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LÄNDER/121: Sachsen - Erste Rollenzuweisung an den konstitutionellen Landtag (LTK)


Landtags Kurier Freistaat Sachsen 2/07

Parlamentsgeschichte
"... für des Landes Wohl wirken"
Eine erste Rollenzuweisung an den konstitutionellen Landtag in Sachsen

Von Josef Matzerath


"Daß mir noch im hohen Alter die Freude zu Theil wird, Sie meine Herren, als die neu erwählten Vertreter meines Volkes um mich versammelt zu sehen und vereiniget mit Ihnen, für des Landes Wohl wirken zu können, das zähle ich unter die günstigsten Ereignisse meines Lebens. Möge Gott Ihre Bemühungen mit Erfolg segnen." Sachsens König Anton stand am Ende seines 78. Lebensjahres, als er am 27. Januar 1833 den ersten konstitutionellen Landtag des Königreiches Sachsen feierlich im Dresdner Residenzschloss eröffnete. Der greise Monarch hatte bereits im Jahre 1831 seinen Neffen Friedrich August als Mitregenten akzeptiert. Eine revolutionäre Großwetterlage in Europa und Unruhen in vielen sächsischen Städten hatten auch das restaurative Ministerium des Grafen Detlev v. Einsiedel beendet und jüngeren Spitzenbeamten die Regierungsgeschäfte in die Hand gegeben. Dieses neue Ministerium, dessen Primus inter pares Bernhard v. Lindenau wurde, vereinbarte noch im selben Jahr mit der sächsischen Ständeversammlung eine Verfassung. Diese Konstitution legte auch die Rahmenbedingungen für eine repräsentative Volksvertretung fest, die aus zwei Kammern bestand. Ob der alte Fürst, der vom Thronsessel herab ein paar freundliche Begrüßungsworte an die neuen Parlamentarier richtete, überzeugt war, dass die vielen Veränderungen sinnvoll waren, blieb für die Chancen des neuen politischen Arrangements wohl wenig erheblich. Die Verhandlungen über den Wandel Sachsens zu einer konstitutionellen Monarchie hatte Anton ohnehin seinem Neffen Friedrich August und dessen jüngeren Bruder Prinz Johann überlassen. Auch bei der ersten Eröffnung des sächsischen Zweikammerparlamentes überließ der König die aktive Rolle fast vollständig dem Minister v. Lindenau. Nach den zitierten Sätzen erklärte er: "Was ich sonst von diesem Landtag wünsche und hoffe, das wird Ihnen mein Minister mittheilen."

In diesem Sinne griff v. Lindenau den Faden auf und verkündete, dass der König und sein Mitregent "mit Zuversicht und Zufriedenheit" sähen, dass im neuen Parlament "achtbare Männer [säßen], die das öffentliche Vertrauen und die Verfassung zum wichtigen Amte der Volksvertretung" beriefe, um "über des Landes Wohlfahrt beraten und beschließen zu können." Die konstitutionellen Kammern, argumentierte v. Lindenau, stünden um so mehr in der Pflicht, als "wahre Volksvertretung ... das Glück und Wohl des Staates" dauerhaft sicherzustellen, weil die vorherige Ständeversammlung auf ihre hergebrachten Rechte verzichtet habe, um die jetzt geltende Verfassung und Volksvertretung zu ermöglichen.

Nachdem der vorsitzende Minister des Gesamtministeriums und erste Protagonist des Staatsumbaus diese Ansichten noch einmal nachdrücklich als die Ansichten "Sr. Königlichen Majestät und des Prinzen Mitregenten Königliche Hoheit" gekennzeichnet hatte, ging er dazu über, das Arbeitsprogramm des Landtages zu erläutern: Die Verfassungsurkunde aus dem Jahre 1831 biete für die gesamte Staatsverwaltung Sachsens eine neue Grundlage und es seien durch neue Gesetze zur Städteordnung und zu den Fronabgaben bereits erste Umgestaltungen in einzelnen Bereichen der Gesellschaft erfolgt, aber insgesamt gelte es noch "den Geist und Sinn der Verfassung auf das gesamte Staatsleben überzutragen und daraus das Wohlbefinden der Gesamtheit hervortreten zu lassen." Eine so ungeheure Aufgabe könne selbstverständlich nicht in einem Jahr und auch nicht von einem Landtag bewältigt werden. In einen so gewaltigen Umbruch müssten die Staatsbürger sich erst hineinleben und ein neues Weltverständnis entwickeln. Künftig solle aber "eines jeden Bildung vom Kinde zum Mannesalter nur diese Richtung" einschlagen. Nach v. Lindenaus Verständnis kam aber doch dem ersten Landtag eine besondere Rolle zu. Denn er sollte "das große Werk beginnen und das neue Gebäude so fest, ruhig und vernünftig begründen", wie es möglich sei, "damit jede künftige Versammlung nur darauf fortzubauen habe, um zu dem höchsten Ziel des Staates, dem allgemeinen Volksglück zu gelangen".

Fraglos schlug v. Lindenau gleich zu Beginn seiner Ausführungen den feierlichen Duktus von großen Staatsreden an, die das allgemeine Gute fordern. Er wurde dann aber konkreter: "Neue Gesetze und neue Behörden werden erforderlich, um die künftige Rechtspflege und Verwaltung im Sinne der Verfassung umzugestalten." Um das zu erreichen, würden aus den verschiedenen Ministerien dem Landtag "zahlreiche Mittheilungen zugehen". Der Archeget der Staatsreform umriss dann, was aus den einzelnen Ressorts ins Haus stehen werde. Aus dem Justizministerium vermeldete er, dass zwar eine Revision der sächsischen Gerichtsordnung anstünde und dass das Zivil- und Kriminalrecht überarbeitet und kodifiziert werden sollten. Dazu sei man aber wegen des Behördenumbaus in der letzten Zeit noch nicht gekommen. Der Landtag dürfe aber darauf rechnen, dass ihm Gesetzentwürfe für andere Bereiche zugingen. Diese Vorhaben betrafen den Status der zivilen Staatsbeamten, bei denen es künftig keine Privilegierungen mehr für den Adel geben sollte. Weiterhin plante das Justizministerium die privilegierten Gerichtsstände für Rittergutsbesitzer aufzuheben und den Instanzenzug der Gerichte neu zu ordnen. Außerdem sollten die Kompetenzen zwischen den Verwaltungs- und Justizbehörden klar getrennt werden.

Das Kultusministerium, das in Sachsen für kirchliche, schulische und universitäre Angelegenheiten zuständig war, hatte die Absicht, eine neue Kirchenverfassung für die lutherische Landeskirche vorzulegen. Es wollte das Verhältnis zwischen den Angehörigen der evangelischen und katholischen Konfession neu fassen, der Landesuniversität Leipzig und den Volksschulen mehr Mittel zukommen lassen sowie für Pfarrer und Lehrer höhere Besoldungen erwirken. Die Gesetzesvorhaben des Finanzministeriums zielten vor allem darauf, den Anschluss Sachsens an den Deutschen Zoll- und Handelsverein zu ermöglichen. Dazu mussten die Steuern und Abgaben an die Bedingungen angepasst werden, die innerhalb dieses länderübergreifenden Marktes galten. In diesem Zusammenhang beabsichtigte Sachsen auch, die noch bestehenden frühneuzeitlichen Steuerbefreiungen etwa für Rittergutsbesitzer abzuschaffen.

Das Ministerialressort Inneres, dem v. Lindenau selbst vorstand, hatte eine Reihe von Ausführungsgesetzen und -verordnungen erarbeitet, die die Verfassung erforderlich machte. Dazu gehörten u. a. die Gesetzentwürfe über die Staatsangehörigkeit und das Staatsbürgerrecht, über die Errichtung von Mittelbehörden der Zivilverwaltung, über die Landgemeindeordnung, die Gewerbeordnung oder auch die Landtagsordnung. Ein Gesetz über Presse und Buchhandel konnte das Innenministerium aber noch nicht präsentieren, weil dazu die Zustimmung des Deutschen Bundes erforderlich war. Sachsen hatte zwar beim Bundestag in Frankfurt angefragt, bislang aber noch keine Antwort erwirken können. Seine Ausführungen zum innergesellschaftlichen Umbau schloss v. Lindenau mit dem Hinweis, dass ein "Gesetz über Frohnablösung" bereits von der letzten sächsischen Ständeversammlung frühneuzeitlichen Typs verabschiedet worden sei, ebenso eine Städteordnung. Mit diesen beiden Neuausrichtungen sei eine "Vermehrung der gesamten Landeswohlfahrt mit Zuversicht [zu] erwarten, da durch [die Frohnablösung] das Grundeigentum von beschränkenden Fesseln befreit[,] durch [die Städteordnung] der städtische Haushalt frei, selbständig und somit vervollkommt" werde. In den modernen Begrifflichkeiten der Wirtschaftsgeschichte gesagt, hoffte v. Lindenau auf die Schubkraft, die die Entfesselung des Marktes aus hergebrachten ständischen Verhältnissen bringen würde. Einen weiteren Aufschwung von Handel und Gewerbe sagte der Redner für den Zeitpunkt voraus, an dem Sachsen dem Deutschen Zollverein beitreten könne und damit Zutritt zu einem "erweiterten freien Markt ... erhalten" werde. Denn er war zuversichtlich, dass die sächsischen Kaufleute und Fabrikanten sich durch ihre Umtriebigkeit und Cleverness erfolgreich auf dem größeren Aktionsfeld zurechtfinden würden, zumal Sachsens Fabrikarbeitern "Geschick, Fleiß und Mäßigkeit" zueigen sei. Hoher Ausbildungsstand, lange Arbeitszeiten und niedrige Löhne sowie eine geographisch günstige Lage in der Mitte Deutschlands boten nach v. Lindenaus Ansicht sächsischen Produkten gute Absatzchancen.

Im Vergleich zum Stellenwert, den die Rede der Marktöffnung zuweist, fallen die Bemerkungen zum Arbeitsbereich des Kriegsministeriums eher spärlich aus. Das Militär erfülle Sachsens Verpflichtungen im Deutschen Bund, konstatierte v. Lindenau, und es erfülle auch im Frieden seinen Zweck, weil die Soldaten "durch Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, durch Schutz des Eigenthums, durch Beschirmung [der] Grenzen gegen das Eindringen [der soeben grassierenden Pest] der Gesamtheit einen wichtigen Dienst" leisteten. Offensichtlich hatten die Staatsreformer keine Ambitionen, die neue gesetzliche Einhegung der Gesellschaft auf den militärischen Sektor zu übertragen.

Für die Außenpolitik verwies v. Lindenau nur pauschal auf Sachsens "treue Anhänglichkeit an den deutschen Bund". Auch an dieser Stelle bestand aus Sicht der Regierung kaum Handlungsbedarf oder -möglichkeit. Für den Außenhandel konnte der Minister allerdings darauf verweisen, dass sich die Regierung um ein besseres Verhältnis mit den "Süd= und Nordamerikanischen Staaten" bemühe. Soeben habe man einen Handelsvertrag mit Mexiko abgeschlossen. Auch in diesem Ressort erwarteten den Landtag daher wenige Mitteilungen aus dem Kabinett. Eher entstand der Eindruck, dass auch die Außenpolitik lediglich, so gut sie es eben vermochte, zusätzliche Schubkraft für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes organisieren sollte.

Ganz in diesem Sinne resümierte v. Lindenau auch die Projekte, die die Ministerien an das Parlament herantragen wollten. Das "künftige Wohl des Landes" erfordere eine Koordination auf mehreren Ebenen. Es hänge einerseits viel von der "sachgemäßen Anwendung [der] neuen Gesetze und Einrichtungen auf das bürgerliche Leben, von der Kraft der Ausführung und der treuen Mitwirkung jeder Behörde" ab. Für diesen Teil waren im weiteren Sinne der König und sein Mitregent und im engeren die Minister zuständig. Diese Staatsspitze sah sich zweifellos auf dem richtigen Weg mit ihrem Reformprogramm. Es mussten aber ihre vielen Gesetzesvorhaben noch von den Ständen erörtert und begutachtet werden. Dazu meinte v. Lindenau: "Mögen die Vertreter des Volks alles ihnen vorgelegte mit Umsicht und Besonnenheit prüfen und im Voraus überzeugt seyn, daß jede Verbesserung, die ihre Einsicht, ihre Erfahrung, ihr practischer Blick beantragt, mit Bereitwilligkeit von der Regierung aufgenommen werden wird: denn von irgend einem eigentlichen Widerstreit zwischen dieser und den Ständen des Landes kann nicht die Rede seyn; wohl kann eine Verschiedenheit der Meinungen über die Wahl der Mittel zum Zweck, allein nicht über diesen statt finden: dieser Zweck ist das Wohl des Staates". Damit war die Rollenverteilung klar definiert. Die Regierung wollte den Kurs festlegen und für seine administrative Ausführung garantieren. Ihre Politik sahen König, Mitregent und Kabinett als sachorientiert und nicht hinterfragbar an. Die Meßlatte war das Landeswohl, das sich aus dieser Perspektive als objektiv bestimmbar darstellte. Diesem auf solche Weise definierten Interesse der Gesamtheit ordnete sich, so deklarierte v. Lindenau, auch das Herrscherhaus unter: "Se. Königliche Majestät und der Prinz Mitregent [seien] sich klar bewußt, nur des Landes Wohl zu wollen". Unausgesprochen bleibt hier, dass der König und sein Haus auch eine Politik treiben könnten, bei der das Land vorwiegend den Interessen der Dynastie zu dienen habe. Wenn aber schon der Monarch und sein Kabinett nur das Glück und die Zufriedenheit des Volkes als gemeinsamen Staatszweck anstrebten, ließ sich nach Ansicht der Staatsspitze doch wenigstens erwarten, dass die Parlamentarier diesen Kurs im Großen und Ganzen mitgingen. In einer geschraubten Formulierung höfischer Gestelztheit äußerte v. Lindenau diesen Gedanken: "Se. Königliche Majestät und des Prinzen Mitregenten Königliche Hoheit halten Sich überzeugt durch das Handeln in diesem Sinne, Glück, Wohlstand und Zufriedenheit im Innern, Achtung, Sicherheit und Ehre der sächsischen Nation nach Außen zu begründen und können für solche Zwecke am kräftigen Mitwirken der versammelten Vertreter des Volkes nicht zweifeln".

Als v. Lindenau abschließend die Mitwirkung des Landtags einforderte, bediente er sich der patriotischen Emphase: "Möge unsern Kammern jedes Zeichen der Leidenschaft und der Einseitigkeit fremd bleiben, möge Vaterlandsliebe und Sinn für das Gesamtwohl über alle vorherrschen, möge dieser Landtag Volksglück im weiten Umfang erschaffen, und unser Land durch das vereinigte patriotisch=geistige Wirken seiner Vertreter und Beamten, wieder den alten Ruhm erringen, für Sitte, Recht, Gesetz und Wissenschaft zum Vorbild anderer zu werden und mögen somit die frommen Wünsche in Erfüllung gehen, die unser König und Mitregent in dieser feierlichen Stunde, wo Fürst und Stände zum Wohle des Landes sich verbinden, hier ausgesprochen wissen wollen." Streift man das Pathos der Äußerungen ab, bleibt die Forderung, dass die Landtagsmitglieder das Reformprogramm der Regierung unterstützen sollten. Denn ansonsten setzten sie sich dem Verdacht aus, partikularistische Eigeninteressen den Interessen der Gesamtgesellschaft überzuordnen. Das Parlament sollte nach v. Lindenaus Ansicht daher den Führungsanspruch der Exekutive akzeptieren, umso mehr als er durch eine auratisch präsentierte Deklaration königlichen Willens gestützt wurde.

Dieser Anspruch muss manches traditionell denkende Landtagsmitglied mehr erschreckt als begeistert haben. Der Präsident der Ersten Kammer, Ernst Gustav v. Gersdorf, der wie viele Mitglieder des Oberhauses selbst seit dem Landtag 1817 der sächsischen Ständeversammlung des frühneuzeitlichen Typus angehört hatte, ließ dies in seiner Antwortrede auf die Proposition der Regierung durchaus durchblicken. Er erinnerte an die "treue Hingebung und Thätigkeit" der alten Ständeversammlung, bekannte aber auch, dass die Verfassungsänderung des Jahres 1831 zeitgemäß gewesen sei. Nun sähen sich "die neuen Stände vor [dem] Throne versammelt, um durch ihr Bemühen das Wohl des Staats und das Glück des Volks noch fester zu begründen".

Das Parlament habe soeben gehört, erklärte v. Gersdorf, "welche Menge der verschiedenartigsten und wichtigsten Gegenstände" dem Landtag vorgesetzt werden würden. Seine Skepsis gegenüber dem Reformvorhaben verbarg der Kammerpräsident hinter einer Vertrauensadresse an den Fürsten und einem Bekenntnis zur patriotischen Pflicht des Parlaments. Er sagte, dass bei den Parlamentariern die "Neuheit aller jetzt eintretenden Verhältnisse, einige Besorgnis erregen" würde, "wenn nicht selbst das Beispiel [der] erhabenen und geliebten Fürsten, die zum Wohle des Vaterlandes und Volks so vieles gethan haben und unser eigenes Pflichtgefühl uns erhöbe und antriebe, mit Anstrengung aller unserer Kräfte, die uns gewordene ehrenvolle, aber schwere Aufgabe zu lösen." Damit war zugleich eine Reserviertheit gegenüber dem gesellschaftlichen Umbau angedeutet, die Bereitschaft deklariert, der Regierung zu folgen, und dem König die Position zugewiesen, großen Weitblick, aber auch weit reichende Verantwortung zu haben. Eine Absichtserklärung des Parlaments, selbst politisch das Heft in die Hand zu nehmen, war v. Gersdorfs Rede keineswegs.

Dennoch akzeptierte auch der erste konstitutionelle Landtag des Königreiches Sachsen nicht alle Vorhaben, die das Ministerium ihm im Namen der Krone vorlegte. Beispielsweise erhielt der Gesetzentwurf für eine Landtagsordnung keine Gesetzeskraft und blieb über Jahrzehnte hin unerledigt liegen.


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Quelle:
Landtags-Kurier Freistaat Sachsen 2/2007, Seite 14-16
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juni 2007