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NEUZEIT/140: Ein Mythos weniger - 90 Jahre Oktoberrevolution (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2007

Ein Mythos weniger: 90 Jahre Oktoberrevolution

Von Jutta Scherrer


Russlands Größe und nationales Selbstbewusstsein orientierten sich eher am Imperium des Zaren und - nach dem Willen Putins - am Zweiten Weltkrieg statt an der glorreichen Oktoberrevolution vor 90 Jahren. Sie scheint nur noch Nostalgiker zu interessieren. Jutta Scherrer untersucht den Mythenverfall dieses "heroischen Ereignisses".


Vor 90 Jahren markierte die Oktoberrevolution einen nicht wieder umkehrbaren "Wendepunkt der Geschichte Russlands", wie Alexander Kerenskij ein halbes Jahrhundert später seine Memoiren überschrieb. Was Lenin selbst noch als "bewaffneten Aufstand" bezeichnet hatte, wurde als "Große Sozialistische Oktoberrevolution" zum Gründungsmythos der Sowjetunion. Als "Lenins Revolution" hatte sie auch in das Geschichtsbewusstsein der nach 1945 von der Sowjetunion beherrschten ost- und mittelosteuropäischen Volksdemokratien einzugehen. Doch selbst in westlichen politischen Kulturen wie Frankreich und Italien, die lange Zeit von starken kommunistischen Parteien beeinflusst waren, spielte das Vermächtnis des "Roten Oktober" eine Rolle. China, südostasische und afrikanische Länder sowie Kuba sahen in der russischen Revolution den Wegweiser für eine neue Weltordnung und versuchten, das sowjetische Modell umzusetzen.

"Sie war die Grenze zweier Welten - der im Schmutz untergehenden bürgerlichen und der in Schmerzen entstehenden proletarischen", schrieb Karl Radek 1926 in seinem Vorwort zu Larissa Reissners 'Oktober'. Sie war das "gesetzmäßige" Resultat des historischen Fortschritts, der "objektive" Prozess, der die "wissenschaftliche" Prognose von Karl Marx verwirkliche, lautete die offizielle sowjetische Lesart. Sie eröffnete nicht nur eine neue Epoche für die Völker Russlands, sondern eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte überhaupt. Ihr Ziel war nichts weniger als die Weltrevolution.

Doch auch von konservativen Positionen aus wurde der Oktober als eine der großen Revolutionen der Weltgeschichte verstanden, nicht zuletzt wegen der Bipolarität der Welt, die sich seit 1917 (und nicht erst seit 1945) abzeichnete. François Furet ironisiert den "unwiderstehlichen Charme" des Sieges einer historischen Aktionsform, in der die Linke ihre Vorfahren und die Rechte ihre Feinde erkannte.


Verfälschende Mythen

Kaum ein historisches Ereignis wurde gründlicher durch Mythen verfälscht als dieses. In der Tat wurde der in der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober 1917 von den Bolschewiki durchgeführte militärische Staatsstreich von der Mehrheit der Einwohner Petrograds gar nicht wahrgenommen. Theater, Restaurants und Straßenbahnen funktionierten in der Hauptstadt wie gewöhnlich. Die weit verbreiteten Bilder vom heroischen Kampf der Massen, dem Tod ihrer Helden und dem Ruhm ihrer Führer entstammen daher eher Eisensteins monumentalem Propagandafilm 'Oktober', der den zehnten Jahrestag der Revolution glorifizierte, als den historischen Tatsachen. Noch viele Jahre später wurden Eisensteins scheinbar dokumentarische Szenen als authentische Fotografien der Revolution reproduziert.

Es brauchte nahezu ein Jahrzehnt, um den Oktober in der kollektiven Erinnerung zu verankern und als revolutionäres Bewusstsein zu institutionalisieren. Partei und Staat stellten hierfür gewaltige Mittel zur Verfügung. Wobei Konstruktion und Institutionalisation des Oktober Hand in Hand mit der Narration von Russlands vorrevolutionärer Bewegung und ihres Agenten, der bolschewistischen Partei, liefen. Der in langen Jahren erbaute Tempel der Revolution wurde zum emotionalen Reservoir für den Glauben an den neuen Menschen und die neue Zeit. Der Schlusschor, der in Schostakowitschs Zweiter Symphonie eine Hymne auf den "Oktober und Lenin" als "Parole der neuen Zeit" intoniert, war nur eines unter vielen bemerkenswerten Beispielen dafür, wie die künstlerische Avantgarde damals noch freiwillig dem "Zeitgeist" huldigte.

Was ist im heutigen Russland von diesem Mythos übriggeblieben? Was hat die viel beschworene kollektive Erinnerung von diesem "größten Ereignis der Weltgeschichte" bewahrt, das Generationen von Russen verinnerlichen mussten? Wie gehen sie damit um, dass in Moskau, Petersburg und in allen Städten der Provinz noch immer die imposanten, anscheinend für alle Ewigkeiten errichteten Lenindenkmäler an den Führer der Revolution erinnern? Dass Namen von Plätzen und Straßen wie "Platz der Revolution", "Platz des Iljitsch", "Leninallee" oder Metrostationen wie "Proletarskaja", "Komsomolskaja", "Marxistskaja" noch immer die Revolution evozieren?

In Kreisen der Intelligencija wird gern betont, dass seit Breschnew niemand den Mythos des Roten Oktobers ernst nahm. Der nationale Feiertag wurde zum Familienfest. An die obligatorischen Aufmärsche, die Versammlungen in den Betrieben und Instituten erinnert sich niemand mehr. Doch wie mir vor einigen Wochen ein Taxichauffeur in Petersburg auf die Frage, was 1917 für ihn heute bedeute, antwortete: Die Revolution ist nach wie vor in jeder Familie, im Schicksal jeder Familie präsent. Die Toten des Gulag sind weitaus schlimmer als die Toten des Zweiten Weltkriegs - denn diese verteidigten die Heimat und wussten, wofür sie starben.

Noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, zur Zeit der Perestrojka, wurde die bolschewistische Machtergreifung zum "Oktoberumsturz", "Putsch", "Coup d'état", "bewaffnetem Aufstand", ja sogar zur "bolschewistischen Verschwörung" abgewertet. Die Initiative hierzu war allerdings nicht von Fachhistorikern, sondern von der "historischen Publizistik" ausgegangen. Diese nahm die Politik der Glasnost beim Wort und begann noch vor der Verkündigung der Pressefreiheit mit der Dekonstruktion der Mythen, welche die Sowjetideologie zusammengehalten hatten. Innerhalb weniger Jahre wuchs sich die Kritik an Stalin und am Stalinismus zur Gesamtverurteilung des "Realsozialismus" und seiner Geschichte bis hin zu Lenin und der Oktoberrevolution (ja bis zu Marx selbst) aus. Um den Mythos zu zerstören, brauchte es unvergleichlich viel weniger Zeit als ihn aufzubauen. Freilich kam die Entmythologisierung, wie sie die führenden Organe der Partei betrieben, einer Art von Enthüllungsjournalismus gleich, dessen Hang zum Sensationellen einer Aufarbeitung der Vergangenheit häufig im Wege stand.


Der 7. November als arbeitsfreier Tag

Gorbatschow selbst hielt 1987 in seiner Festrede zum siebzigsten Jahrestag der Revolution an zahlreichen alten Leitbildern fest - als ob es genüge, das Erbe Lenins von demjenigen Stalins zu trennen, um den Oktober in aller Reinheit wiederherzustellen. Den eigenen Appell, die "weißen Flecken" der Geschichte aufzufüllen, hatte er in seiner Funktion als Generalsekretär der Partei wohl vergessen müssen. Dagegen stellte er die Perestrojka hier und bei anderen Anlässen als "Revolution" dar, die durch evolutionäre Mittel erreicht werden sollte - was damals für seine orthodoxen Gegner einer Gegenrevolution gleichkam.

Mit dem Ende der Sowjetunion war auch das "Land der Oktoberrevolution" zugrundegegangen. Doch nach wie vor blieb der 7. November ein nationaler, arbeitsfreier Feiertag. Jelzin hatte ihn zwar zum "Tag der Eintracht und Versöhnung" umgetauft, doch mit der Umetikettierung konnte niemand etwas verbinden. Auch blieb der Revolutionsführer und Stifter des Sowjetstaats weiterhin im Mausoleum ausgestellt. Allerdings wurde die Ehrengarde abgezogen und die Novemberparaden fanden nicht mehr statt.

Putin schaffte den Revolutionsfeiertag endgültig ab. Da das Volk jedoch über Jahrzehnte an den arbeitsfreien Tag im November gewöhnt war, hielt er nach einem Ersatzfeiertag zur selben Jahreszeit Ausschau. Seit dem 4. November 2005 wird nun für den neuen nationalen Feiertag ein Ereignis beschworen, an das sich bei seiner Einführung laut Umfragen acht Prozent aller Russen erinnern konnten: Moskaus Befreiung von den katholischen Polen, die 1612 den Kreml besetzt hielten.

Hiermit, so weiß es das Geschichtsverständnis des Präsidenten, hatte die jahrzehntelange dynastische, soziale und nationale Krise ein Ende genommen - in der russischen Geschichte als Zeit der "Wirren" ('smuta') bekannt -, und die Wiedergeburt des starken russischen Zentralstaats konnte beginnen. Die Analogie zu Putins eigenem Bestreben, nach dem sozialen Chaos der letzten Jahre Jelzins die Staatsautorität neu zu begründen, war eindeutig.

Wie Putins Umordnung der nationalen Erinnerungsorte die russische Öffentlichkeit nicht weiter bewegt, ist der Oktobertempel ziemlich sang- und klanglos neuen-alten Mythen gewichen. Seit den neunziger Jahren erfahren Zar Nikolaj II. und führende Staatsmänner des ancien régime wie Witte und Stolypin eine zunehmende Wertschätzung. Je stärker die Helden der Revolution diskreditiert wurden, umso heller erstrahlte der Stern der von Lenin besonders geschmähten Stolypinschen Agrarreformen. Es ist eine Ironie der Geschichte: Lenin scheint seinen Platz für den letzten (unfähigen) Zaren räumen zu müssen.

Vom 90. Jahrestag der Revolution war bisher, mit Ausnahme von Verlautbarungen der Kommunistischen Partei, so gut wie keine Rede. Die Medien erinnerten in diesem Sommer viel öfter an die Ermordung des letzten Zaren und seiner Familie (im Juli 1918) als an den Grund hierfür. Ein überdimensionales Relief der Zarenfamilie und eine Skulptur Nikolajs II. wurden soeben von dem in Moskau überall präsenten Bildhauer Zurab Zereteli angefertigt. Die IZVESTIJA widmete eine ganze Seite den lange gesuchten und jetzt offenbar aufgefundenen Überreste des Zarensohns und einer seiner Töchter. 1998 waren die Überreste des Zaren, seiner Gemahlin sowie einiger ihrer Kinder in der kaiserlichen Gruft der Romanovs in der Petersburger Peter-und-Pauls-Festung in Anwesenheit Jelzins offiziell beigesetzt worden. Die Ermordung des Zaren veranlasste die russisch-orthodoxe Kirche, ihn 2000 als Märtyrer zu kanonisieren.

Gegenüber der publizistischen Diskussion, die seit der Perestrojka die Revolution fast durchweg als Katastrophe und Tragödie bewertet, hinkte die historische Fachdiskussion anfänglich stark nach - war doch die Historiografie wie keine andere Disziplin an das offizielle Dogma gebunden und die Ablösung von der doktrinären Bindung an die Klasse des Proletariats ein zähflüssiger Prozess. Zunächst verschwanden aus dem mythischen Wortgebilde "Große Sozialistische Oktoberrevolution" die Adjektive "groß" und "sozialistisch", um dann in den neunziger Jahren ein breites Interpretationsspektrum aufzutun, das erstmals die durchaus nicht einheitliche Historiografie des westlichen Auslands einbezog. Konservative Darstellungen der Revolution wurden durch russische Historiker der Emigration bekannt. Die Archivrevolution tat das ihre, um die Fixierung auf das Proletariat als ausschlaggebenden Faktor der Revolution zu sprengen. In theoretischer Hinsicht wich die klassenmäßige Formationsanalyse der sogenannten Zivilisationsanalyse: Die Besonderheit der russischen (im Unterschied zur westlichen) Zivilisation und des russischen Sozialcharakters wurde besonders von jüngeren Historikern hervorgehoben. Soziokulturelle Phänomene, Geschichtsmythen, Symbolik und Sprache der Revolution und die durch die politische Kultur der Revolution geschaffene Sinnstiftung werden untersucht und hinterfragt. Trotzkijs zentrale Bedeutung für den Verlauf der Revolution und die Konsolidierung der bolschewistischen Herrschaft wird endlich anerkannt. Menschewiki, Sozialrevolutionäre und Konstitutionelle Demokraten kehren zurück. Wichtig wird die Konstituante. Der Bürgerkrieg und die Rolle der "weißen" Generäle und Offiziere erfährt eine neue Beleuchtung. Bauernaufständen und ihren Anführern wird Aufmerksamkeit geschenkt. Eine Zeitlang wird nach Alternativen zur Oktoberrevolution gefragt: War das ancien régime wirklich zum Untergang verdammt? In diesem Zusammenhang erscheint die Februarrevolution, die den Weg zur Demokratie eröffnete, nicht mehr wie zu sowjetischen Zeiten als Prolog, sondern als Antipode der Oktoberrevolution. Aleksander Jakovlev schreibt in seiner Autobiografie von der "Konterrevolution des Oktober". Für den Initiator der Glasnost und engsten Mitarbeiter Gorbatschows boten die Jahre 1985-1991 die Chance "der Rückkehr zur Ideologie der demokratischen Republik des Februar".

Historische Publizistik und historische Wissenschaft beeinflussen sich bis heute gegenseitig. Beide antworten auf die soziale Nachfrage. Ein wahrer Hunger nach Geschichte kennzeichnete die russische Gesellschaft der Perestrojka und der neunziger Jahre; und bis heute strotzen die russischen Buchläden von historischer Literatur. Wobei der Dilettantismus unverkennbar ist. So lässt sich im Hinblick auf 1917 die These von der Verschwörung einer Minderheit, einem Häuflein von Abenteurern, das die Revolution anführte, nur allzu gut verkaufen. Neben Juden und Freimaurern werden in erster Linie deutsche Agenten für die Revolution verantwortlich gemacht. Vor allem aber geistert das "deutsche Geld", mit dem nicht nur Lenins Rückkehr nach Russland, sondern die ganze bolschewistische Revolution finanziert und der Frieden von Brest-Litowsk erkauft wurden, durch viele Darstellungen. So wie nicht nur die Nationalpatrioten im Marxismus und Kommunismus einen Import aus dem Westen sehen und daraus folgern, dass das wahre Russland mit den Verbrechen, die seit der Tragödie der Revolution über das Land gekommen waren, nichts zu tun hatte. Die Revolution selbst sei eine westliche Idee gewesen.


Sozialismus und Marxismus sind keine Themen mehr

Auch Solschenizyns Revolutionsbild, das er in seinem Romanzyklus 'Das Rote Rad' (besonders im dritten Band über den "März 1917") schildert, beeindruckte die Öffentlichkeit. In diesem Frühjahr lenkte er mit einem größeren Artikel über die Februarrevolution erneut die Aufmerksamkeit auf sich. Es handelte sich um unverarbeitete Materialien, die den bekannten Ansichten des Schriftstellers allerdings kaum etwas Neues hinzufügten: das Versagen des Zaren und seiner Umgebung im Februar 1917 und die Verantwortung der provisorischen Regierung für Lenins Sieg.

Widmeten in diesem Jahr einige spezialisierte Zeitschriften der Februarrevolution ihre Aufmerksamkeit, die nicht selten den letzten Zaren rehabilitierten, so fanden bisher keine größeren öffentlichen Diskussionen über die Oktoberrevolution statt, abgesehen von Aufrufen einiger nostalgischer Intellektueller, dem russischen Volk die Errungenschaften des Oktober zurückzugeben. Auch auf russischen Websites sucht man nach dem Jahrestag der Revolution vergebens. Dagegen spekulieren diese über Lenins Überführung aus dem Mausoleum auf einen Moskauer Friedhof im Januar 2008 (seinem Todestag).

Bei Besuchen in Moskauer oder Petersburger Buchhandlungen fallen nur wenige Werke zur Revolution auf. Eine Neuausgabe des 'Kommunistischen Manifests' mit einem ausführlichen Anmerkungsapparat ist dem Gedenken an den 90. Jahrestag gewidmet. Kerenskijs Buch über die russische Revolution liegt seit 2005, die Übersetzung der dreibändigen Darstellung der Revolution von Richard Pipes bereits seit längerem vor. Einige Werke Trotzkijs, hierunter seine Autobiografie, erschienen erstmals, desgleichen die Übersetzung von Issaak Deutschers Biografie über den "Bewaffneten Propheten". Das alles vielleicht auch deshalb, um die Nachfrage der neu entstehenden trotzkistischen Gruppen zu befriedigen. Gegenüber der mageren Erinnerungsliteratur an den Roten Oktober erstaunt die Zahl der Veröffentlichungen von und über die "Weißen" im Bürgerkrieg, allen voran Werke von und über Denikin, Wrangel, Koltschak. Fast könnte man meinen, die Weißen hätten im Bürgerkrieg gesiegt. Auch hier haben sich die Rollen verkehrt und neue Mythen sind an die Stelle der alten getreten: Die Weißen zählen heute als die wahren Patrioten.

Sozialismus und Marxismus sind schon längst keine Themen mehr. Dasselbe gilt für die russische revolutionäre Bewegung. Selbst ein Alexander Herzen gehört nicht mehr zur "eigentlichen" Intelligencija, die von den heutigen Eliten nur noch durch ihre "Geistigkeit" definiert wird.

In letzter Zeit strahlte das staatliche Fernsehen verschiedene Serien aus wie über Lenins Testament ('Nikolaj Dostal'), über Trockij oder Nestor Machno, den Führer einer 1921 zerschlagenen bäuerlich-anarchistischen Aufstandsbewegung ('Michail Weller'). Eine vierzigteilige Fernsehserie über den letzten Monat im Leben Stalins wird im nächsten Januar gezeigt werden. Der Gulag wurde in einer Fernsehserie nach Erzählungen Varlam Schalamows dargestellt. Ob diese, für das große Publikum bestimmten Filme mit ihrem Hang zum Sensationellen zur Ausbildung eines historisch-kritischen Bewusstseins beitragen werden, bleibt abzuwarten.

Wenn in der Geschichtsschreibung und den öffentlichen Debatten andere Themen die Revolution ablösen, so ist das Wort selbst dennoch in aller Munde. Es bezieht sich auf das Schreckgespenst der Revolutionen auf dem Gebiet der ftüheren Sowjetunion wie in Georgien (2003), der Ukraine (2004) oder Kirgistan (2005), die die Regierung und politischen Eliten befürchten lassen, Ähnliches könne sich auch in Russland ereignen. Vor allem bietet die "orangenfarbene Revolution" der Ukraine den Anlass, Manifestationen oppositioneller Kräfte und dessen, was dafür ausgegeben wird, einzuschränken oder unter dem Vorwand von "Terrorismus" zu verfolgen. Das immer wieder zitierte Beispiel vom deutschen Geld, mit dem Lenin seine Revolution durchführte, findet eine seltsame Analogie im amerikanischen Geld, mit dem die Revolutionen in der Ukraine und Georgien finanziert würden.

Nicht nur wurde die einheitliche Lehrmeinung zur russischen Revolution 1917 endgültig begraben. Der Zusammenbruch der Sowjetunion, für Putin die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts, lässt sich nicht durch die Erinnerung an den heroischen Oktober wettmachen. Russlands Größe orientiert sich an anderen Werten: Das Imperium der Zaren wurde längst wieder dem historischen Gedächtnis einverleibt und die Kontinuität des Sowjetimperiums als Einheit der mächtigen russischen Staatlichkeit beschworen.

Das Selbstbewusstsein einer großen Nation, das Putin seinem Lande nach dem Chaos der neunziger Jahre zurückzugeben bestrebt ist, orientiert sich daher am Zweiten Weltkrieg, in dessen Folge Russland eine Supermacht wurde. Das neue Lehrbuch, das Putin für den Geschichtsunterricht anforderte, soll einen neuen Stolz auf die nationale Geschichte und die nationale Solidarität vermitteln, der sich nicht zuletzt aus dem Bewusstsein speist, dass sich das heutige Russland im Besitz wichtiger, auf dem Weltmarkt hoch gehandelter Rohstoffe befindet und eine entsprechend dynamische Außenpolitik betreibt. Es soll ebenfalls lehren, dass der Eintritt in den Klub der demokratischen Nationen bedeutet, einen Teil der nationalen Souveränität zugunsten der USA aufzugeben.

So wird es denn am 7. November allein den Kommunisten und einigen anderen Nostalgikern überlassen bleiben, mit Aufmärschen an die "Große Sozialistische Oktoberrevolution" zu erinnern. Unterstützung finden sie dabei in Belarus, dem einzigen Land der GUS, welches die Revolution nach wie vor als nationalen Feiertag begeht, an dem Präsident Lukaschenko eine schwungvolle Rede halten wird.

Nicht zu vergessen: Neben dem 90. Jahrestag der Oktoberrevolution gilt es auch an den 70. Jahrestag der großen "Säuberungen" zu erinnern. Stalins Terror ab 1937 kann ohne die Revolution weder begriffen noch verarbeitet werden.


Jutta Scherrer (*1942) ist Professorin für Russische Geschichte an der École DES HAUTES ÉTUDES EN SCIENCES SOCIALES in Paris.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2007, S. 22-28
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Dezember 2007