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DILJA/105: Srebrenica oder die Zerschlagung Jugoslawiens - Teil 22 (SB)


Das "Massaker von Srebrenica" - nachgelieferte Letztbegründung für die gewaltsame Zerschlagung Jugoslawiens und Präzedenzfall der humanitär bemäntelten Kriegführung westlicher Hegemonialmächte

Teil 22: 24. März 1999 - Die NATO beginnt ihren lange zuvor beschlossenen Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien unter wesentlicher Beihilfe der deutschen Bundesregierung


Preisfrage: Vom wem mögen die folgenden Worte zu dem im Frühsommer 1999 geführten NATO-Krieg gegen Jugoslawien stammen? [1]

Man wollte den Krieg, das hat der Bundeskanzler im Oktober 1998 bereits dem Außenminister gesagt, sonst wäre er nicht Außenminister geworden. Das ist alles im SPIEGEL nachzulesen. Und das sind Dinge, die wirklich hier den Verdacht mehr als verhärten, dass manipuliert worden ist und dass wir vorgeführt worden sind.

Diese wenigen Sätze enthalten Fragen bzw. Stellungnahmen, die dem bis heute vorherrschenden Geschichtsbild über diesen Krieg und die für ihn Verantwortlichen diametral entgegenstehen. "Man" wollte den Krieg soll heißen, daß führende Kräfte innerhalb des westlichen Verteidigungsbündnisses aktiv auf ihn hingearbeitet haben, was impliziert, daß die jugoslawische Führung den ersten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges unter massiver Beteiligung der deutschen Bundeswehr auf europäischem Boden geführten Krieg spätestens ab Oktober 1998 beim besten Willen nicht hätte verhindern können. Dies schon deshalb, weil andernorts längst beschlossen worden war, ihn zu führen; lediglich die Modalitäten, die zu seiner Durchsetzung führen sollten, harrten noch der Umsetzung in die Realität. Die eingangs zitierten Sätze stammen von dem scheidenden Bundestagsabgeordneten, CDU-Politiker und ehemaligen Vizepräsidenten der Parlamentarischen Versammlung der "Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (OSZE), Willy Wimmer.

Wimmer nahm unter den damaligen wie heutigen Bundestagsabgeordneten, von den Mitgliedern der damaligen PDS und heutigen Linkspartei einmal abgesehen, eine nahezu einmalige Außenseiterposition ein, womit sich keineswegs das vermeintlich Ungewöhnliche seiner politischen Positionierung oder Entwicklung, sondern der Rechtsruck, den in jenen Jahren das zu keinem Zeitpunkt linkslastige deutsche Parlament in beängstigendem Tempo und erschreckender Einhelligkeit vollzogen hat, dokumentieren läßt. Im aktuellen Textarchiv des Bundestages wird über den Abgeordneten, der nach 33jähriger parlamentarischer Tätigkeit im Oktober vergangenen Jahres beschlossen hatte, nicht wieder für ein Direktmandat zu kandidieren, folgendes angemerkt [2]:

Seitdem er quer zur Fraktionsmeinung gegen die Auslandseinsätze im Kosovo, Irak und in Afghanistan gestimmt hat, gilt er als unbequem und widerständig.

Das war nicht immer so. Im Dezember 1988, ein Jahr vor der Wende, holt der damalige Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl den aufstrebenden Außen- und Sicherheitspolitiker als Staatssekretär ins Verteidigungsministerium. In dieser Position gestaltet er das Zusammenwachsen von Ost und West. (...)

1999 ist auch das Jahr, in dem das deutsche Parlament zum ersten Mal einem Kampfeinsatz der Bundeswehr zustimmt: Willy Wimmer ist gegen die Beteiligung am Kosovo-Krieg. Auch die Einsätze im Irak und in Afghanistan finden nicht sein Votum. Zusammen mit dem CSU-Abgeordneten Dr. Peter Gauweiler klagt er sogar vor dem Bundesverfassungsgericht dagegen.

Sein abweichendes Stimmverhalten hat Folgen: "Ich bekam von der Fraktion keine Redezeit im Parlament und keine Genehmigung für Dienstreisen mehr. Man war nicht bereit das hinzunehmen und hat es kleinlich geahndet." Eine so große Fraktion wie die CDU/CSU hätte einige Abweichler eigentlich verkraften können, findet er. "Das war kein Zuckerschlecken."

Soviel an dieser Stelle zur innerparteilichen und innerfraktionellen Demokratie in einer Frage, in der es um nicht weniger ging als die Aufkündigung des pazifistisch anmutenden Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland, sprich der Selbstverpflichtung, daß "von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen dürfe". Warum haben nicht mehr Parlamentarier der politischen Mitte so abgestimmt und gehandelt wie Wimmer und Gauweiler? Hierfür gibt es Gründe, über die nachzudenken anläßlich der Massakerlegende von Srebrenica sowie der Rolle Deutschlands im gesamten Zersetzungs- und Zerstörungsprozeß Jugoslawiens, der in dem NATO-Krieg vom Frühsommer 1999 keineswegs seinen Anfang, aber zweifellos doch seinen militärischen Höhepunkt genommen hatte, sich noch heute lohnt. Willy Wimmer traf in einem Interview, das am 10. Februar 2001 auf DeutschlandRadio gesendet wurde, Feststellungen, die, sachlich zutiefst begründet, bis heute nichts von ihrer politischen Brisanz und Relevanz eingebüßt haben. Auf die eingangs zitierten Sätze Wimmers hatte ihm die Moderatorin Petra Ensminger entgegengehalten [1]:

Aber Herr Wimmer, die Regierungskoalition hatte damals im Kosovo-Konflikt schwer zu tragen. Vor allem die Grünen hatten Mühe, bei ihren Wählern Verständnis zu erlangen. Warum also sollte die Regierung so eine 'Machenschaft' mittragen, wenn es denn eine war?

Willy Wimmer: Sie hat sie nicht mitgetragen, sie hat sie organisiert. Und wer sich zurückerinnert und zwei Jahre zurückdenkt, der weiß, dass im Kern diese Aussagen - "Wir müssen ein neues Auschwitz verhindern" und ähnliches - auch die Widerstände in allen politischen Parteien im Deutschen Bundestag niedergebügelt haben; nicht nur die Dinge, die sich in der grünen oder der sozialdemokratischen Partei abgespielt haben, sondern auch bei uns. Das sind alles Dinge, wo ich nur sagen kann: Wo ist denn eigentlich die Konsequenz aus einer andern deutschen Zeit gezogen worden, wo alles nur noch Propaganda war? Als Regierung sind wir jederzeit gehalten - und das gilt auch für die jetzige Bundesregierung -, im Zusammenhang mit einem Krieg, den man führt, nichts anderes zu sagen als die Wahrheit. Man hat in diesem ARD-Bericht gesehen, wie sich der jetzige Bundeskanzler zu Beginn dieses Krieges geäußert hat im Sinne, 'das ist eine Polizeiaktion'. Es war aber ein ausgewachsener Krieg und es war ein Angriff und es war ein Angriffskrieg, der gegen jedes internationale Recht verstieß.

Der CDU-Abgeordnete bezog sich auf den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), gegen den, wie auch gegen den damaligen Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) und andere, bereits einen Tag nach dem am 24. März 1999 begonnenen Krieg gegen Jugoslawien Strafanzeige beim Generalbundesanwalt wegen des Verdachts auf Friedensverrat gemäß Paragraph 80 und 80a StGB gestellt worden war. Der Anzeigenerstatter, der Völkerrechtler René Schneider, hatte in einem Nachtrag zu seiner Strafanzeige am 1. März 2001 den Generalbundesanwalt nicht nur darauf aufmerksam gemacht, daß Schröder und Scharping, aber auch Bundesaußenminister Joseph Fischer und weitere am 21. September 2000 vom Distriktgericht Belgrad wegen ihrer "Verbrechen im deutsch-jugoslawischen Krieg von 1999 rechtskräftig zu jeweils zwanzig Jahren Haft verurteilt" [3] worden sind. Schneider zitierte den damaligen NATO-Sprecher James Shea in Hinsicht auf die besondere Rolle, die namentlich deutsche Spitzenpolitiker bei den Bestrebungen, diesen Krieg führbar zu machen und dann auch zu führen, im Vorfeld eingenommen hatten [3]:

Die politischen Führer spielten nun die entscheidende Rolle für die öffentliche Meinung. Sie sind die demokratisch gewählten Vertreter. Sie wussten, welche Nachricht jeweils für die öffentliche Meinung in ihrem Land wichtig war. Rudolf Scharping machte wirklich einen guten Job. Es ist ja auch nicht leicht, speziell in Deutschland, das 50 Jahre lang Verteidigung nur als Schutz des eigenen Landes gekannt hatte, statt seine Soldaten weit weg zu schicken. Psychologisch ist diese neue Definition von Sicherheitspolitik nicht einfach. Nicht nur Minister Scharping, auch Kanzler Schröder und Minister Fischer waren ein großartiges Beispiel für politische Führer, die nicht der öffentlichen Meinung hinterher rennen, sondern diese zu formen verstehen. Es stimmt mich optimistisch, dass die Deutschen das verstanden haben. Und jenseits der sehr unerfreulichen Begleiterscheinungen, der Kollateralschäden, der langen Dauer der Luftangriffe, hielten sie Kurs. Wenn wir die öffentliche Meinung in Deutschland verloren hätten, dann hätten wir sie im ganzen Bündnis verloren.

Kurzum: Aus Sicht derjenigen, die diesen Krieg der NATO zu führen beabsichtigt hatten und somit zu verantworten haben, machten Schröder, Fischer und Scharping "einen guten Job". Sie machten diesen "guten Job" nicht nur in Hinsicht auf den Weg in den Krieg, sondern bereiteten, noch bevor die Bombardierungen überhaupt begonnen hatten, den propagandistischen Nährboden für dessen Ausweitung. Dabei ging es um die Überführung der zunächst ausschließlich von den Luftwaffen der direkt beteiligten NATO-Staaten geführten Angriffe in einen Komplett-Krieg, in dem durch den Einsatz von Bodentruppen das militärische Erzwingungspotential mit der Inkaufnahme einer noch ungleich höheren Zahl an Todesopfern bis zur Kapitulation des Gegners voll ausgefahren werden soll. Diese Kapitulation ist dann Anfang Juni auch erfolgt zu einem Zeitpunkt, an dem die Drohung "Bodenkrieg" endgültig manifest geworden war. Nach Angaben von Michael Schwelien, der eine Biographie über den damaligen deutschen Außenminister Fischer verfaßte, hat die Bundesregierung mehr noch als die US-amerikanische schon vor Kriegsbeginn auch auf die Karte Bodenkrieg gesetzt [4]:

Während Gerhard Schröder vor den Luftangriffen ziemlich unbekümmert auch Bodentruppen in Aussicht gestellt hatte, hatte Bill Clinton ehedem davon nichts wissen wollen.

Fischer selbst schrieb in seinen Memoiren, daß sich seit Anfang Mai die Strategiediskussion der NATO zugespitzt habe, wobei sich die "Option 'Bodenkrieg' intern immer bedrohlicher in den Vorderbrund zu schieben begann" [4]. Eine solche Kriegsoption schiebt sich nicht selbst, sondern wird geschoben von Kriegsplanern und -strategen, die ganz offensichtlich nicht bereit waren, die militärische Erzwingungslogik unterhalb der Schwelle, ab der sie ihre strategischen Kriegsziele als erreicht betrachteten, abzubrechen oder auch nur zu lockern. In westlichen Quellen wurde, ungeachtet des täglichen Bombenhagels auf einen Staat, der den NATO-Angriffen militärisch nicht das Geringste entgegenzusetzen hatte und der über keine nennenswerte Luftabwehr verfügte, die Eskalationsstrategie zu einem Bodenkrieg vorangetrieben, indem der Eindruck erweckt wurde, die Bombardierungen hätten militärisch gesehen keine große Wirkung gezeigt. Winfried Nachtwei, stellvertretender verteidigungspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, lieferte zwei Jahre später dafür ein Beispiel [5]:

Ich stütze mich u. a. auf den 433-Seiten Report der OSZE "Kosovo/Kosova. As Seen, As told" über die Menschenrechtsermittlungen der OSZE Kosovo Verification Mission vom Oktober 1998 bis Juni 1999 (www.osce.org) und den Report der Independent International Commission on Kosovo (IICK), der im Oktober 2000 dem VN-Generalsekretär vorgelegt wurde (www.kosovocommission.org/reports). (...)

Eine gut recherchierte Zusammenstellung der unmittelbaren Kriegsfolgen beinhaltet der IICK-Report: Nach Auswertung der Zählungen und Schätzungen verschiedener Organisationen kommt die IICK zu der Schlussfolgerung, zwischen 24. März und 19. Juni 1999 seien im Kosovo ca. 10.000 Menschen getötet worden, der weitaus größte Teil von ihnen Kosovo-Albaner, die serbischen Kräften zum Opfer gefallen seien. Zu besonders vielen Tötungen sei es im Spätmärz und Mitte April gekommen. Dabei seien Dorfbewohner und Familienangehörige "exemplarisch" exekutiert worden. Männer wurden separiert und erschossen, ebenfalls prominentere Kosovo-Albaner. Massengräber seien zum Teil zerstört worden.

Zwischen März und Juni 1999 gab es 590.000 interne und 863.000 externe Flüchtlinge/Vertriebene. Die Flüchtlingszahlen explodierten regelrecht bis Anfang April. Die serbischen Kräfte hätten laut Rüb [Anm. d. SB-Red.: gemeint ist der von Nachtwei als "Landeskundiger" bezeichnete Balkan-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Matthias Rüb] zehntausende Häuser, Höfe und Wohnungen geplündert und zerstört.

Der IICK-Report berichtet auch von der Zerstörung von ca. hundert Hospitälern und Apotheken. Die NATO-Luftschläge hätten die Angriffe auf die kosovarische Zivilbevölkerung nicht provoziert. Sie hätten aber ein Umfeld geschaffen, das eine solche Operation durchführbar machte. Angesichts der Vorgehensweise der serbischen Kräfte weist IICK darauf hin, dass nur ein kleiner Teil der Menschen in direkter Folge der NATO-Bomben geflohen sei.

Die insgesamt 10.484 Kampfeinsätze der NATO-Luftwaffen hätten nur relativ "geringe Wirkung" bei der jugoslawischen Armee gehabt. Nach jugoslawischen Quellen seien ca. 600 jugoslawische Soldaten getötet worden, davon 300 im Kampf mit der UCK. (Rüb nennt bis 5.000 durch Luftangriffe getötete jugoslawisch/serbische Soldaten, Polizisten, Paramilitärs nach NATO-Angaben.) Lt. Human Rights Watch seien in 90 Vorfällen ca. 500 Zivilisten den NATO-Angriffen zum Opfer gefallen. Das jugoslawische Außenministerium meldete 495 zivile Tote und 820 Verletzte.

Die NATO habe 59 Brücken, 9 größere Straßen, 7 Flugplätze und die meisten Telekommunikations-Übertragungseinrichtungen zerstört. Zwei Drittel der großen Industriebetriebe seien nahezu zerstört worden. 70% der Stromversorgung und 80% der Ölraffineriekapazität wurden ausgeschaltet.

Wie "unabhängig" kann eine Kommission wie die IICK, die solche Ergebnisse an den Generalsekretär der Vereinten Nationen liefert, sein, obwohl schon vor, während und unmittelbar nach dem Bombenkrieg der NATO westliche, der pro-jugoslawischen Parteinahme unverdächtige Quellen höchst Widersprüchliches zur offiziellen Kriegsrhetorik zu berichten hatten? Der höchste Funktionär der Vereinten Nationen, der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan, hatte zu diesem Zeitpunkt das volle Gewicht der von ihm repräsentierten, mit der Wahrung des Friedens beauftragten Institution bereits in die Waagschale einer Kriegführung geworfen, die die Gebote der UN-Charta zutiefst verletzte und den UN insgesamt einen irreparablen Glaubwürdigkeitsschaden zufügte. Dabei hatte Annan explizit die "Opfer von Srebrenica" im Munde geführt, um die Toten des NATO-Krieges gegen Jugoslawien zu rechtfertigen: Die Hauptlektion für die internationale Gemeinschaft sei gewesen, daß man mit einem skrupellosen, mörderischen Regime nicht verhandeln, sondern nur Gewalt dem systematischen Töten Einhalt gebieten könne [6].

Die Behauptung, es habe im Frühjahr 1999 ein "systematisches Töten", verübt von den jugoslawischen bzw. serbischen Sicherheitskräften an den Kosovo-Albanern, gegeben, stand schon in dem Moment, in dem sie erhoben wurde, auf tönernen Füßen. Wer, wie Nachtwei, noch zwei Jahre später frank und frei behauptet, der "weitaus größte Teil" der 10.000 Kriegstoten sei "serbischen Kräften zum Opfer gefallen", wobei es zwischen Spätmärz und Mitte April (1999) zu besonders vielen Tötungen gekommen sei, setzt sich dem Verdacht aus, faktenresistent der Kriegspropaganda die Treue zu halten. Dr. med. Ute Watermann, Sprecherin der "Ärzte für den Frieden" (IPPNW), sollte sich später gegen die "Demagogisierung kritischer Geister", wie sie es nannte, verwahren. Sie zitierte aus einen Lagebericht der OSZE-Mission im Kosovo vom 17. März 1999, in dem es in der fraglichen Zeit, eine Woche vor Kriegsbeginn, geheißen hatte [7]:

Es gibt zur Zeit keine so genannte humanitäre Katastrophe, und eine solche ist auch nicht zu erwarten, wenn die Hilfsmaßnahmen fortgesetzt werden.

Diese Lagebeurteilung der OSZE deckte sich mit vom Auswärtigen Amt verfaßten Berichten, was Dr. Watermann zu folgender Frage veranlaßte [7]:

Verfolgte die Nato mit der Bombardierung Jugoslawiens ein anderes Interesse als das der Wahrung der Menschenrechte?

Nach dem damaligen wie auch heutigen Kenntnisstand kann diese Frage mit einem klaren Ja beantwortet werden. Am zweiten Jahrestag des Beginns des NATO-Krieges, am 24. März 2001, hatten zwei renommierte Friedensforscher, Prof. Dr. Dr. Dieter S. Lutz, Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, sowie Dr. Reinhard Mutz vom gleichen Institut, gegen die deutsche Bundesregierung in einem Offenen Brief schwerwiegende Vorwürfe erhoben. Sie warfen ihr vor, die eigene Bevölkerung manipuliert zu haben, um den ersten Krieg mit deutscher Beteiligung nach dem Zweiten Weltkrieg durchzusetzen. Sie kritisierten den absichtlich beschrittenen Weg in den Krieg, so auch die vermeintlichen Friedensverhandlungen von Rambouillet, und kamen in Hinsicht auf die humanitäre Katastrophe zu folgender Feststellung [7]:

Statt einer Verständigungslösung wurde ein Diktatfrieden durchzusetzen versucht, dem kein Belgrader Politiker, weder der Regierung noch der Opposition, zustimmte. Dem dilettantischen Krisenmanagement folgte - quasi zwangsläufig, wenn auch vermeidbar - der Bomben- und Raketenkrieg, der die humanitäre Katastrophe erst auslöste, die er verhindert sollte.

Eine aufschlußreiche Aussage in Hinsicht auf die humanitäre Lage in der Provinz Kosovo im Frühjahr 1999 machte der mazedonische Arzt Dobre Aleksovski am 1. März 2005 als Zeuge der Verteidigung im Prozeß gegen den früheren jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic vor dem Den Haager Tribunal. Aleksovski war 1999 als Leiter des medizinischen Notdienstes in der mazedonischen Hauptstadt Skopje für die Betreuung der kosovo-albanischen Flüchtlinge zuständig gewesen, die aus der serbischen Provinz in die ehemalige Republik Jugoslawiens Mazedonien vor den Bombardierungen fliehen konnten. Seinen vor dem Tribunal gemachten Angaben zufolge erreichten die kosovo-albanischen Flüchtlinge Skopje in einem leidlich gutem Zustand. Schußverletzungen oder Verletzungen, die von Schlägen mit Knüppeln oder Gewehrkolben hätten stammen können, seien vom Medizinischen Notdienst nicht zu versorgen gewesen. Die Flüchtlinge seien passend bekleidet und mit Geld und Papieren ausgestattet gewesen; einige hätten sogar Waffen bei sich getragen. Diejenigen, die noch im März 1999 Skopje erreicht hätten, hätten als Grund für ihre Flucht die Bomben der NATO genannt. Ab Anfang April hätten sich die Erklärungen der Flüchtlinge, nachdem sie in den Auffanglagern Stenkovac 1 und 2 untergebracht worden waren, jedoch schlagartig geändert. Von nun an hieß es einhellig, daß sie von der (serbischen) Polizei und dem (jugoslawischen) Militär vertrieben worden seien und daß auf sie geschossen worden sei. Aleksovski fügte vor dem Tribunal jedoch hinzu [8]:

Auf der Grundlage dessen, was wir sahen, hatten wir nicht den Eindruck, daß das wirklich der Fall war.

Der mazedonische Mediziner führte seine Zweifel noch näher aus, ohne daß dies in der westlichen Presse auf Interesse oder einen nennenswerten Widerhall gestoßen wäre [8]:

Und wir haben täglich mit Menschen in dieser Lage zu tun, auch heute noch. Ich kann also dazwischen unterscheiden, wie Leute aussehen. Meine Eindrücke sind nun die: Menschen in schwieriger Lage, die keine Bekleidung haben, die angegriffen und verletzt wurden, die wissen, was es heißt, von jemandem Hilfe und Betreuung zu erhalten. Ich weiß, wie glücklich die Gruppe aus Bosnien war, wenn wir ihnen eine Konserve, ein Stück Brot oder ein Joghurt gaben. Und ich sah mit diesen meinen eigenen Augen - und das ist allgemein bekannt -, daß diese Leute [die kosovoalbanischen Flüchtlinge] kein mazedonisches Brot essen wollten, kein Brot aus Skopje, sie wollten Brot aus Tetovo essen, sie machten da einen Unterschied, und das heißt, daß sie es nicht ganz so dringend brauchten ... Sie machten auf mich überhaupt nicht den Eindruck, als wären sie Menschen in Not, und besonders in diesen Lagern Stenkovac.

Die Frage nach den Kriegslügen, die in diesen Krieg geführt haben und die in der Folgezeit so weit wie möglich aufrechterhalten wurden, um die Verantwortung von den Schultern der eigentlichen Initiatoren auf die der Kriegsverlierer umzulasten, wird im weiteren Verlauf dieser Reihe noch intensiver erörtert werden. Der keineswegs unerheblichen Beteiligung bundesdeutscher Spitzenpolitiker gebührt dabei eine besondere Aufmerksamkeit.


Anmerkungen

[1] Petra Ensminger im Gespräch mit Willy Wimmer, Ehemaliger Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, DeutschlandRadio, 10. Februar 2001: Interview am Morgen. Zitiert aus: Kosovo: Eine Kriegslüge nach der anderen entlarvt - doch Berlin schweigt; Uni Kassel, AG Friedensforschung, Peter Strutynski, Nora-Platiel-Str. 5, 34109 Kassel, eMail: strutype@uni-kassel.de; http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/NATO-Krieg/wimmer.html; Download vom 4.11.2009

[2] Deutscher Bundestag, http://www.bundestag.de/dokumente/ textarchiv/2009/27089796_kw39_wimmer/index.html, Download vom 5.11.2009

[3] Anzeige an den Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof vom 25. März 1999 und Nachtrag vom 1. März 2001, von René Schneider, The Schneider Institute, Direktor for Academic Law (1993), Institut für Hochschulrecht and International Law (1999) und Institut für Völkerrecht, Breul 16, 48143 Münster. Zitiert aus: http://www.nato-tribunal.de/schneider_anklage.htm, Download vom 4.11.2009

[4] Vom Luftkrieg zur Bodenoffensive, Die deutsche Regierung drängte 1998/99 immer wieder auf eine Eskalation in der NATO-Strategie gegen Jugoslawien, junge Welt, 19.12.2007, S. 3; darin aus: Kriegslügen. Der NATO-Angriff auf Jugoslawien, von Jürgen Elsässer, komplett aktualisierte Neuauflage, Verlag Kai Homilius, Berlin 2008

[5] Kosovo-Krieg vor zwei Jahren: Begann alles mit einer Lüge? - Zum Streit um die Informationspolitik der Bundesregierung, von Winfried Nachtwei, 12.03.2001, http://www.nachtwei.de/index.php/articles/277, Download vom 3.11.2009

[6] Die Instrumentalisierung der Toten von Srebrenica, von Helga Dieter, Beauftragte für die Aktion "Ferien vom Krieg" des Komitees für Grundrechte und Demokratie für Flüchtlings- und Waisenkinder aus allen Teilen des ehemaligen Jugoslawiens, vom 01.02.2000; aus: "Komitee für Grundrechte und Demokratie - Jahrbuch 2002/2003", Köln, Dezember 2003, Monatskalender November 2002

[7] Wachsende Kritik am Kosovo-Krieg der Nato, Friedensforscher erheben heftige Vorwürfe gegen Bundesregierung, von Verena Nees, 19.06.2001, World Socialist Web Site (WSWS), herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale (IKVI), http://www.wsws.org/de/2001/jun2001/koso-j19.shtml, Download vom 3.11.2009

[8] Srebrenica und das Video, von Dr. Werner Sauer, Graz, 18. Juli 2005 bis Ende Juli 2005, www.labournetaustria.at/archiv41.htm

(Fortsetzung folgt)

6. November 2009