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MEMORIAL/172: Februarrevolution in Russland gab Signal zum Turiner Aufstand gegen Hunger und Krieg (Gerhard Feldbauer)


Die Februarrevolution in Russland gab das Signal zum Turiner Aufstand gegen Hunger und Krieg

Er wurde zum Vorspiel der revolutionären Nachkriegskämpfe

von Gerhard Feldbauer, 20. August 2017


Als am 16. Februar 1917 in Turin die Nachricht von der russischen Februarrevolution eintraf, nahmen die im Gange befindlichen Lohnkämpfe rasch politische Dimensionen an. Auf einer Streikversammlung brachen die Arbeiter spontan in den Ruf aus: "Fare come in Russia!" (Machen wir es wie in Russland). Es gelang den Reformisten zunächst, radikale Aktionen der Antikriegsbewegung zu verhindern. Am 22. August gingen die Demonstrationen gegen die Hungersnot dann in den Generalstreik und einen Aufstand für die Beendigung des Krieges über. Fünf Tage kämpften die Arbeiter in den Vororten auf den Barrikaden gegen die Übermacht des mit Panzern und Artillerie einrückenden Militärs, welche die isolierte Erhebung im Blut erstickten und zirka 500 Arbeiter umbrachten. Der Turiner ISP-Vorstand, der sich untätig verhalten hatte, wurde von den Arbeitern zum Rücktritt gezwungen. An die Spitze der neu gewählten Turiner Führung trat Antonio Gramsci, der zu den Organisatoren der Arbeiterrevolte gehört hatte.

Die italienischen Sozialisten hatten mit ihrer Ablehnung der Kriegskredite als einzige westeuropäische Sektion der II. Internationale dieser eine Abfuhr erteilt und Antikriegspositionen bezogen, die sie, von einzelnen reformistischen Abweichungen abgesehen, insgesamt bis zum Ende des Krieges beibehielten. Ihre Haltung bildete, wie Lenin schrieb, "eine Ausnahme für die Epoche der II. Internationale." Ohne den Ausschluss der Reformisten 1912 wäre diese Antikriegshaltung kaum zustande gekommen. Machtvolle antimilitaristische Arbeiteraktionen wenige Wochen vor Ausbruch des Krieges im Juni 1914 hatten die Position der ISP gestärkt. Während der Massenkämpfe riefen der ISP-Vorstand und die Gewerkschaft CGdL zum Generalstreik auf. In Rom, Turin, Mailand, Genua, Florenz und Ancona kam es zu bewaffneten Erhebungen der Arbeiter und zu Barrikadenkämpfen. In den Regionen der Romagna und den Marken riefen die Aufständischen die Republik aus. Bei der Niederschlagung der Aufstände durch über 100.000 Soldaten gab es zahlreiche Tote und Verletzte.

Ein weiterer wichtiger Schritt war im Mai 1915 von den "internationalistischen Sozialisten in Italien" die von Lenin hoch gewürdigte Initiative zur Einberufung einer Konferenz aller Parteien, Arbeiterorganisationen und Gruppen, "die an den alten Grundsätzen der Internationale festhielten". Das Ergebnis waren die Tagungen in Zimmerwald (5. bis 8. September 1915) und in Kienthal (24. bis 30. April 1916). Obwohl in Zimmerwald die Mehrheit aus "schwankenden Beinahe-Kautzkyanern" bestand, beflügelte die Tagung die europäische Antikriegsbewegung. Die von Lenin formierte revolutionäre Linke grenzte sich offen und entschieden von den Opportunisten ab. Der Zusammenschluss der revolutionären Marxisten war für Lenin "eine der wichtigsten Tatsachen und einer der größten Erfolge der Konferenz" (Lenin-Werke, Berlin/DDR, Bd. 21, S. 369, 396).

Während sich die reichen Oberschichten am Krieg mästeten, hatte dieser die Massen des Volkes, besonders die arbeitenden Schichten in tiefstes Elend gestoßen. 1918 wiesen die Statistiken ein Anwachsen der Lebenshaltungskosten auf 264,1 Prozent aus. Die Reallöhne sanken in der gleichen Zeit in der Industrie auf 64,6 Prozent. Und das bei einer Ausdehnung der täglichen Arbeitszeit auf bis zu 16 Stunden. Die Getreideernte lag 1917 20 bis 25 Prozent unter der des Vorjahres.

Der Preis des italienischen Sieges waren 680.000 Tote, zirka eine Million Verwundete, eine halbe Million Invaliden und Kriegskosten von 148 Milliarden Lire, welche dem Volk aufgebürdet wurden. Die Kriegsfolgen und die heraufziehende Wirtschaftskrise mit maßlosen Teuerungen und mehr als einer halben Million Arbeitslosen ließen die Arbeiterkämpfe weiter anwachsen. 1919 gab es in der Industrie 1.663 Streiks, in der Landwirtschaft 208 mit insgesamt 22,5 Millionen Arbeitstagen. 1920 wuchsen die Arbeitsniederlegungen in der Industrie auf 1.881, in der Landwirtschaft betrugen sie 189, die Streiktage stiegen auf 30 Millionen an. Die Mitgliederzahl der ISP wuchs 1919 auf 300.000 an. Im März 1919 errangen die Gewerkschaften die allgemeine Anerkennung des Achtstundenarbeitstages. Die Mitgliederzahl der CGL stieg von 1.159.062 (1919) auf 2.200.100 (1920).

Dagegen wuchsen die Profite der Rüstungsindustrie ins Unermessliche. Bei Ansaldo stieg der Eigenkapitalanteil von 1914 bis 1918 von 30 Millionen Lire auf 500 Millionen. Zusätzlich zu den Werften kaufte das Unternehmen Eisenerzbergwerke und baute eisenverarbeitende Fabriken. Während des Krieges produzierte der Rüstungsgigant 95 Kriegsschiffe, 3.800 Flugzeuge, 10.900 Kanonen und 10 Millionen Artilleriegeschosse. Die Zahl der Arbeitskräfte stieg von 4.000 auf 56.000.

Wesentliche Grundlage der revolutionären Nachkriegskämpfe 1919/20 war, dass sich in der Sozialistischen Partei der reformistische Flügel noch nicht als ein die Partei beherrschender hatte durchsetzen können. Die ISP-Führung begrüßte mehrheitlich die russische Oktoberrevolution und beschloss, der Kommunistischen Internationale beizutreten.

1920 stiegen die revolutionären Arbeiteraktionen sprunghaft an. Millionen streikten nicht mehr nur, um ihre materielle Lage zu verbessern, sondern für den Sturz der Ausbeuterordnung. Im August/September 1920 besetzten die Arbeiter alle großen Betriebe in Norditalien, wählten Fabrikräte, übernahmen die Leitung der Produktion (die sie trotz Sabotage des größten Teils des technischen Personals durchweg zu 70 Prozent aufrechterhielten) und bildeten bewaffnete Rote Garden zur Verteidigung der Unternehmen. Im Süden nahm die Inbesitznahme von Ländereien der Latifundistas teilweise Massencharakter an. Die Regierung musste durch Dekret das Vorgehen der Bauern legalisieren.

Eine der großen Kampfaktionen war die Teilnahme der italienischen Arbeiter an dem internationalen Proteststreik gegen die ausländische imperialistische Intervention in Sowjetrussland und Räteungarn am 20. und 21. Juli 1919. Der Streik zeigte eine derartige Wirkung, dass die italienische Regierung auf die geplante Entsendung eines 100.000 Mann zählenden Heeres in die erdölreiche Region Georgien verzichten musste. Außerdem zog sie die in Sibirien und im Fernen Osten stehenden italienischen Interventionstruppen ab.

Als die ISP im November 1919 jedoch bei den Parlamentswahlen mit 32 Prozent den ersten Platz belegte, stellten die Reformisten und Zentristen die Mehrheit. Die These vom "friedlichen Hineinwachsen in den Sozialismus" erhielt nunmehr auch in der ISP Auftrieb. Zumal Die großbürgerliche Rechtspartei der Liberalen, die mit den Demokraten auf einer Liste antrat, nur 179 Mandate erhielt und ihre Mehrheit verlor. Es war die Quittung für ihre Kriegspolitik. Die Reformisten traten nun offen für einen Kompromiss mit dem Kapital ein. Die Arbeiterkontrolle der Fabrikräte definierten sie als "konstruktive Zusammenarbeit" mit den Unternehmern und wandten sich gegen "revolutionäre Aktionen". Unter ihrem Einfluss schlossen die Gewerkschaften das, was man heute einen Sozialpakt nennt, der dazu führte, dass die Fabrikräte sich auflösten oder mit Hilfe der Polizei zerschlagen wurden

Gegen eine drohende Machtergreifung durch die revolutionären Linken entfesselten die von Mussolini geschaffenen faschistischen Kampfbünde (Fasci di Combattimento) einen barbarischen Terror. Allein im ersten Halbjahr 1921 zerstörten sie nach unvollständigen Angaben: 726 proletarische Einrichtungen, 59 Volksheime, 119 Gewerkschaftszentralen, 107 Genossenschaften, 83 Bauernligen, 141 Sektionen und Lokale der Sozialisten und Kommunisten, 100 Kulturheime, 28 Arbeitergewerkschaften, 53 Arbeiter- und Erholungsheime.

Diesen blutigen Terror tarnte der frühere Sozialist Mussolini mit ultra-revolutionären Phrasen. Die Faschisten führten eigene Fabrikbesetzungen durch, übernahmen die Losung der Bildung von Fabrikräten, verlangten die teilweise "Enteignung allen Reichtums", die "Nationalisierung aller Rüstungsbetriebe". Mit der Forderung nach Arbeitsplätzen gewannen sie Zehntausende Arbeitslose.

Im November 1921 formierte Mussolini aus seinen Kampfbünden den Partito Nazionale Fascista (PNF). Von etwa 30.000 Anhängern wuchs die Bewegung binnen eines Jahres auf rund 320.000 Mitglieder an, die in 2.200 Fasci organisiert waren. Die Squadre di Azione (Sturmabteilungen), eine weitere Formation bewaffneter Banden, wurden in den PNF eingegliedert, alle Parteimitglieder verpflichtet, ihnen beizutreten. Mussolini nannte sich von nun "Duce del Fascismo".

L'Ordine Nuovo berichtete am 23. Juli 1921, dass 1920 2.500 Italiener (Männer, Frauen, Kinder und Greise) von den Faschisten und öffentlichen Sicherheitskräften getötet wurden, im ersten Halbjahr 1921 es ungefähr 1.500 Menschen waren, 20.000 Bewohner der Städte ausgewiesen oder gezwungen wurden zu fliehen. In der Emilia, der Romagna, der Toskana, in Umbrien, dem Veneto die Sturmabteilungen 15 Millionen Menschen terrorisierten, die Behörden dem blutigen Treiben tatenlos zusahen.

Nach dem Marsch auf Rom 22. Oktober 1922 beauftragte König Vittorio Emanuele auf Geheiß führender Kapitalkreise und Großagrarier mit Billigung des Vatikans den "Duce del Fascismo" mit der Regierungsbildung. Am nächsten Tag legitimierten Nationalisten, Liberale und die katholische Volkspartei mit ihrem Eintritt in die Regierung den Putsch Mussolinis. Die Sozialisten lehnten ab.

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Quelle:
© 2017 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. August 2017

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