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MEMORIAL/043: 27. April 1937 - Zum Gedenken an Antonio Gramsci (Gerhard Feldbauer)


Zum Gedenken an Antonio Gramsci

Am 27. April 1937 starb er an den Folgen der über zehnjährigen Haft in Mussolinis Kerkern

Von Gerhard Feldbauer, 20. April 2012



Wenn man das bekannte Bild von Gramsci mit dem Kopf unter dem prächtigen Haar sieht, aus dem die Augen ruhig und sicher blicken, dann bestätigt das den Eindruck von dem genialen Gelehrten, der einen gewaltigen Beitrag leistete zur Verbreitung und Anwendung des Marxismus-Leninismus, vor allem durch die Schaffung der kommunistischen Partei, die über ein halbes Jahrhundert den Prüfungen der Geschichte standhielt. Weniger bekannt ist, dass er ebenso ein Mann der revolutionären Praxis war. Er verband beides ausgezeichnet. Damit ist schon Wichtiges zu seinem revolutionären Erbe gesagt.


Das Konzept der Weltanschauungspartei

Wie viel Gramsci, "ein Theoretiker der III. Internationale, ein Leninist klassischen Typs, der Vertreter des Konzepts der Weltanschauungspartei", uns "gerade heute noch zu sagen hat", sei schon bei einem Teilproblem wie dem "der Weltanschauung der Arbeiterklasse" zu erkennen, schrieb Hans Heinz Holz 1991 anlässlich seines 100. Geburtstages. Alle Fragen, mit denen sich Gramsci beschäftigte, sind damit verbunden.

Gramsci gehörte zu den führenden Köpfen der revolutionären Linken, die gegen die Reformisten in der Italienischen Sozialistischen Partei während des Ersten Weltkrieges als einzige westeuropäische Sektion der II. Internationale die Antikriegsposition durchsetzten. Im August 1917 trat er als einer der Organisatoren an die Spitze des Aufstandes der Turiner Arbeiter gegen Hungersnot und für Frieden. Der reformistisch beherrschte ISP-Vorstand wurde abgesetzt und eine neue Leitung mit Gramsci an der Spitze gewählt. Erst nach viertägigen Barrikadenkämpfen, bei denen Hunderte Arbeiter getötet, noch viel mehr verwundet und Tausende verhaftet wurden, gelang es der Armee, die Erhebung niederzuschlagen.

Die linke Fraktion dominierte noch in der Anfangsphase der revolutionären Nachkriegskämpfe die ISP. Gramsci versuchte zunächst, in der Partei den Bruch mit dem Opportunismus durchzusetzen und sie in eine revolutionäre, was hieß kommunistische umzuwandeln. Ausgehend von der Rolle, die Lenin einer Zeitung bei der Schaffung einer marxistischen Partei in Russland als kollektiver Propagandist, Agitator und Organisator beigemessen hatte (LW, Bd. 5, S. 9 ff.) gründete Gramsci mit weiteren Linken die Zeitschrift Ordine Nuovo, deren erste Ausgabe am 1. Mai 1919‍ ‍erschien. Die Zeitschrift spielte mit den um sie gescharten Kommunisten eine große Rolle bei der Verbreitung der kommunistischen Ideen und bekannte sich zur Kommunistischen Internationale. Ihr revolutionärer Einsatz kam insbesondere bei der Besetzung aller Großbetriebe Norditaliens, der Bildung von Fabrikräten und der Aufstellung bewaffneter Roter Garden zum Ausdruck.

Auf dem XVII. Parteitag der ISP, der am 15. Januar 1921 in Livorno zusammentrat, forderten die Ordinuovisten den Ausschluss der Reformisten aus der Partei. Als die Zentristen das ablehnten, verließen sie den Parteitag und konstituierten sich am 21. Januar zur Kommunistischen Partei. Unmittelbar danach schlossen sich ihr 35.000 der insgesamt 41.000 Jungsozialisten an. Gramsci setzte sich zunächst mit dem Linkssektierertum und der Massenentfremdung der Führungsgruppe um Amadeo Bordiga auseinander. Nachdrückliche Impulse dazu vermittelte die Matteotti-Krise 1924/25, die das Mussoliniregime an den Rand des Sturzes brachte. Dass er nicht gelang, war wesentlich darauf zurückzuführen, dass Gramscis Linie in der Partei noch keinen Widerhall gefunden hatte. Die IKP forderte, eine Arbeiter- und Bauernregierung zu bilden.

Gramsci begann als erster in der kommunistischen Weltbewegung, eine Analyse des an die Macht gekommenen Faschismus zu erarbeiten. Er legte die Widersprüche innerhalb der herrschenden Kreise bloß und schätzte ein, dass der "Faschismus als Instrument einer Industrie-Agraroligarchie (handelt), um in den Händen des Kapitals die Kontrolle des gesamtem Reichtums des Landes zu konzentrieren." Er hielt fest, dass "die herrschende Klasse in den kapitalistisch hochentwickelten Ländern politische und organisatorische Reserven besitzt, die sie z. B. in Russland nicht hatte", was bedeute, dass "auch schwerste Wirtschaftskrisen keine unmittelbare Rückwirkung auf das politische Leben haben, sondern die Politik immer eine Verspätung, eine große Verspätung gegenüber der ökonomischen Entwicklung aufweist." Das bedeutete, dass die Frage der proletarischen Revolution zunächst nicht mehr auf der Tagesordnung stand, die Arbeiterklasse ihre "politische Hegemonie" auf der Grundlage der Freiwilligkeit und Überzeugung erringen müßte, ihr Masseneinfluss voraussetzte, das Sektierertum zu überwinden.


Die Konzeption des "Historischen Blocks"

In seiner These vom "Historischen Block" entwickelte Gramsci ein System von Bündnissen der Arbeiterklasse mit der Bauernschaft, den Mittelschichten und der Intelligenz, in dem er dem Zusammengehen mit den katholischen Volksmassen einen hohen Stellenwert beimaß. Er ging von Lenins Hinweisen für die italienischen Kommunisten auf dem III. KI-Kongress aus, dass Grundlage dafür sein müsse, dass die Partei "die Massen", die "Mehrheit der Arbeiterklasse" gewinnt (LW, Bd. 32, S. 491 ff.). Er betonte, dass die bürgerlichen Bündnispartner des "Historischen Blocks" eigene politische Ziele verfolgten, was Zugeständnisse erfordere. Gleichzeitig erklärte er, was heute meist übersehen wird, es müsse sich um einen "ausgeglichenen Kompromiss" handeln, bei dem die Zugeständnisse der KP "nicht das Wesentliche, nämlich "die entscheidende Rolle (...), die ökonomischen Aktivitäten der führenden Kraft" betreffen dürften, worunter er die Beseitigung der kapitalistischen Gesellschaft und die Herstellung einer sozialistischen Ordnung verstand.(1) Gramsci verband den Kampf für den Sozialismus mit der Verteidigung bzw. der Eroberung der Demokratie. Seine Konzeption wurde Bestandteil der "Thesen von Lyon", die der Parteitag 1926 als Parteiprogramm beschloss, und Gramsci wurde an Stelle Bordigas zum Generalsekretär gewählt.

Gramsci lehnte die auf dem VI. KI-Kongress aufgestellte Sozialfaschismusthese ab, was dazu führte, dass die IKP die Sozialdemokratie als Teil der Arbeiterbewegung anerkannte. Ohne diese Haltung wäre es der Partei nicht möglich gewesen, die ISP 1934 für ein Aktionseinheitsabkommen zu gewinnen, das im Juli 1937 mit einem antiimperialistischen Bekenntnis vertieft wurde.(2)

Für die Verwirklichung der Konzeption Gramscis reiften in den 30er Jahren die Bedingungen heran, die im Juli 1943 zum Sturz Mussolinis führten. Erst jetzt wurde eigentlich deutlich, welch überragende Bedeutung die theoretische Leistung Gramsci darstellte.

Unter Bruch seiner Immunität als Abgeordneter wurde Gramsci 1926 verhaftet und im Juni 1928 zu 20 Jahren Kerker verurteilt. Im Gefängnis erarbeitete er ein ungeheueres Pensum an theoretischen Erkenntnissen, orientiert auf den praktischen revolutionären Kampf. Gramsci, der einen Buckel hatte und von zwergenhafter Gestalt war, litt von früher Kindheit an unter einer schwachen Gesundheit. Im Gefängnis an Tuberkulose erkrankt, kämpfte er gegen diese Schwäche an und lieferte einen Beweis seiner enormen Energie und Willenskraft.

Während seiner Arbeit in der Komintern hatte Gramsci in Moskau seine spätere Frau Julja Schucht kennen gelernt, mit der er zwei Söhne - Delio und Giuliano - hatte. Seine Frau blieb nach seiner Rückkehr nach Italien mit den Kindern in Moskau. Delio hat er nie gesehen. Es ist menschlich tief ergreifend, die einfühlsamen Briefe an seine Söhne zu lesen, die er ihnen bis kurz vor seinem Tod schrieb.(3)

Anfang April 1937 wurde der bereits vom Tod gezeichnete Gramsci im Ergebnis einer internationalen Protestbewegung (Teilnehmer Romain Rolland und Henri Barbusse) aus dem Gefängnis entlassen.


Fußnoten:
(1)‍ ‍Gramsci. Gefängnishefte, Turin 1975, S. 1551.
(2)‍ ‍Togliatti, Il Partito Comunista Italiano, Rom 1961, S. 81.
(3)‍ ‍Nachzulesen in Gramsci: Gedanken zur Kultur, Leipzig 1987, S. 115 ff.

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Quelle:
© 2012 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. April 2012