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NEUZEIT/209: Kosovo - Vertreibung, Blei und Straflosigkeit (Der Schlepper)


Der Schlepper Nr. 50 - Frühling 2010
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein

Vertreibung, Blei und Straflosigkeit

Von Dirk Auer


Unter den Augen der NATO-Soldaten, die gerade noch einen Krieg geführt hatten, um "ethnische Säuberungen" zu stoppen, wurden 1999 zehntausende Roma aus dem Kosovo erneut vertrieben. Vom European Roma Rights Centre wurde dies als die "größte Katastrophe für Roma seit dem Holocaust" bezeichnet.


Der Krieg der NATO gegen Serbien wurde mit humanitären Argumenten begründet: Ethnische Säuberungen müssten gestoppt werden, notfalls militärisch. Für Roma schien das nicht zu gelten. Während sich die internationale Aufmerksamkeit nach Kriegsende auf die Rückkehr der etwa 1,5 Millionen AlbanerInnen konzentrierte, begannen albanische ExtremistInnen unter den Augen der bereits stationierten NATO-Soldaten mit der Vertreibung der im Kosovo verbliebenen Minderheiten, vor allem der SerbInnen und Roma.


Erneute ethnische Säuberungen

Straßenzüge und ganze Stadtteile wurden geplündert, gebrandschatzt und niedergerissen. Alles begann mit direkten oder indirekten Drohungen oder Einschüchterungen, Steine wurden geworfen, bis plötzlich Männer mit schwarzen Masken auftauchten, die, das Gewehr im Anschlag, die Roma aufforderten, ihre Häuser zu verlassen. Die Frist betrug oft nur wenige Stunden, so dass die meisten nur mit dem Notwendigsten entkommen konnten. Nicht selten kam es auch zu Misshandlungen, Folter und Vergewaltigungen.

Auf diese Weise sind im Sommer 1999 und den darauf folgenden Monaten in ganz Kosovo die Häuser der Roma angegriffen worden: Das Wohnviertel Moravska Mahala in Prishtina, welches sich in guter Wohnlage einen Hang entlangzog, wurde vollständig zerstört, alle Bewohner wurden vertrieben. In Obiliç sind alle 700 Häuser zerstört worden, die BewohnerInnen flohen nach Mazedonien. In Peç sind von den 1.600 Häusern der Roma-Gemeinschaft ganze 80 unversehrt geblieben. Die meisten Roma flohen nach Serbien, Montenegro oder Mazedonien. Viele versuchten, von dort aus in die westeuropäischen Länder zu gelangen. Schätzungen zufolge wurden von den ehemals etwa 150.000 im Kosovo lebenden Roma zwei Drittel aus dem Land getrieben, zusammen mit SerbInnen und anderen ethnischen Minderheiten.


Bis heute straflos

Dass sich die Vertreibungen ausgerechnet unter den Augen des weltweit größten Militärbündnisses abspielen konnten, mag viele Gründe haben: Eine falsche Lageeinschätzung, Überforderung, eine unklare und uneinheitliche Mandatierung des Nachkriegseinsatzes oder auch Verständnis für die vormals "Unterdrückten", denen man ja schließlich zu Hilfe geeilt war. Ebenso bestürzend wie die Ereignisse selbst, ist, dass es nie einen ernsthaften Aufarbeitungswillen gegeben hat. Für die Vertreibungen, die Morde und Vergewaltigungen des Sommers 1999 ist von der UN-Verwaltung UNMIK kein/e einzige/r TäterIn vor Gericht gestellt worden. Auch das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag hat keine einzige Anklage erhoben, weil es sich von vornherein nur für Verbrechen vor und während des Krieges zuständig erklärte. Anfragen des European Roma Rights Centre, die Zuständigkeit des International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia (ICTY) auf Gewaltverbrechen gegen Minderheiten auszuweiten, die nach dem 10. Juni 1999 stattgefunden haben, sind ohne Antwort geblieben.

Auch gibt es bis heute keine offizielle Entschuldigung - weder von der kosovarischen Regierung, die sich zum großen Teil aus ehemaligen UÇK-Mitgliedern zusammensetzt, noch von der Internationalen Gemeinschaft selbst, die ja in vielen Fällen tatenlos zusah, wie die Häuser der Serben und Roma zerstört wurden. Auch große Teile der albanischen Bevölkerung entschuldigen oder relativieren bis heute das Unrecht der Vertreibung damit, dass Roma an der Seite der SerbInnen schwere Verbrechen begangen hätten.


Die "Kollaborationsthese" als Anlass zu Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Zwar gibt es Berichte, wonach Roma sich an Plünderungen albanischer Häuser beteiligt haben sollen. Tatsächlich handelt es sich aber um Einzelfälle. Und: Wie lässt sich durch die trotzdem weit verbreitete "Kollaborationsthese" erklären, dass auch diejenigen Roma und Ashkali nicht verschont wurden, die vor dem Krieg an der Seite der AlbanerInnen standen? In der Stadt Vushtrii, etwa 10 Kilometer südlich von Mitrovica gelegen, haben bis 1999 mehrere Tausend Roma gelebt, davon die Hälfte Ashkali. Vor allem die Ashkali waren gut in das Leben der Stadt integriert. Viele hatten eine Ausbildung absolviert und übten die unterschiedlichsten Berufe aus. Ihre Kinder schickten sie in albanische Schulen, sie waren Mitglieder in albanischen Vereinen. Einige RepräsentantInnen der Ashkali standen sogar auf Seiten der UÇK. Doch auch in Vushtrii brannten die Häuser - 1999 und dann erneut während der zweiten großen Vertreibungswelle 2004, als die deutschen Behörden der Auffassung waren, dass die Sicherheitssituation von Ashkali befriedigend sei und bereits die ersten Abschiebungen angeordnet hatten.


Lager und Ghettos

Eine besondere Tragödie der kosovarischen Nachkriegsgeschichte spielte sich in der Stadt Mitrovica ab. Bis zum Krieg lebten hier 8000 Roma in der Romska Mahala, einem der ältesten und größten Roma-Viertel auf dem Balkan. Nach der Zerstörung durch albanische ExtremistInnen und der Vertreibung ihrer 8000 BewohnerInnen richtete das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR im Nordteil der Stadt Flüchtlingslager ein, kaum 500 Meter von einer stillgelegten Blei-Mine entfernt. Schon damals bestand der Verdacht, dass das Gelände stark bleiverseucht sein könnte. Im Jahr 2000 wurde das durch erste Messungen bestätigt. Vier Jahre vergingen, bis MitarbeiterInnen der Weltgesundheitsbehörde WHO erneut die Lager besuchten und extrem hohe Bleiwerte im Blut der BewohnerInnen feststellten. 60 Kinder unter sechs Jahren hatten damals bereits eine schwere Bleivergiftung.

Das Internationale Rote Kreuz forderte in einem Brief an den damaligen Chef der UN-Verwaltung, Sören Jessen-Petersen, die sofortige Evakuierung der Lager. Von der größten medizinischen Tragödie im Kosovo war die Rede. Trotz einiger Todesfälle, die vermutlich auf die Bleibelastung zurückzuführen sind, verging ein weiteres Jahr. Erst jetzt begannen die internationalen Medien über die Situation in den Lagern zu berichten. Der UN-Sondergesandte Kai Eide sprach im Herbst 2005 in einem Bericht an den damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan von einer Schande für die Internationale Gemeinschaft.

Auch wenn inzwischen mit dem Wiederaufbau der alten Romska Mahala begonnen wurde und die ersten Familien nach Süd-Mitrovica zurückgekehrt sind, wiegt die Tatsache schwer, dass acht Jahre lang trotz des Wissens um die extremsten Belastungen für die Gesundheit mehrere hundert Menschen ihrem Schicksal überlassen wurden. Und Mitrovica ist kein Einzelfall: Verheerend waren die Zustände ebenfalls lange Zeit in Plementina, einem Lager gerade einmal 15 Kilometer von der Hauptstadt Prishtina entfernt und laut Rotem Kreuz das Schlimmste in ganz Europa. Dasselbe Bild bietet sich auch in Leposavic, ganz im Norden des Kosovo, wo etwa 700 Menschen seit Jahren in armseligen Baracken hausen.


Negative "Normalisierung"

Die Entwicklung seit Kriegsende kann, wenn man so will, als eine Art negative "Normalisierung" bezeichnet werden, es ist die Umwandlung jahrhundertealter Roma-Viertel in Ghettos, wie sie sonst auch aus anderen osteuropäischen Ländern bekannt sind - Ghettos mit Menschen, die ursprünglich relativ gut integriert waren. Und dies alles vor dem Hintergrund, dass jedes Jahr Geldmengen in Milliardenhöhe für Demokratie, den Aufbau der Ökonomie und die Durchsetzung und Einhaltung von Menschenrechten und rechtsstaatlichen Prinzipien in den Kosovo fließen. Die Situation der Roma hat sich nach der und durch die Intervention der Internationalen Gemeinschaft nicht gebessert - im Gegenteil.

Gab und gibt es deshalb keinen Aufschrei, weil sich die Öffentlichkeit schon so sehr an das Bild von in Wellblechhütten lebenden "ZigeunerInnen" gewöhnt hat? Zeigt sich hier vielleicht die Beharrlichkeit des Bildes von "ZigeunerInnen" als einer nicht-sesshaften, verelendeten Gruppe von AnalphabetInnen, für die Vertreibung und das Leben im Slum weniger dramatisch sind - weil sie es ja schließlich gewohnt sind?


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Quelle:
Der Schlepper Nr. 50 - Frühling 2010, Seite 41-42
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in
Schleswig-Holstein
Herausgeber: Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juli 2010