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MEMORIAL/036: 19. Februar 1937 - 30.000 Äthiopier unter Mussolini barbarisch ermordet (Gerhard Feldbauer)


In Äthiopien betrieb der Mussolinifaschismus Völkermord

Bis 1941 wurden dort 750. 000 Menschen umgebracht

Marschall Graziani ließ am 19. Februar 1937 an einem Tag 30.000 Äthiopier barbarisch ermorden

Von Gerhard Feldbauer, 18. Februar 2012


Am 3. Oktober 1935 hatte Mussolinitalien mit einer 400.000 Mann starken Kolonialarmee das Kaiserreich Äthiopien (damals Abessinien) überfallen, um es als Kolonie zu unterjochen. Als der unerwartet starke Widerstand die Offensive ins Stocken brachte, befahl der "Duce" Yperit einzusetzen. Nach wahrscheinlich unvollständigen Angaben wurden, wie der Historiker Angelo Del Boca in seinem Werk Le Guerre coloniali del Fascismo (Rom/Bari 1991) schrieb, über den äthiopischen Stellungen über 350 Tonnen des Giftgases abgeworfen. Italien brach damit das 1925 unterzeichnete internationale Abkommen über den Verzicht des Einsatzes chemischer Waffen. Auf äthiopischer Seite fanden während des Eroberungsfeldzuges etwa 275.000 Menschen den Tod, sehr viele durch das Giftgas. Um keine Berichte darüber an die Öffentlichkeit kommen zu lassen, ordnete Mussolini persönlich an, gefangenen genommene Europäer, die in der äthiopischen Armee gekämpft hatten, zu erschießen.

Nach dem Einmarsch am 5. Mai 1936 in Addis Abeba schloss Mussolini am 1. Juni Äthiopien mit Eritrea und Italienisch Somaliland zur Kolonie Italienisch Ostafrika zusammen. Vittorio Emanuele III. setzte sich die äthiopische Kaiserkrone auf und Pius XI. zwang den Äthiopiern auf den Trümmern der koptischen Kirche eine ihnen fremde Religion auf. Der Kardinal Ildefonso Schuster feierte im Dom von Mailand die Heldentaten des italienischen Heeres, welches das "Licht der Zivilisation nach Äthiopien getragen" habe. Zum ersten Generalgouverneur der Kolonie und als "Vizekönig" Emanuele III. wurde zunächst der Befehlshaber der Kolonialarmee, Marschall Badoglio, ernannt, dem im Juni Marschall Rodolfo Graziani folgte.


Der Völkerbund ermunterte den Aggressor

Die kolonialen Eroberung Äthiopiens, die eine Aggression am Vorabend des Zweiten Weltkrieges darstellte, mit der ebenso das Völkermorden begann, erhielt die aktive Förderung des Völkerbundes und seiner führenden Großmächte Frankreich und Großbritannien in Gestalt des sogenannten Appeasement. Während eines Treffens des französischen Außenministers Pierre Laval(1) mit Mussolini im Januar in Rom war in einem Geheimvertrag die Unterstützung der französischen Politik im Mittelmeer durch Rom vereinbart worden, während Paris Italien "freie Hand" in Äthiopien zusagte. Nach dem Überfall versuchten Laval und sein britischer Kollege Samuel Hoare, dem Aggressor durch Zugeständnisse einen "legalen" Teilerfolg zu sichern: Äthiopien sollte Italien große Gebiete von Ogaden und Danakil sowie von Teilen der Provinz Tigre, insgesamt etwa die Hälfte des Landesterritoriums, überlassen. Äthiopien wurde dafür der Hafen Asab und ein schmaler Zugang zu ihm versprochen. Kaiser Hailè Selassiè lehnte ab, der Annexion des Landes auf Raten zuzustimmen.

Wie gegenüber Deutschland wurde die britische Position auch zu Italien von der antisowjetischen Stoßrichtung bestimmt. Die Konservativen hatten Mussolini schon seit seinem Machtantritt unverhohlene Sympathien dafür bekundet, dass er das Land vor dem "Bolschewismus gerettet" und es "erneuert" habe. Dem faschistischen Italien wurde das "Recht auf Expansion" zugebilligt und ihm die Wahrnehmung einer "zivilisatorischen Mission" in Afrika bescheinigt. Ein interministerieller Ausschuss hielt im Juni 1935 fest, dass es "keine vitalen britischen Interessen" gebe, die erforderten, "sich einer italienischen Eroberung Äthiopiens zu widersetzen". Im Rahmen der bekannten Vorbereitung des Überfalls beschäftigten London allen Ernstes andere Sorgen. Angesichts der beträchtlichen Kampfkraft der äthiopischen Armee befürchtete man, der Feldzug könnte die militärischen Potenzen Italiens überfordern, es zu einem "erschöpfenden afrikanischen Abenteuer" kommen und das gar zu einem Zusammenbruch des Faschismus führen. Als nach dem Beginn der Aggression wirksame Sanktionen des Völkerbundes gegen Italien ausblieben, wurde Außenminister Lord John Simon nach einem Bericht des englischen Historikers A. L. Rowse gefragt, warum die Engländer nicht irgendeinen Zwischenfall arrangierten, zum Beispiel ein Schiff im Suezkanal versenkten, was die Verbindung zwischen Italien und seinen Armeen in Äthiopien unterbrechen würde. Simons Antwort lautete: "Wir können das nicht tun, weil das Mussolinis Sturz bedeuten würde."(2)


Wirkungslose Sanktionen

Auch mit den nach dem Überfall gegen Italien beschlossenen wirkungslosen Sanktionen lieferte der Völkerbund, dessen Mitglied Äthiopien war, das Land dem Aggressor aus. Vom Embargo für sogenannte kriegswichtige Handelsgüter war das für den Einsatz der Luftwaffe und der Panzer entscheidende Erdöl ausgenommen, ferner Eisenerz und Kohle. Der britische Finanzminister Neville Chamberlain(3) hatte Sanktionen regelrecht als "Wahnsinn" bezeichnet. Auf militärische Maßnahmen, welche die Völkerbundsatzung ebenfalls vorsah, wurde verzichtet, lediglich Waffenlieferungen untersagt. Italien erhielt dennoch weiter Kriegsgerät und Rohstoffe aus Frankreich, Belgien, der Tschechoslowakei, Österreich und der Schweiz. Die USA, die dem Völkerbund nicht angehörten, brachen die Beziehungen zu Rom nicht ab und stellten auch ihre Erdöllieferungen nach Italien nicht ein. Sie stiegen im Gegenteil von 447.000 $ 1934 bis Ende 1935 auf 1.252.000 $ an.

Für wirksame Sanktionen trat nur die UdSSR ein. Sie forderte, jegliche Zufuhr von Erdöl nach Italien und zu dem Kriegsschauplatz zu unterbinden und dazu auch die Durchfahrt durch den Suezkanal zu sperren, was den Nachschub für die Kolonialarmee außerordentlich erschwert hätte. Der Völkerbund ignorierte die Anträge und Mussolini konnte ungehindert ans Werk gehen. Den begangenen Völkermord und anhaltenden Terror ignorierte der Völkerbund und hob die Sanktionen bereits am 16. Juli 1936 auf.


Die römische Herrenmenschen-Ideologie

Entscheidende Basis der faschistischen Expansionspolitik und des betriebenen Völkermords war die römische Rassenideologie, die in massenhafter Praxis während und nach der Eroberung Äthiopiens betrieben wurde. Graf Galeazzo Ciano, zu dieser Zeit Propagandaminister(4), ordnete nach der Eroberung Äthiopiens die "klare Trennung" der Rassen und keinerlei Annäherung "der italienischen Rasse an die schwarze Rasse" an, um die "Reinheit" der italienischen absolut zu wahren.

Eine maßgebliche Grundlage des römischen Rassismus bildeten die Schriften des faschistischen Ideologen Julius Evola. Als Anhänger des in der Weimarer Republik berüchtigten Deutschen Herrenklubs, eines Wegbereiters des Machtantritts Hitlers, und nach 1933 des Freundeskreises Himmlers, verherrlichte er in seinem Hauptwerk "Die Söhne der Sonne" die Überlegenheit der arischen Rasse, Führerkult, soldatische Disziplin und den Ordensstaat. Die Sonnensöhne Evolas waren Herrenmenschen, gegenüber "jeglicher Schwäche unerschütterlich", für die "nichts wahr und alles erlaubt ist". Außer den "Herren" existierten nur Sklaven. Die Masse bestand nur aus Dienern, aus "Leuten, die überhaupt keine Rechte haben", auch nicht das auf Leben, und über deren Vernichtung "man keine Träne zu vergießen braucht".(5)

Die römischen rassistischen Instruktionen bereiteten den Boden für das im Juli 1938 verkündete "Rassenmanifest", mit dem Mussolini grundsätzlich und wesentlich die faschistischen Rassengesetze Hitlerdeutschlands übernahm. Die nach dem Zweiten Weltkrieg u. a. von dem konservativen Historiker Renzo De Felice vertretene Ansicht, die italienischen Rassengesetze seien auf Druck Hitlers übernommen worden, entbehren jeglicher Grundlage.


Mit Knüppeln und Eisenstangen erschlagen

Es gelang indessen nicht, Äthiopien völlig zu unterwerfen. Das Kolonialregime beherrschte nur die großen Städte und etwa ein Drittel des Landes. Die verschiedenen Stämme unter Führung ihrer Ras, aber auch selbständige Partisanenabteilungen, kontrollierten die schwer zugänglichen Bergregionen und Wüstengebiete. Um den Widerstand zu zerschlagen, führten Abteilungen der Schwarzhemden "Strafexpeditionen" durch. Der in Addis Abeba weilende Korrespondent des Mailänder "Corriere della Sera", Ciro Poggiali, schilderte aus Furcht vor Repressalien erst 1971 wie italienische Zivilisten "in echter SA-Manier" wüteten. "Mit Knüppeln und Eisenstangen bewaffnet erschlugen sie die Einheimischen, die sich noch auf der Straße befanden. Nach kurzer Zeit sind die Straßen um die Hütten von Toten übersät. Ich sehe einen Busfahrer, der, nachdem er einen alten Neger mit einem Hammerschlag niedergemacht hat, ihm den Kopf mit einem Bajonett durchbohrt. Man muss nicht erwähnen, dass das Gemetzel sich gegen unwissende und unschuldige Menschen richtete."(6)


Befehl: Terror und Vernichtung

Bereits nach der Einnahme der Hauptstadt hatte Mussolini in einer Weisung zur "Politik des Terrors und der Vernichtung" befohlen, jeden bewaffneten Äthiopier sofort zu erschießen und ebenso mit gefangen genommenen Rebellen zu verfahren. Allein von den Carabinieri wurden bis Juni 1936 2.500 Einheimische erschossen. Gegen den äthiopischen Widerstand wurde ein weiteres Mal Giftgas eingesetzt. Nach einem gegen sich erfolglosen Attentat befahl Marschall Graziani am 19. Februar 1937 ein Massaker, dem nach äthiopischen Angaben allein in der Hauptstadt 30.000 Menschen zum Opfer fielen. Etwa 1.000 Häuser wurden niedergebrannt.


Die Ermordung der Ordensbrüder des Klosters Debra Libanos

Graziani ordnete an, die äthiopische Intelligenz als einen potentiellen Oppositionsherd zu liquidieren. Unzählige christlich-koptische Geistliche und alle Kadetten der Militärakademie von Addis Abeba wurden umgebracht. Nur auf den Verdacht hin, dass sie an dem Attentat beteiligt gewesen sein könnten, ließ der Generalgouverneur im Mai 1937 nahezu 300 Ordensbrüder des Klosters Debra Libanos erschießen. Unzählige Äthiopier sperrte das Kolonialregime in Konzentrationslager, wo die meisten elendiglich zu Grunde gingen. Insgesamt kamen unter der bis zum Mai 1941 währenden faschistischen Herrschaft etwa 750.000 Äthiopier ums Leben.


Unser Autor schrieb dazu dass Buch: Mussolinis Überfall auf Äthiopien. Eine Aggression am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. Köln 2006.


Anmerkungen:

(1) Laval wurde wegen seiner späteren Kollaboration als Ministerpräsident der Vichy-Regierung mit Hitlerdeutschland im Oktober 1945 in Paris zum Tode verurteilt und hingerichtet.

(2) Alfred Leslie Rowse: All sounds and Appeasement, London 1961, S. 26.

(3) Ab 1937 Premier, exponierter Vertreter der Konservativen, die Hitler gegen die UdSSR lenken wollten. Unterzeichnete 1938 das Münchener Abkommen. 1940 durch Churchill abgelöst.

(4) Schwiegersohn des "Duce", gehörte im Juli 1943 zu den Teilnehmern der Palastrevolte, die Mussolini stürzte, von diesem am 11. Januar 1944 hingerichtet.

(5) Angelo Del Boca, Mario Giovanni: I Figli del Sole. Mezzo Secolo di Nazifascismo nel Mondo. Mailand 1965, S. 130 ff.

(6) Gli Appunti segreti dell'Inviato del "Corriere della Sèra", Mailand 1971, S. 182.


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Quelle:
© 2012 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Februar 2012