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MEMORIAL/237: Die Konterrevolution in der DDR trieb unzählige Menschen in den Tod (Gerhard Feldbauer)


Die Toten der "friedlichen Revolution" in der DDR

Die Konterrevolution trieb Unzählige in den Tod

von Gerhard Feldbauer, 30. Januar 2022



Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0709-333 / Schöps, Elke / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en], via Wikimedia Commons

Gerhard Riege, Volkskammer- und späterer Bundestagsabgeordneter (PDS), verstorben durch Suizid am 15.02.1992 (Aufnahme vom 9. Juli 1990)
Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0709-333 / Schöps, Elke / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en], via Wikimedia Commons

Entgegen den verbreiteten Lügen, beim Anschluss der DDR an die BRD als "friedlicher Revolution" habe es keine Toten gegeben, sieht die Realität anders aus. Unzählige trieb die Konterrevolution in den Tod. Daran erinnert im Februar der 20. Jahrestag des Todes dreier dieser Opfer: Am 13. des Monats der Vorsitzende Richter Otto Fuchs und seine Frau Martha, und am 15. der Professor Gerhard Riege von der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Im Januar 1992 besetzten in den frühen Morgenstunden Polizisten die Wohnung des Ehepaares Fuchs in der Grunaer Straße 12 in Dresden und verhafteten Otto Fuchs. Seine Frau Martha, eine Jüdin, die KZ-Häftling gewesen war, erlitt einen schweren Nervenzusammenbruch. Die furchtbaren Erlebnisse der Nazizeit wurden lebendig. Sie glaubte, Faschisten drängen - wie nach 1933 - wieder an die Macht. Mit einem schweren Schock wurde sie ins Krankenhaus eingeliefert. Die Leipziger Staatsanwaltschaft erhob gegen Otto Fuchs Anklage wegen Rechtsbeugung und Mord. Er war 1950 in den Waldheim-Prozessen gegen Kriegsverbrecher und aktive Faschisten Vorsitzender Richter gewesen. Man warf ihm vor, er habe Unschuldige zum Tode verurteilt. Mit Hilfe seines Anwalts kam er für kurze Zeit aus der Untersuchungshaft frei. Um den Richtern nicht die hämische Genugtuung an "seiner langsamen und qualvollen prozessualen Hinrichtung" zu ermöglichen, beschlossen er und seine Frau, aus dem Leben zu scheiden.

Die deutsche Zeitschrift "Icarus" der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde (GBM) veröffentlichte in Heft 3 und 4/2006 einen Abschiedsbrief, in dem Otto Fuchs schrieb: "Meine Frau würde eine Trennung von mir nicht überstehen. Ich versichere Ihnen, dass wir in meiner Strafkammer nur Kriegsverbrecher verurteilt haben und ich bin mir sicher, dass wir uns über kein Urteil schämen müssen. Alle Zeichen deuten aber darauf hin, alles ins Gegenteil zu verkehren und in einem Schauprozess mich zum Verbrecher zu stempeln. (...) Heute, nach einer langen Periode der Naziverbrechen, fühlen sich doch alle - und sind sie auch noch so schwer belastet - als völlig unschuldige Menschen. Die Verdrängung ging und geht ja so weit, dass Auschwitz als Lüge hingestellt wird."

Am 13. Februar 1992 um 23.15 Uhr sprangen Otto und Martha Fuchs vom Balkon ihrer Wohnung aus dem siebten Stock in den Tod. Im Prozess gegen den mit angeklagten 87jährigen Otto Jürgens musste das Tribunal die Mordanklage fallen lassen. Schließlich wurde ein reines Gesinnungsurteil verhängt und der Angeklagte zu zwei Jahren Haft auf Bewährung, 6.000 DM Geldstrafe und zur Übernahme der Verfahrenskosten verurteilt. In seinem Schlusswort sagte Otto Jürgens, der bereits 1933 von der Gestapo verhaftet und gefoltert worden war: "Die Naziverbrecher, die in Waldheim abgeurteilt wurden, hatten ihre Strafe mehr als verdient."

Dem Jenenser Prof. Gerhard Riege schlug als Mitglied des Bundestages in dem "hohen Haus" blanker antikommunistischer Hass entgegen, schrieb sein Kollege, Prof. Manfred Weißbecker, in dem erwähnten Artikel. Darin äußerte sich ein "Ungeist, der noch Schlimmeres als Keim in sich trägt", urteilte Gerhard Haney, ebenfalls einer der Kollegen Rieges. "Sie werden den Sieg über uns voll auskosten. Nur die vollständige Hinrichtung ihres Gegners gestattet es ihnen, die Geschichte umzuschreiben und von allen braunen und schwarzen Flecken zu reinigen", schrieb Prof. Riege in seinem Abschiedsbrief.

Die Verlierer der Geschichte wurden nicht, wie der damalige Justizminister der BRD, Kinkel, am 23. September 1991 auf dem 15. Deutschen Richtertag erklärte, in Lager gesperrt, sondern ins soziale Abseits gedrängt. Mit der ungeheuerlichen Diffamierung, die DDR sei "in weiten Bereichen genauso unmenschlich und schrecklich wie das faschistische Deutschland gewesen", bereitete er den Boden für eine unsägliche Lügen- und Hetzkampagne gegen ihre Bürger. In deren Ergebnis wurden Unzählige mit Berufsverbot belegt, ihre Menschenwürde mit Füßen getreten, Tausende von Gericht gezerrt und verurteilt. Über die Zahl derer, die dem nicht standhielten, denen die Kraft fehlte zu widerstehen, die Hand an sich selbst legten, liegen keine Angaben vor.

Der erwähnten "Icarus"-Studie war zu entnehmen, dass die Zahl dieser Toten in die Zehntausende geht, wenn sie nicht gar, wie intern angenommen wird, die Einhunderttausend erreichte. Laut der französischen Nachrichtenagentur "AFP" töteten sich bereits im Jahr nach der Einverleibung der DDR in Ostdeutschland 4.294 Menschen selbst. Die Opfer waren Arbeiter und Genossenchaftsbauern, Lehrer, Ingenieure und Journalisten, Ärzte, Künstler und Wissenschaftler, von den Massenentlassungen Betroffene, obdachlos Gewordene, Kinder, die die Demütigungen ihrer Eltern nicht ertrugen. Der Suizidexperte Udo Grashoff berichtete, dass von 1989 bis 1991 die Selbstmordrate in den neuen Bundesländern um rund zehn Prozent anstieg. Wie viele von den über 11.000 Menschen, die in der Bundesrepublik jährlich Selbstmord begehen, Opfer der "Wende" waren, ist nicht bekannt.

Zu den Opfern gehörten: der Grafiker Thomas Schleusing vom Jugendmagazin "Neues Leben", sein Kollege, der sensible Zeichner und Gestalter Christoph Ehbets, bekannt u. a. durch seine Cover beim VEB Deutsche Schallplatte. Der Vizepräsident des DTSB Franz Rydz, der Minister für Bauwesen der DDR Wolfgang Junker, der Raubtierdresseur Hanno Coldam (Heinz Matloch) der international bekannten Löwen-Gruppe des VEB Zirkus Aeros, der hervorragende Neurowissenschaftler der DDR Prof. Armin Ermisch, nach dem ein internationaler Preis für herausragende Nachwuchswissenschaftler benannt ist. Der weltberühmte Schauspieler Wolf Kaiser, der sich seine Menschenwürde nicht nehmen ließ und dafür in den Tod ging. Als einen "ungekrönten Monarchen der Schauspielzunft" würdigte ihn Eberhard Esche in seiner Grabrede.


Foto: Werner Bethsold CC-BY-SA-4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons

Der Schauspieler Wolf Kaiser im Hörspielstudio (Aufnahme des Berliner Fotografen Werner Bethsold)
Foto: Werner Bethsold CC-BY-SA-4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons

Nicht nur SED-Mitglieder waren unter den Opfern. Unter ihnen befanden sich die Jugendbildungsreferentin der Evangelischen Akademie Meißen Anne-Kathrin Krusche, der frühere Abgeordnete der sächsischen CDU Herbert Schicke und der Arbeitsmediziner und Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Lichtenberg Dr. Rudolf Mucke, der weder der SED noch der FDJ angehört hatte. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) hatte 1976 Anwerbungsversuche wegen "dekonspirativen Verhaltens" aufgegeben. Die "Ehrenkommission" der Berliner Charité hielt seine Weiterbeschäftigung dennoch für "unzumutbar". Dem Hochschullehrer Hans Schmidt, dessen hohes theoretisches und international anerkanntes Wissen die Wirtschaftsuniversität Wien würdigte, wurde - wie unzähligen anderen DDR-Wissenschaftlern - "wegen mangelnden Bedarfs und mangelnder fachlicher Qualifikation" gekündigt. Nach einem vierjährigen zermürbenden und entwürdigenden Rechtsstreit um seinen Arbeitsplatz, der für den Schwerbehinderten nicht ohne gesundheitliche Folgen blieb, nahm sich Dr. Schmidt am 8. Mai 1996 durch einen Sprung aus dem 13. Stockwerk seiner Hochhauswohnung das Leben.

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Quelle:
© 2022 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 12. Februar 2022

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