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WISSENSCHAFT/079: Einmaleins des Militärs - Professur für Kriegswissenschaften (Uni Journal Marburg)


Marburger UniJournal Nr. 33 - Juli 2009

Einmaleins des Militärs

Von Heinz Stübig


Marburg gegen Ende des Zeitalters der Aufklärung: Franz Karl Schleicher beschäftigt sich als Professor für Kriegswissenschaften nicht nur mit militärischen Themen, sondern engagiert sich außerdem für die Freiheit der akademischen Lehre.


Die meisten deutschen Offiziere erhalten heutzutage ihre akademische Bildung in Hamburg oder München: Im Jahr 1973 wurden dort die beiden Universitäten der Bundeswehr gegründet. Bereits 186 Jahre zuvor war an der Marburger Universität eine Professur für Kriegswissenschaften errichtet worden, initiiert durch den Landgrafen von Hessen-Kassel, Wilhelm IX. Auf diese Professur, die bis 1805 bestand, wurde Franz Karl Schleicher berufen.

Im "Catalogus Professorum", dem Gesamtverzeichnis der Marburger Universitätslehrer, wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Schleicher "Fakultätsmitglied ohne U-Studium und Promotion" gewesen sei. Aufgrund seiner beschränkten finanziellen Mittel hatte Schleicher als Student an dem von Landgraf Karl gegründeten Collegium Carolinum in Kassel nämlich nur ein Jahr Vorlesungen des Mathematik-Professors Johann Matthäus Matsko hören können. Gleichwohl fand er hier Zugang zu einem Wissensgebiet, das ihn Zeit seines Lebens interessieren sollte. Die Mathematik bot für Schleicher vor allem eine vorzügliche Möglichkeit zur Schulung der Urteilskraft: "Sie, die reine Mathematik, hat unstreitig vor allen andern Wissenschaften den Vorzug, daß sie in einem höhern Grad denken lehrt."

Im Jahr 1776 trat Schleicher als Feldmesser in preußische Dienste und konnte damit seinen Lebensunterhalt verdienen. Die weiteren Stationen seiner beruflichen Laufbahn brachten ihn in eine immer engere Verbindung zum Militär. In Kassel war er zunächst zweiter Lehrer der Kriegswissenschaften beim Kadettenkorps, später auch Lehrer der "theoretischen Mathematik und des Aufnehmens mit Instrumenten und nach dem Augenmaaße" an der neu errichteten Artillerieschule. Ende 1787 wurde er, nachdem er den Dienstgrad eines Hauptmanns erhalten hatte, als ordentlicher Lehrer der Taktik und sämtlicher Kriegswissenschaften mit Sitz und Stimme in der Philosophischen Fakultät an die Universität Marburg berufen.

Es handelt sich bei Schleichers Professur um mehr als nur eine kuriose Episode im Verlauf der Universitätsgeschichte. Das von Schleicher entwickelte Konzept einer umfassenden soldatischen Bildung, insbesondere einer akademischen Ausbildung des militärischen Führungsnachwuchses, war überaus zukunftsträchtig. Schleicher erkannte die Vorteile eines freien Universitätsstudiums für die Bildung der künftigen Offiziere gegenüber der traditionellen militärischen Ausbildung. Er las nicht nur über die Kriegswissenschaften - die Uhrzeit seiner Veranstaltungen unterwarf er übrigens "dem Ermessen der edlen Commilitonen" -, sondern hielt auch mathematische Vorlesungen, vor allem an dem von Johann Heinrich Jung-Stilling im Jahr 1789 gegründeten Staatswirtschaftlichen Institut, zu dessen Mitgliedern Schleicher von Anfang an gehörte.

Schleicher betonte nicht nur die generelle Bedeutung der Mathematik für die übrigen Wissenschaften, sondern auch ihre spezifische Beziehung zum Militärwesen, insbesondere zur Artillerie. Über die Ziele, die er in seinem Unterricht verfolgte, schrieb er: "Der Anfänger der Mathematik muß jeden der folgenden Gedanken als eine richtige Fortsetzung des gehabten empfinden. Einen ihm neuen Satz muß er zur deutlichsten Idee erheben; und dann von dem Beweise desselben so überzeugt werden, daß er gegen eigne Empfindung zu sprechen glauben würde, wenn er das Gegentheil behaupten wollte."

Über die Zahl seiner Hörer weiß man nur wenig und nichts über ihre Motive, sich mit militärwissenschaftlichen Fragen zu beschäftigen. Umso ausführlicher sind wir dagegen über Schleichers Intentionen und die Details seines Lehrprogramms unterrichtet. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt veröffentlichte er in der neuen akademischen Buchhandlung in Marburg eine Schrift mit dem Titel "Ueber die vollkommenste Bildung des Soldaten in Friedenszeiten, besonders in Rüksicht auf unsre hohen Schulen" (1788), in der er die Schwerpunkte seiner Lehre vorstellte und den Stellenwert der Kriegswissenschaften im Rahmen der akademischen Ausbildung erläuterte.

Schleicher forderte nicht nur ein tiefes Eindringen in die militärischen Wissenschaften, sondern ebenso körperliche Belastbarkeit sowie eine schnelle Beurteilungskraft, Kaltblütigkeit und Geistesgegenwart. Neben gründlichem Fachwissen sollten die künftigen Offiziere über umfangreiche Kenntnisse der angewandten Mathematik verfügen und sich darüber hinaus mit Geschichte, Geographie, Statistik und den modernen Fremdsprachen beschäftigen. Dem von ihm selbst formulierten Einwand, dass er mit seinen Forderungen weit über das Ziel hinausschieße und gewissermaßen ein Ideal entwerfe, setzte er entgegen, dass "ernster Fleiß und unabläßige Anstrengung" bei dem künftigen Soldaten Wunderdinge verrichten könnten: "Immer mehrere und mehrere Geistesarbeiten stärken seinen Geist und machen ihn immer fähiger und fähiger, und allmählige Abhärtungen des Körpers machen auch diesen geschikt, alle Mühseeligkeiten langwieriger Kriege geduldig, und ohne unterzuliegen, aushalten zu können." Wenngleich Schleicher sich darüber im Klaren war, dass nicht jeder Einzelne diesen Anforderungen genügen konnte, so hoffte er, "doch gewis einen guten Theil des menschlichen Geschlechts zu brauchbaren Soldaten im eigentlichsten Verstande modeln zu können."

Nicht im Zwang der abgeschlossenen Institution der Kriegsschulen, sondern im akademischen Diskurs mit seiner spezifischen Freiheit sah Schleicher die beste Voraussetzung für die von ihm angestrebte soldatische Bildung. Kritikern gegenüber wies er darauf hin, dass die meisten Universitätsstudenten entweder ihren Militärdienst bereits abgeleistet hätten oder aber kurz davor stünden und von daher schon über einschlägige Erfahrungen verfügten oder diese schnell erwerben könnten. Den Mangel an Kriegszucht an den Universitäten betrachtete er als Vorteil, denn in den Kriegsschulen führe die strenge Zucht letztlich dazu, dass Geist und Körper der jungen Menschen erschlafften. Nach Schleichers Ansicht wurde der Körper nur gebildet, "wenn er sich freiwillig an alle die Abhärtungen gewöhnt, die langwierige Kriege erfordern". Und was den Geist betraf, so werde seine Bildung nur durch "Freiheit, Ernst und Anstrengung" gefördert.

Detailliert setzte Schleicher sich mit den Wissenschaften auseinander, die im Rahmen eines kriegswissenschaftlichen Studiums gelehrt werden sollten, und er propagierte stets die praktische Anwendung des Gelernten. Zu den Lehrinhalten gehörte die Messkunst, die im Einzelnen eine Beschäftigung mit Arithmetik, Geometrie und Trigonometrie sowie im weiteren Verlauf mit höherer Mathematik erforderte. Der zweite Bereich war das Artilleriewesen, an dritter Stelle nannte Schleicher die Wissenschaft zur Befestigung von Städten. Ihre Weiterentwicklung war eine Antwort auf das immer größere Zerstörungspotenzial der Artillerie.

Im letzten Teil seiner Ausführungen erörterte Schleicher unter der Überschrift "Kriegswissenschaft in dem eigentlichen Verstande" allgemeine Grundlagen der Militärpolitik. Mit Blick auf den künftigen Offizier stellte er fest, dass sich dessen Studium in Friedenszeiten zunächst auf die Vermittlung statistischer und geographischer Kenntnisse konzentrieren müsse, ferner auf die Kriegsgeschichte, verstanden als Analyse von vergangenen Kriegen hinsichtlich ihrer Ursachen, ihres Verlaufs und ihrer Folgen, ferner auf die Sprachen, insbesondere auf diejenigen Sprachen, in denen die Hauptwerke der Kriegswissenschaft geschrieben worden seien, und nicht zuletzt auf medizinische Grundkenntnisse.

Es fällt auf, wie genau Schleicher den am Vorabend der Revolutionskriege sich abzeichnenden Wandel im Kriegsbild und die dadurch erforderlichen Veränderungen in der Bildung und Ausbildung des Soldaten rezipierte und seine pädagogischen Überlegungen dementsprechend am Leitbild des "aufgeklärten Soldaten" orientierte. Von hier ergeben sich zahlreiche Parallelen zu den preußischen Heeresreformern, die später - im Zusammenhang mit ihren Bestrebungen zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht - den Soldaten ausdrücklich als "Mann von Ehre" anerkannten.

Neben seiner umfangreichen Lehrtätigkeit war Schleicher auch ein höchst produktiver Schriftsteller, der sowohl grundlegende mathematische Arbeiten als auch bedeutende militärwissenschaftliche Bücher und Aufsätze veröffentlichte. Dabei spannte sich der Bogen seiner kriegswissenschaftlichen Publikationen von allgemeinen Darstellungen und Handbüchern bis hin zu Einzelfragen der hessischen Militärgeschichte. Überdies gab er in den Jahren 1790 und 1791 die "Militärische Zeitung" heraus.

Bekannt wurde Schleicher vor allem durch sein "Handbuch der Artillerie. Zum Vortrag wie zum Selbstunterricht", dessen erster Teil mit einer Widmung für Wilhelm IX. 1799 in Marburg erschien. Dieses Buch stieß auf die begeisterte Zustimmung der Zeitgenossen und wurde in den wichtigsten Zeitschriften lobend besprochen. So hieß es 1799 in der "(Erlangischen) Litteratur-Zeitung": "Ueberall zeigt der Verf., daß er sein Fach gründlich studirt habe, und daß er ein vollkommen guter Lehrer der Geschützkunst sey. Der Stil ist bündig, die Sprache ziemlich rein, der Vortrag kurz und deutlich, die Ordnung selbst sehr gut gewählt und beobachtet, und, was man vorzüglich zu schätzen hat, ist dieses, daß die vorgetragenen Sachen auch historisch behandelt und die vorzüglichsten Werke angeführt sind, welche über die verschiedenen Theile der Geschützkunst geschrieben, und vom Verf. bey der Verfertigung seines Leitfadens zweckmäßig gebraucht worden sind."

Schleichers hochschulpolitisches Wirken soll abschließend anhand eines Konflikts aufgezeigt werden, der Ende des 18. Jahrhunderts die Marburger Professorenschaft tief spaltete, ausgelöst durch eine Untersuchung gegen den Philosophieprofessor Johannes Bering. Dieser hatte für das Sommersemester 1786 angekündigt, dass er "um 6 Uhr Abends über Kants Kritik nach Schulzens Erläuterungen" lesen werde. Als Landgraf Wilhelm IX. im August davon erfuhr, erließ er ein Dekret mit der Verfügung, dass "in dem nächsten Winter halben Jahr über Kants Schriften keine Vorlesungen gehalten werden sollten." Darüber hinaus wünschte der Landgraf von der Philosophischen Fakultät Auskunft darüber, was von Kants Schriften generell zu halten sei und ob diese zum Skeptizismus Anlass gäben, "mithin die Gewißheit der menschlichen Erkänntnis untergraben" würden.

In seinem Votum über den anstehenden Streitfall stellte Schleicher fest: "Toleranz [...] gebiert Fruchtbarkeit im Staat, und macht unsere Universitäten blühend." Er verwies darauf, dass in wohlgeordneten Staaten Christen und Juden, Schwärmer und Verehrer der Vernunft, Sektierer und Indifferentisten nebeneinander lebten und dadurch zur Wohlfahrt des Landes beitrügen, und zwar in einem weitaus größeren Maße, als dies unter weniger toleranten Menschen der Fall sei. Gemäß seiner Überzeugung sollten an den Universitäten Kantianer neben Antikantianern lehren, wobei er darauf hinwies, dass die akademischen philosophischen Dispute normalerweise nicht "dem Pöbel preisgegeben" seien, sondern nur in den Hörsälen diskutiert und gewöhnlich wieder "vergessen" würden. Ausdrücklich bescheinigte er seinem Kollegen Bering, dass dieser die Kantische Philosophie ausführlich darstelle und dabei sehr gute Dienste geleistet habe. Mit Blick auf das Ansehen der Universität riet er, die Angelegenheit zu kalmieren, um den Zeitungen keine Gelegenheit zu geben, einem "anekdotensüchtigen" Publikum immer wieder neue Geschichten über die Marburger Universität aufzutischen.

Die Auseinandersetzung selbst führte nicht zu einem Verbot der Philosophie Kants in Marburg, so dass Bering weiterhin "kantische" Vorlesungen halten konnte, ohne jedoch den Namen des Philosophen im Vorlesungsverzeichnis zu nennen. Gleichwohl machte dieser Vorfall deutlich, dass auch im Zeitalter der Aufklärung nach wie vor für die Freiheit der akademischen Lehre gestritten werden musste.

Nachdem er 17 Jahre Kriegswissenschaften und Mathematik in Marburg gelehrt hatte, kehrte Schleicher im Januar des Jahres 1805 an die Artillerieschule in Kassel zurück. Mit seinem Weggang erlosch die bis dahin von ihm besetzte Professur an der Marburger Universität. Am 23. Januar 1815 starb Franz Karl Schleicher in Kassel.


Wer an Literaturhinweisen zum Thema interessiert ist, kann sich an den Autor wenden, E-Mail: stuebig@staff.uni-marburg.de.


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Quelle:
Marburger UniJournal Nr. 33, Juli 2009, Seite 42 - 44
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. September 2009