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WIRTSCHAFT/009: Eine frühe europäische Handelsdynastie (Einblicke - Uni Oldenburg)


Einblicke - Forschungsmagazin der Universität Oldenburg Nr. 46/Herbst 2007

Eine frühe europäische Handelsdynastie

Von Dagmar Freist


Im 17. Jahrhundert wurden Hamburg, London, Amsterdam und Stockholm zu Zentren transnational operierender Handelsdynastien. Informelle Netzwerke über nationale und kulturelle Grenzen hinweg bildeten die Voraussetzung wirtschaftlichen Erfolgs und die Grundlage kultureller Austauschprozesse. Inwieweit diese Entwicklung zur Transformation frühneuzeitlicher Gesellschaften beitrug, steht im Zentrum eines Forschungsprojekts am Institut für Geschichte. Es ist Teil der europäischen Forschungskooperation "Networks, Economic and Social Interaction and Cultural Transfer in early modern Northern Europe" (NESICT), die im März 2007 an der Universität Oldenburg begründet wurde.


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Charles Marescoe, 1633 in Lille geboren, gehörte in den 1660er Jahren zu einem der angesehensten und wohlhabendsten Kaufleute Londons. Als Sechzehnjähriger war er in die englische Metropole gekommen, wo er bei dem niederländischen Kaufmann Jacques Boeve als Lehrling begann und bald die Geschäftskorrespondenz und die Buchführung übernahm. Sechs Jahre später verfügt er als Partner des aus Hamburg stammenden John Buck bereits über eigene Handelskontakte mit Schweden sowie Spanien, Portugal und der Levante. Seine Korrespondenz und Rechnungsbücher, die in einem Umfang von zehntausend Dokumenten im Public Record Office in London sowie im Riksarchiv in Stockholm erhalten sind, weisen bis zu seinem Tod im September 1670 Geschäftskontakte mit Partnern aus sieben europäischen Ländern auf, darunter enge Kontakte zu fahrenden Händlern in Stockholm, Hamburg (u.a. zur Familie Berenberg) und Amsterdam. Marescoes Handelsgeschäfte umfassten den Eisen-, Kupfer- und Teerhandel mit Schweden, den Zucker-Reexport aus England über den Hamburger Umschlaghafen sowie den Reexport von Kolonialwaren und Farbstoffen nach Deutschland. 1658 heiratete der Unternehmer Marescoe Leonora Lethieulliers, die Tochter eines bekannten Londoner Kaufmanns. Die Lethellieurs hatten ihre Wurzeln in den spanischen Niederlanden und entstammten dort einer angesehenen Familie. Diese Heirat eröffnete Marescoe den Zugang zur wirtschaftlichen und politischen Elite Londons, zu der sich sowohl Migranten - "fremde Kaufleute" - als auch eine jüngere Generation englischer Kaufleute, die "new merchants", zählten.


Wirtschaftsmigration und transnationale Handelsdynastien

Dieser erfolgreiche Aufstieg ist keine Ausnahme, wenn auch selten so gut dokumentiert wie im vorliegenden Fall. London wie auch das aufstrebende Hamburg und Amsterdam übten seit der Wende zum 17. Jahrhundert eine geradezu magnetische Anziehungskraft auf Tausende qualifizierter und wohlhabender Fachkräfte und Händler vor allem aus dem einst blühenden Kultur- und Wirtschaftsraum der spanischen Niederlande aus. Zu den Migranten gehörten sefardische Juden, die von Spanien über Portugal Ende des 16. Jahrhunderts nach Amsterdam und Hamburg, seit Mitte des 17. Jahrhunderts auch nach London emigrierten, Calvinisten, die den bürgerkriegsähnlichen Unruhen und Kriegswirren der spanischen Niederlande entflohen, und Hugenotten, die nach der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 Frankreich verließen. Die Stadtobrigkeiten erkannten den wirtschaftlichen Nutzen der Migranten und förderten ihre Ansiedlung durch eine aktive Fremdenpolitik. Viele dieser Neuankömmlinge verfügten über weit verzweigte Netzwerke wirtschaftlicher und familiärer Beziehungen, deren Kern sie von ihren Herkunftsorten in den spanischen Niederlanden, in Portugal und Frankreich nach Nordeuropa verlagerten. Hier knüpften sie neue Netzwerke außerhalb korporativer Handelsstrukturen wie etwa der Hause oder der großen Handelskompanien. So entstanden regelrechte Handelsdynastien, die sich auf informelle, überwiegend auf familiärer und verwandtschaftlicher Basis beruhende Netzwerke in ganz Europa stützten und in Konkurrenz zur alten Kaufmannselite traten.


Das Zusammenspiel aller Akteure

Die Basis dieser Netzwerke waren Vertrauen und Glaubwürdigkeit - trust and credit. Ein Blick in die Korrespondenz Charles Marescoes verdeutlicht, wie entscheidend diese Qualitäten für den wirtschaftlichen Erfolg seines Handelsunternehmens und die seiner Geschäftspartner waren. Hier ging es nicht nur um die aufwendige Koordination wirtschaftlicher und finanzieller Transaktionen quer durch Europa - beispielsweise die Organisation von ausreichend Ladeflächen auf sicheren Handelsschiffen oder die Gründung von Subunternehmen -, sondern auch um die Verlässlichkeit der Geschäftspartner und die ständige Rekrutierung neuer Mittelsmänner unterschiedlichster Nationalitäten. Von dem Zusammenspiel aller Akteure hing der wirtschaftliche Erfolg ab. In den Briefen findet sich entsprechend regelmäßig die Formulierung "wir vertrauen darauf, dass Ihr alles Erdenkliche tun werdet, um unseren Interessen zu dienen".

Nicht selten lag es im Ermessen der Partner in London, Hamburg, Amsterdam oder Stockholm, je nach Preisentwicklung den Verkauf von Gütern zu beschleunigen oder Ware zurück zu halten. Dass hier Unstimmigkeiten entstehen und verlustreiche Fehleinschätzungen passieren konnten, ist wenig verwunderlich, und so ist die täglich ein- und ausgehende Korrespondenz immer wieder durchsetzt von Äußerungen des Misstrauens und der Sorge. Im September 1672 etwa schreibt Joachim Pötter-Lillienhoff, ein Niederländer, der in Schweden eine bedeutende Rolle im Bergbau und Eisenhandel spielte, an Marescoe: "Wir sind sehr erleichtert, dass die Kapitäne Hans Meyer, Hans Michielsen und Johann Kruse unser Eisen sicher [nach England] gebracht haben - Gott sei Dank! Wir sind aber besorgt angesichts der fallenden Preise [in England]. Wir drängen Euch, dass ihr weiter unsere Interessen vertratet und verlassen uns darauf, dass ihr keine Minute verliert, unser Eisen zu verkaufen."

Um die Funktionsweise solcher Netzwerke zu verstehen, unterscheidet die Forschung zwischen "engen und weiten" bzw. "starken und schwachen" Netzwerken. Den Kein eines Unternehmens bildete demnach ein enges, häufig aus Familienmitgliedern und langjährigen Vertrauten bestehendes, weitgehend geschlossenes Netzwerk, das wichtige Schaltstellen in allen Handelsorten besetzte und die Grundlage transnationaler Handelsdynastien darstellte. Um diese engen Netzwerke rankten sich gleichermaßen weite Netzwerke ortskundiger Subunternehmer, Zwischenhändler, Informanten, Dolmetscher und neuer Partner, die eine wichtige Voraussetzung für die Ausweitung und die Handlungsfähigkeit des Unternehmens darstellten. Mithilfe von Patenschaften und einer gezielten Heiratspolitik konnten neue Partner in den Kern eines Unternehmens und somit in ein enges Netzwerk eingebunden und transnationale Handelskontakte gefestigt werden.


Fremdheitserfahrung und kulturelle Kompetenzen

Die Forschung hat diese Netzwerke bislang überwiegend aus wirtschaftshistorischer oder soziologischer Perspektive unter dem Aspekt ihrer Funktionalität beschrieben. Ein besonderes Charakteristikum war jedoch auch die Transnationalität. Über kulturelle und nationale Grenzen hinweg mussten Vertrauen und Glaubwürdigkeit aufgebaut werden. Dazu gehörten nicht nur fremdsprachliche, sondern auch kulturelle Kompetenzen. Reiseberichte und Korrespondenzen belegen, dass innerhalb des frühneuzeitlichen Europas kulturelle Differenz durchaus wahrgenommen, Fremdheitserfahrungen thematisiert und Strategien im Umgang mit Fremdheit entwickelt wurden. Dazu gehörten nicht zuletzt die gezielte Aneignung von Wissen über andere Länder und Fremdsprachenerwerb mithilfe so genannter Dialogbücher.


Neue Elite mit eigenem Lebensstil

Am Beispiel Marescoes wird deutlich, dass sich Migranten zum einen innerhalb der Netzwerke ihrer Landsleute in London bewegten, zum anderen jedoch durch Eheschließungen auch gesellschaftliche Kontakte zur englischen wirtschaftlichen und politischen Elite entwickelten. Ähnliche Beobachtungen lassen sich für Händler aus den spanischen Niederlanden machen, die sich in Stockholm niederließen, die Netzwerke innerhalb der südniederländischen Migranten durch gezielte Eheschließungen intensivierten und gleichzeitig den gesellschaftlichen Umgang mit Unternehmern anderer Nationalitäten einschließlich einer aufstrebenden schwedischen Handelselite pflegten. In Abgrenzung zur alten schwedischen Mittelklasse und zum Adel entstand hier so etwas wie eine kosmopolitische Handelselite, die "Skeppsbron Nobility", die einen eigenen Lebensstil, Geschmack, Konsumverhalten und Habitus entwickelte. Die Überschneidung alter und neuer Netzwerke diente offensichtlich dem Austausch kultureller Güter, Bräuche und Gewohnheiten. Die Migranten brachten nicht nur Wirtschaftskontakte, neue Technologien und wirtschaftliches Know-how mit, sondern sie versorgten den nordeuropäischen Markt auch mit neuen Produkten vor allem im Bereich von Luxus- und Konsumgütern. Oft aus alten und wohlhabenden Handelsfamilien stammend, beeindruckten sie die Nordeuropäer mit ihrem Lebensstil und ihrer ungewöhnlichen Mode. So gab Leonora Marescoe, die für ihren extravaganten Lebensstil bekannt war, viel Geld für kunstvolle Geschmeide und erlesene Weine aus.

Diese Differenzerfahrungen wurden vielfach literarisch verarbeitet wie etwa in dem Theaterstück "Spaanschen Brabanter" des niederländischen Dichters G. A. Bredero aus dem Jahre 1617. Doch auch Tagebücher zeugen von der Wahrnehmung kultureller Differenz in der unmittelbaren Begegnung mit Fremden. So schilderte der bekannte Diarist Samuel Pepys, ein Zeitgenosse Charles Marescoes, in seinem Tagebuch lebhaft den Umgang mit seinem französischen Nachbarn in London, einem "gut aussehenden und belesenen" Weinhändler namens Batelier. Batelier "tanzte gern mit mir, er versorgte mich mit Wein, wusste von Hexen und Geistern zu berichten, wies mich in die Geheimnisse seiner Handelsgeschäfte ein und brachte mir Drucke und Bücher aus Frankreich mit". Über das Ausmaß kultureller Differenz und dessen Wahrnehmung, über Orte, Intensität und Formen sozialer Interaktion zwischen 'fremden Kaufleuten' und Ortsansässigen, über Kommunikationsformen und Sprache, die Rolle der Migranten als Mittler kultureller Güter und die Rezeptionsbereitschaft der Empfängergesellschaft ist bislang kaum etwas bekannt. Es gibt allerdings für große Handelsmetropolen wie London zahlreiche Hinweise auf eine Überschneidung alter und neuer Netzwerke und die Entstehung transkultureller Netzwerke.


Die Entstehung einer kosmopolitischen Gesellschaft

Für die Frage nach der Entstehung transkultureller Netzwerke und ihrer Bedeutung für transkulturelle Austauschprozesse sind zum einen die Orte interessant, an denen es zur Begegnung von Neuzugezogenen und Alteingesessenen kam, zum anderen die Intensität dieser Netzwerke. Zu den wichtigsten Orten, die historisch rekonstruierbar sind, gehören neben den Wohngebieten die Kirchengemeinde, Vereins- und Clubmitgliedschaften und schließlich die überall entstehenden Kaffeehäuser. Sie boten neben den vertrauten Formen der Geselligkeit auch Raum für wirtschaftliche Transaktionen. Nicht selten gaben Kaufleute, die sich neu in London niedergelassen hatten, Kaffeehäuser als Geschäfts- und Wohnadresse an. Hier begegneten sich Frauen und Männer verschiedenster Nationalitäten, tauschten Nachrichten aus, begründeten Geschäftskontakte und präsentierten sich in der neuesten Mode.

Ein weiterer Ort der informellen Begegnung war die New Royal Exchange, Londons beliebteste Kaufhallen, die Luxus- und Konsumgüter aus aller Welt in kunstvollen Auslagen präsentierten - und wer es sich leisten konnte, trug, wie Leonora Marescoe, die neuesten Modeartikel am eigenen Leibe zur Schau und machte sie gesellschaftsfähig. Wurden die Migranten so zu Trendsettern einer neuen englischen Kaufmannsgeneration, die sich von der allen Kaufmannselite wie auch vom Adel absetzen wollte? Zeitgenössische Polemiken gegen die englischen "new merchants" jedenfalls kritisierten nicht nur den neuen Hang zum Luxus, sondern auch die Orientierung an der spanischen Mode. So heißt es über die als luxuriös empfundene Kleidung der Frau des erfolgreichen Weinhändlers und Ratsherren William Abell in einem der Pamphlete: "purest Black that Spain affords must now cover her happy feet" (das edelste Schwarz, das Spanien aufbieten kann, muss nun ihre glücklichen Füße bedecken).

Status und Selbstinszenierung bezogen sich aber nicht nur auf die Präsentation von Konsumgütern, sondern wichtig waren auch standesgemäße Heiraten und der Status der Personen, mit denen man sich umgab. So zählten die bedeutendsten europäischen Großhändler der Zeit zu den Gästen der Marescoes. Die älteste Tochter wurde mit dem Sohn eines angesehenen Londoner Ratsherren vermählt. Die Eheschließung der verwitweten Leonora Marescoe wiederum mit Jakob David, dem leitenden Buchhalter der Marescoes, löste einen heftigen Streit zwischen Leonora und ihrer Tochter aus, die die Ehe mit einem Bediensteten, wie sie es formulierte, als nicht standesgemäß verurteilte. Zu fragen bleibt, und dies bildet den Kern eines Forschungsprojektes am Institut für Geschichte der Universität Oldenburg, ob vor dem Hintergrund von Migration und transnationaler Handelsvernetzung ein "kosmopolitisches Bürgertum" entstand, dass sich in Lebensstil, Habitus und Selbstverständnis neu definierte und so bewusst vom städtischen Kleinbürgertum, von der alten protektionistischen Handelselite wie auch vom Adel absetzte.


Die Autorin:
Prof. Dr. Dagmar Freist ist Hochschullehrerin für Geschichte der Frühen Neuzeit am Institut für Geschichte. Sie studierte an den Universitäten Freiburg, Heidelberg und Cambridge (GB), wo sie 1992 promovierte. Nach dreijähriger Tätigkeit als Referentin am Ev. Oberkirchenrat in Karlsruhe war sie von 1995 bis 1998 Research Fellow am Deutschen Historischen Institut in London. 1998 folgte die Assistentenstelle an der Universität Osnabrück, wo sie 2003 habilitierte. 2004 erhielt sie einen Ruf nach Oldenburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören - bezogen auf das 17. und 18. Jahrhundert - Herrschaftspraktiken, Öffentlichkeit und politische Kultur in Deutschland und England, Interkonfessionelles Zusammenleben, Netzwerke, wirtschaftliche und soziale Interaktion und Kulturtransfer in Nordeuropa.


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Quelle:
Einblicke Nr. 46, 23. Jahrgang, Herbst 2007, S. 11-13
Herausgeber: Das Präsidium der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. März 2008