaftsstrukturen zu kämpfen hatten und die gegen die Normen des Eigentumsschutzes, der Ehe- und Familienordnung oder der Zünfte verstoßen hatten bzw. diese Normen zu ihrem Vorteil nutzen wollten. An den Kaiser zu supplizieren war mithin ein durchaus vertrautes Handlungsmuster und Teil einer weit verbreiteten politischen Praxis.

Diese Bittbriefe sind zugleich Ausfluss der kaiserlichen Reservatrechte und insbesondere seiner herrscherlichen Gnadengewalt. Über kaiserliche Privilegien wurden nicht nur Städten oder Klöstern, sondern auch zahlreichen Einzelpersonen bestimmte Vorrechte zugesprochen, wie etwa die Erteilung von Gewerbeprivilegien. Neben Nobilitierungen und Standeserhöhungen dispensierte der Kaiser auch von den Folgen einer unehelichen Geburt. Darüber hinaus gewährte er zahlreichen Personen Schutz durch die Ausstellung von Geleitbriefen. Und nicht zuletzt konnte er Begnadigungen für Straftäter vor territorialen oder städtischen Gerichten erwirken. Indem der Kaiser auf die Nöte und Sorgen der reichsmittelbaren Untertanen reagierte, konnte das Reichsoberhaupt seine Rechts- und Gnadengewalt ebenso her- wie darstellen und damit autoritative Macht ausüben. Häufig wurden die Bitten mithin positiv beschieden, mitunter auch ohne genauere Prüfung der Sachverhalte.

Dieses Handlungsmuster der Untertanen im frühneuzeitlichen Reich plausibel zu machen ist ein erstes Anliegen des Projekts. Dabei wird ein bislang in der historischen Forschung kaum berücksichtigter Baustein der politischen Ordnung des Alten Reiches wie generell monarchischer Herrschaft in Europa um 1600 erstmals umfassend fokussiert. Das im April 2012 begonnene deutsch-österreichische Kooperationsprojekt (gefördert von DFG und FWF) wertet dazu die Überlieferung des Reichshofrates systematisch aus und möchte einen Beitrag zum besseren Verständnis des frühneuzeitlichen Supplikationswesens wie auch des Reichshofrats leisten. Ursprünglich als kaiserliches Beratungsgremium entstanden, war dieser mit dem Reichskammergericht eines der beiden Höchstgerichte, aber eben gleichermaßen auch Verwaltungsorgan für die kaiserlichen Reservatrechte und die daraus resultierende Gnadengewalt. Dabei wird auf der Basis einer Datenbank sowohl eine quantitative Analyse des überlieferten Archivmaterials vorgenommen, wie auch eine Einzelauswertung ausgewählter Supplikationsverfahren vorgelegt.

Gnadengesuche auch als konstruierte Geschichten zu lesen, gehört seit den frühen Arbeiten von Natalie Zemon Davis zu Frankreich zu den gängigen Interpretationsansätzen. Darüber hinaus werden die Texte im Rahmen dieses Projekts als Teil eines umfassenden Kommunikationsvorgangs zwischen supplizierenden Untertanen und dem Kaiser begriffen. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass der Erfolg dieser Kommunikation darin begründet lag, dass beide Seiten - Kaiser wie Bittsteller - auf gleiche Handlungsorientierungen und Verhaltensnormen rekurrierten, die den Text der Supplik in spezifischer Weise sprachlich formten und in der Art, wie dies geschah, zugleich die kaiserliche Rechts- und Gnadengewalt aktualisierten und reproduzierten. So spiegelt sich das Kaiserbild der Bittsteller in der Rhetorik, Erzählstruktur und der Argumentation vielfach wider. Bereits der Entschluss zu diesem Schritt setzte das Wissen um die kaiserliche Gnadenfunktion bei den Untertanen voraus sowie den Glauben und die Hoffnung, dass der Kaiser davon Gebrauch mache und seine Entscheidung gegenüber den territorialen bzw. städtischen Obrigkeiten auch durchsetzen werde. Durch die Erschließung der Gegenüberlieferung in den territorialen und städtischen Archiven wird darüber hinaus das politische und soziale Umfeld einzelner Supplikanten ausgeleuchtet, um deren Handlungsstrategien sowie insbesondere den Erfolg oder Misserfolg ihrer Bittgesuche weiter zu beschreiben und zu erklären. Ein besonderes Interesse gilt dabei nicht zuletzt den Reaktionen der Landesfürsten und Städte auf die Interventionen des Kaisers in den eigenen territorialen Hoheits- und Machtbereich.

Neben den beiden Projektleiterinnen Prof. Dr. Sabine Ullmann (Eichstätt) und Prof. Dr. Gabriele Haug-Moritz (Graz) arbeiten Ulrich Hausmann und Christina Patz (Eichstätt) sowie Thomas Schreiber (Graz) an dem Projekt. Um dem speziellen Quellentyp der Suppliken gerecht zu werden und die vielfältigen Informationen unter verschiedenen Fragestellungen auswerten zu können, entwickelte das Grazer Zentrum für Informationsmodellierung in den Geisteswissenschaften eigens eine mehrfach relationale webbasierte Projektdatenbank, die das umfangreiche Datenmaterial für die Forschung erschließen und zur Verfügung stellen wird.

Nach einigen bereits 2013 erfolgten Vorstellungen des Forschungsvorhabens hat im Juni 2014 eine Tagung in Graz stattgefunden, auf der erste Ergebnisse in einem ausgewählten Kreis internationaler Experten diskutiert wurden. Auf dem Historikertag in Göttingen 2014, der unter dem Thema "Gewinner und Verlierer" stand, erfolgte eine umfangreiche Präsentation der Forschungsbefunde im Rahmen einer eigenen Sektion unter dem Titel "Wenn aus Verlierern Gewinner werden". Zu beiden Veranstaltungen ist ein Tagungsband, der die Ergebnisse des Projekts in den weiteren Kontext der frühneuzeitlichen Reichs- und Rechtsgeschichte stellt, in Vorbereitung. Zwei Dissertationen werden schließlich neben der webbasierten Datenbank im Rahmen des Projektes erstellt werden, die sowohl aus der Perspektive der SupplikantInnen und ihren Obrigkeiten als auch der des Supplikenempfängers am Kaiserhof das Phänomen beleuchten. So behandelt der Projektteil Eichstätt die "Handlungs- und Wirkungsweisen von SupplikantInnen und ihren Obrigkeiten in ausgewählten süddeutschen Städten und Territorien", der Projektteil Graz hingegen die "kaiserliche Rechts- und Gnadengewalt in actu".

(Nähere Informationen bietet die projekteigene Internetseite
www.suppliken.net)


Ulrich Hausmann und Christina Patz sind wissenschaftliche Mitarbeiter des hier beschriebenen Projektes an der Professur für Vergleichende Landesgeschichte und Geschichte der Frühen Neuzeit.

Prof. Dr. Sabine Ullmann ist an der KU seit 2006 Inhaberin der Professur für Vergleichende Landesgeschichte und Geschichte der Frühen Neuzeit.

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Quelle:
AGORA - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 2/2014, Seite 20-21
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2015


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