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STANDPUNKT/016: Wie in Italien im Umfeld der radikalen Linken die Brigate Rosse entstanden - 1. Teil (Gerhard Feldbauer)


Wie an der Wende zu den 1970er Jahre in Italien im Umfeld der radikalen Linken die Brigate Rosse entstanden

Wie die Geheimdienste der USA und ihre italienischen Komplizen darauf von Anfang an Einfluß nahmen
Mit verheerenden, bis in die Gegenwart reichenden Folgen

Eine Spurensuche auf den Pfaden der Geschichte
1. Teil: Die Gründergeneration unter Curcio-Franceschini 1969-1974/75

von Gerhard Feldbauer, 31. August 2019


In seiner Arbeit »Der 'linke Radikalismus', die Kinderkrankheit im Kommunismus« [1] hat Lenin dessen schädliche und gefährliche Auswirkungen auf die Arbeiterbewegung tiefgründig herausgearbeitet. Er charakterisierte sie als eine pseudorevolutionäre, linksopportunistische, sektiererische Strömung, die zur Ablehnung der Bündnispolitik, zur Isolierung von den arbeitenden Massen führt.

Zur Einführung in das Thema

Die Bildung des Collettivo Politico Metropolitano in Italien vor 50 Jahren im September 1969 als Vorläufer der ein Jahr später gegründeten linksextremen Brigate Rosse (BR) sehe ich als Anlass, sich mit den bis in die Gegenwart wirkenden und in der tiefen Krise der Linken sich zeigenden verhängnisvollen Folgen dieser Strategie des individuellen Terrors zu befassen. Dabei sollen die vielseitigen Aspekte, darunter die Differenzierung in eine »moderate«, unter den Gründern Renato Curcio und Alberto Franceschini verfolgte Linie, und des im Ergebnis der Manipulierung durch die CIA durchgesetzten terroristischen Tötungskurses, aber auch die Unterschätzung dieser Gefahr, die ja nun nicht mehr als »eine Kinderkrankheit« betrachtet werden konnte, durch die Kommunistische Partei Italiens (IKP) und die fehlende, der Situation entsprechende Auseinandersetzung mit ihr, einbezogen werden. Was auch unter dem Gesichtspunkt zu sehen ist, dass in der IKP selbst die andere Erscheinung, die des rechten Opportunismus in Gestalt einer reformistischen, an der Sozialdemokratie orientierten Strömung, Fuß fasste und auf die nicht grundsätzlich abzulehnende Zusammenarbeit mit der großbürgerlichen Democrazia Cristiana (DC), die »Historischer Kompromiss« genannte Bündnispolitik, Einfluss nahm.

Der von den BR wie von einigen anderen linksextremen Gruppen später praktizierte individuelle Terror mit Mordanschlägen arbeitete als eine dem Marxismus fremde und den revolutionären Zielen der Arbeiterbewegung schädliche Taktik der von der CIA und der italienischen Reaktion verfolgten »Spannungsstrategie« zur Errichtung eines faschistischen Regimes »der starken Hand« in die Hände. Zum individuellen Terror hatte Lenin bereits nach dem Attentat seines ältesten Bruders Alexander Iljitsch Uljanow [2] am 1. März 1887 auf Zar Alexander III. Stellung genommen. Sein Bruder gehörte der kleinbürgerlich-demokratischen Gruppe der Narodniki (Volkstümler) an. Der Anschlag scheiterte und Alexander wurde mit weiteren Attentätern am 20. Mai 1887 mit 21 Jahren hingerichtet. Lenin würdigte den Mut seines Bruders, lehnte jedoch den Weg des terroristischen Kampfes ab. »Nein, wir werden einen solchen Weg nicht gehen«, beschloss er, »einen solchen Weg dürfen wir nicht gehen«. [3] Nicht zuletzt wird an den folgenden Darlegungen wieder einmal ersichtlich, wie aktuell Lenins Ansichten dazu noch heute sind.

Erster Teil
Die Gründergeneration unter Curcio-Franceschini 1969-1974/75

Ende der 60er Jahre entstand in Italien eine radikale Linke, die sich als Teil der in diesen Jahren in den USA, Lateinamerika, Westeuropa, Japan und in einigen Entwicklungsländern entstandenen so genannten Neuen Linken betrachtete.

Die radikale italienische Linke

Auf die größtenteils aus jungen Menschen, überwiegend Intellektuellen und Studenten, bestehende Bewegung wirkten viele Faktoren ein: Die barbarische Aggression der USA gegen Vietnam, die Black Power in Nordamerika, der Guerillakampf im Süden des Kontinents, der vielerorts siegreiche Befreiungskampf in Asien, Afrika und Lateinamerika, auch die palästinensische Bewegung. Ein erster Höhepunkt der »Neuen Linken« war in Westeuropa die studentische Protestbewegung 1968, der 1969 der »heiße Herbst« der Arbeiterbewegung folgte. Die linksradikalen Gruppen orientierten sich an oft extrem unterschiedlichen Leitfiguren wie Ernesto Che Guevara und Daniel Cohn-Bendit, Ho Chi Minh und Mao Zedong, Malcolm X, Stokely Charmichael und Patrice Lumumba, Jean Paul Sartre und Frantz Fanon, Rudi Dutschke, Benno Ohnesorg und Ulrike Meinhof.

Die bekanntesten Organisationen des linksradikalen Spektrums in Italien waren Lotta Continua und Potere Operaio. Anhänger beider Gruppen, denen deren Kurs nicht radikal genug war, gründeten Mitte der 70er Jahre die Autonomia Operaia. Den extremen Flügel der radikalen Linken bildeten die Brigate Rosse, eine Prima Linea und die Nuclei Armati Proletari. [4] Lotta Continua und Potere Operaio praktizierten Gewalt und bewaffnete Auseinandersetzungen, verfielen jedoch nicht dem Extremismus der drei letztgenannten Gruppen. Das ist im Zusammenhang damit zu sehen, daß vor allem diese Gruppen und hier in erster Linie die Brigate Rosse Objekt der Infiltration durch Polizei und Geheimdienste waren.

Triebkraft soziale Misere

In Italien, das im Mezzogiorno, der bereits in den Elendsvierteln am südlichen Stadtrand von Rom begann, Merkmale eines Entwicklungslandes aufwies, wirkte die soziale Lage als Triebkraft des Linksradikalismus unvergleichlich stärker als in westlichen Ländern nördlich der Alpen. Hier fanden radikale Forderungen unter den von den Krisenauswirkungen besonders betroffenen Bevölkerungsschichten - Arbeitslosen, Akademikern, perspektivlosen Jugendlichen, Studenten - zunehmend Anklang. Unter ihnen befanden sich Angehörige der städtischen Mittelschichten, Vertreter der Intelligenz, die einen hochgradigen Proletarisierungsprozeß erlebten. In den 70er Jahren gab es zwei Millionen Arbeitslose, darunter 350.000 mit Hochschulabschluß, und drei Millionen Kurzarbeiter. 50 Prozent der Hochschulabsolventen gingen einer Arbeit nach, die weit unter ihrer Qualifikation lag. Akademiker arbeiteten als Verkäufer, Sekretäre, Taxifahrer, Busschaffner, ja selbst als Straßenkehrer. Trotzdem nahmen Zehntausende Jugendliche weiterhin ein Studium auf. Die Universitäten wurden so zu »Parkplätzen« für Arbeitslose und gleichzeitig zu Zentren linksradikaler Umtriebe. Anhänger fanden die radikalen Studenten vor allem unter den Jugendlichen in den Armenvierteln der Großstädte. »In Rom ist ein großer Teil des ärmsten Proletariats der Vorstadtghettos in der Autonomia Operaia (Arbeiterunabhängigkeit) gelandet«, schrieb »Panorama« in seiner Nr. 571/1977.

Als ein weiterer Motor des Linksradikalismus waren die historischen Wurzeln des Anarchismus zu sehen. Hatte doch einer der bekanntesten Führer aus der Entstehungszeit des Anarchismus, Michail Alexandrowitsch Bakunin, von 1864 bis 1867 dort gewirkt, im Auftrag von Karl Marx die erste italienische Sektion der IAA gegründet und Grundlagen für den Beginn der revolutionären Arbeiterbewegung gelegt.

Das Attentat auf der Piazza Fontana

Die radikale italienische Linke entstand im Widerstand gegen die faschistischen Umtriebe, die verfassungsmäßige Ordnung zu stürzen und eine am Erbe Mussolinis orientierte Diktatur zu errichten. Ein bestimmender Faktor, der den italienischen Linksradikalismus und in den 70er Jahren den von den meisten dieser Gruppen geführten bewaffneten Kampf gegen den Repressionsapparat des herrschenden Regimes stimulierte, war das Blutbad auf der Piazza Fontana in der Mailänder Landwirtschaftsbank am 12. Dezember 1969. An diesem Tag explodierte um 16.37 Uhr eine mehrere Kilogramm schwere Bombe. 14 Menschen waren sofort tot, zwei weitere starben im Krankenhaus, etwa 100 wurden verletzt. Die Attentäter waren zwei bekannte neofaschistische Terroristen, Franco Fredda und Giovanni Ventura. Organisator des Anschlags war der Chef der faschistischen Terrorbanden des MSI [5] Pino Rauti, Jahrgang 1926, ein Altfaschist aus Mussolinis Sàlo-Republik [6], der als Freiwilliger in den Schwarzhemden, einer italienischen SS, an der Seite der Hitlerwehrmacht gekämpft hatte. Als angebliche Täter wurden jedoch jahrelang Anarchisten und andere außerparlamentarische Linke verfolgt. Es war der erste Akt der Spanungsstrategie der CIA, der dem im Dezember 1970 unter dem MSI-Vorsitzenden Valerio Borghese [7] mit Hilfe von Nato-Militärs versuchten Putsch zur Errichtung eines Regimes der »Starken Hand« zur Ausschaltung der Linken den Weg ebnen sollte.

Gramsci ein Bezugspunkt

Schließlich ergaben sich Unterschiede gegenüber anderen westeuropäischen Ländern daraus, daß die »Neue Linke« in Italien stärker aus der Arbeiterbewegung und ihren Parteien hervorging und außerdem über eine bestimmte Massenbasis verfügte, vor allem unter den Arbeitern der Turiner Werke von FIAT, des größten Privatkonzerns des Landes. Für die kämpferischen Traditionen der Industrie- und Arbeitermetropole, auf die sich die BR unter der Führung von Curcio und Franceschini beriefen, standen unter anderem folgende Ereignisse: Im August 1917 der Arbeiteraufstand gegen den imperialistischen Krieg, zu dessen Organisatoren Gramsci gehörte, der dann 1920, Monate vor der Gründung der IKP am 21. Januar 1921, im FIAT-Werk die erste kommunistische Zelle bildete. Von Turin, wo die Arbeiter im April 1945 die Werke des Kriegsproduzenten Agnelli besetzten und die Konzernleitung davonjagten, ging der bewaffneten Aufstand aus, mit dem die italienische Resistenza einen großen Beitrag zum Sieg über den Faschismus leistete. Bei FIAT fanden in der Nachkriegsgeschichte die entschiedensten Arbeiterkämpfe statt, gegen die die Agnellis rücksichtslos ihre privaten Knüppelgarden einsetzten.

7.000 bis 11.000 im bewaffneten Kampf

Während die RAF in der Bundesrepublik sich zum großen Teil aus Intellektuellen zusammensetzte und nicht viel mehr als 1000 aktive Anhänger zählte, haben in Italien, wie Primo Moroni in »Die Beute« Nr. 2/1994 schrieb, »zwischen 7000 und 11000 den bewaffneten Kampf praktiziert«. Die zum linksradikalen Spektrum zählende Democrazia Proletaria, die sich nach der Einstellung des bewaffneten Widerstandes 1976 an den Parlamentswahlen beteiligte, erreichte 1,5 Prozent Stimmen, was etwa einer halben Million Wähler entsprach.

Zu den Brigadisten, die aus den Reihen der Arbeiterparteien kamen, gehörte Alberto Franceschini, mit Curcio Gründer der BR und bis zu seiner Verhaftung 1975 die Nummer zwei der Organisation. Er war Sohn eines Kommunisten und bis zu seinem Austritt aus der IKP 1969 selbst leitender Funktionär ihres Jugendverbandes. Roberto Ognibene, ebenfalls zur Gründergeneration der BR gehörend, war Sohn eines sozialistischen Stadtrates in der Emilia Romagna. Wie Franceschini gab es nicht wenige Linksradikale, die Söhne, Töchter oder Enkel von Kommunisten und Sozialisten waren, darunter auch von Partisanen der Resistenza. Die Zeitschrift, die die BR längere Zeit herausgaben, trug den Namen »Nuova Resistenza«. Viele italienische Linksradikale glaubten, mit dem bewaffneten Widerstand gegen das herrschende Regime und seinen brutal gegen sie vorgehenden Repressionsapparat im Geist der Resistenza zu handeln, in der Tradition des Volkshelden Garibaldi zu stehen, wie überhaupt vom Recht der Unterdrückten auf bewaffneten Widerstand gegen eine Ausbeuterherrschaft Gebrauch zu machen.

Gegner des Compromesso storico

Ein radikale Tendenzen begünstigender Faktor war schließlich die Politik des Compromesso storico, mit dem sich die IKP das Ziel stellte, in einer von der Democrazia Cristiana geführten bürgerlichen Regierung mitzuarbeiten. Obwohl offiziell erst nach dem faschistischen Putsch in Chile verkündet, begann sie in ihrer Orientierung bereits Mitte der 60er Jahre und führte 1968/69 auf Betreiben der in der IKP Fuß fassenden sozialdemokratischen Strömung zum Ausschluß von über 10.000 Mitgliedern der innerparteilichen Opposition bzw. zum Verlassen der Partei von Opponenten. Sichtbar wurde diese Haltung vor allem nach den Anschlägen am 12. Dezember 1969 in Mailand. Die IKP ging auf Distanz und ließ es an einer klaren Solidarität mit den unschuldig eingesperrten und angeklagten Anarchisten und außerparlamentarischen Linken fehlen.

Zwei Linien in den Brigate Rosse

In bürgerlichen Darstellungen über die BR herrscht in der Bundesrepublik durchgängig deren Charakterisierung ausschließlich als terroristische Organisation vor. Abgesehen davon, daß kaum die sozialen Wurzeln und politischen Ursachen (neofaschistische Gefahr und mit dieser liierte staatliche Repression) aufgezeigt werden, fehlt eine Differenzierung der politischen Linie der BR unter der Führung von Curcio und Franceschini bis 1974/75 und dem unter Mario Moretti und Corrado Simioni einsetzenden Tötungskurs. Unter Curcio und Franceschini orientieren sich die BR in ihrer Anfangsphase auf die Arbeiterbewegung und postulierten sich als eine deren Interessen wahrnehmende radikale Organisation. Die blutige Etappe der BR, die »bleiernen Jahre«, begannen unter Moretti/Simioni und in diesem Zusammenhang mit der verstärkten Infiltration durch V-Leute und Einflußagenten der Polizei und Geheimdienste. Hinzuzufügen ist, daß jedoch auch linke Darstellungen, darunter marxistische, von einer in dieser Hinsicht eingeengten Sicht nicht frei sind.

Die programmatischen Grundsätze der BR entsprangen in der Gründungsphase dem ungestümen Aufbegehren einer jungen Generation, die sich dem beginnenden reformistischen und auf Klassenzusammenarbeit mit der Bourgeoisie ausgerichteten Weg der IKP entgegenstellten.

Der Einfluß Mao Zedongs

Es gelang ihnen insgesamt jedoch nicht, ein dem Reifegrad und den Kampfbedingungen der italienischen Arbeiterbewegung entsprechendes revolutionäres Programm auszuarbeiten und zu praktizieren. Das war nicht unwesentlich auf den damaligen Einfluß der von Mao Zedong geprägten Ideologie der KP Chinas zurückzuführen und später vor allem auf den pseudorevolutionär getarnten Einfluß von Geheimdienstagenten. Es gab aber zu Beginn einige marxistische Ansätze in den programmatischen Dokumenten der BR, die von Antonio Gramsci ausgingen, aber auch Ideen des Mitbegründers der IKP, Amadeo Bordiga, der zum Linkssektierertum neigte, beeinflußten die Gründergeneration. [8]

»Offen gesagt«

Renato Curcio und Mauro Rostagno, beide Studenten der Soziologischen Fakultät von Trentino, verfassten im Herbst 1968 die Schrift »Fuori dei Denti« (Offen gesagt), in der die Autoren sich grundsätzlich zur Studentenbewegung und zur Strategie der Neuen Linken in Italien äußerten. Sie wiesen darin die Losung »Fascisti, Borghesi, ancora pochi Mesi« (Faschisten, Bourgeois, Ihr habt nur noch wenige Monate) zurück und wandten sich gegen »Abenteurertum« in jeglicher Form. »Das ist kein revolutionärer, sondern ein vorrevolutionärer Moment. Daher muß gesagt werden, daß es Abenteurertum entspricht, die Massen glauben zu machen, daß die Machtübernahme eine leichte und schnelle Angelegenheit sei. Es muß im Gegenteil betont werden: Es wird ein schwieriger und langwieriger Prozeß sein.« [9]

Das Collettivo Politico Metropolitano

Auf dieser Grundlage entstand am 8. September 1969 in Mailand das Collettivo Politico Metropolitano (Politisches Großstadtkollektiv), das in seiner Entschließung darauf orientierte, »die vielen sozialen Einpunkt-Kämpfe in einen homogenen sozialen Kampf zu transformieren«. Auf einem Kongreß in Chiavari bei Genua im Dezember 1969 ging Curcio von Gramscis Begriff des »Stellungskrieges« als einer langen Periode von Klassenkämpfen aus, in denen die Revolution nicht auf der Tagesordnung steht, und erklärte: Es gehe daher »nicht so sehr darum, sofort zu siegen und alles zu erobern, sondern in einem lang andauernden Kampf zu wachsen und die mächtigen Hindernisse, die die Bewegung auf ihrem Weg antrifft, dazu zu benutzen, den Sprung von einer spontanen Massenbewegung zu einer organisierten, revolutionären Bewegung zu schaffen.« [10] Es gelang den Gruppen des Großstadtkollektivs, bei FIAT, Pirelli, Sit Siemens und in weiteren Betrieben Zellen zu bilden und den radikalsten Teil der Arbeiter anzuführen. Franceschini schätzte ein: »Bei Pirelli kannten sie (die ArbeiterInnen) uns alle, Namen für Namen. >Heimlich< bewegten wir uns dort nur in dem Sinne, daß wir in der Clandestinität der Massen lebten, deren proletarisches Gesetz des Schweigens all' unsere illegalen Handlungen nach außen zu verbergen wußte.« [11] Auch Versammlungen, die die BR in Arbeitervierteln von Mailand, Turin, Genua und anderen Städten organisierten, fanden beträchtlichen Zulauf. Ihr Aktionsradius blieb jedoch fast ausschließlich auf den industrialisierten Norden beschränkt. Erst Mitte der 70er Jahre begaben sie sich nach Rom, wo unter Moretti dort dann eine Kolonne aufgebaut wurde.

Strategische Fehleinschätzungen

Strategische und taktische Fehleinschätzungen der Gründergeneration der BR lagen unter anderem in einer nicht vorhandenen Differenzierung der Staatsmacht, darunter liberaler Kräfte, wie sie Moro repräsentierte, oder in der Definition des Neofaschismus. Das Paktieren mit neofaschistischen Kräften, die Nutzung ihres Potentials oder die Anwendung extremer Methoden durch den bürgerlichen Repressionsapparat wurden gleichgesetzt mit Faschismus. Das zeigte sich im Fall des entführten Genueser Richters Mario Sossi, den die BR in Plakat-Aktionen als Faschisten anprangerten, oder wenn die Nutzung der neofaschistischen CISNAL-Gewerkschaft durch FIAT-Manager zur Unterdrückung des Widerstandes der Arbeiter als »FIAT-Faschismus« charakterisiert wurde. Übersehen wurde dabei zum Beispiel, daß sich die Agnellis auf Grund der Konkurrenzsituation zur amerikanischen Industrie der Weltgendarmenrolle der USA und ihrer Vorherrschaft in Italien in bestimmtem Maße widersetzten. Ab Mitte der 70er Jahre favorisierte Gianni Agnelli Moros Politik des Historischen Kompromisses mit der IKP, weil er darauf setzte, daß die Kommunisten sich in der Regierungsverantwortung verschleißen würden.

Die Brigadegründung

Die Konstituierung als Brigate Rosse erfolgte im August 1970 auf einer Beratung in Pecorile in der Emilia Romagna. Mit der Bezeichnung Brigate wollte man, wie Curcio erklärte, an der Struktur der Partisanen anknüpfen. Die Farbe »rot« entnahm man dagegen nicht aus den Fahnen der Arbeiterbewegung, sondern von der RAF. Mara Cagol, Curcios Frau, begründete das damit, daß »die Befreiung von Andreas Baader durch die Genossen der Roten Armee Fraktion, die erste Stadtguerillaaktion in Europa« gewesen sei. »Armee« hielt man auf sich bezogen für »etwas übertrieben«, aber »Brigate Rosse« fand man in Ordnung. Ihren fünfzackigen Stern im Kreis bildeten die Roten Brigaden laut Curcio dem »schiefen Stern der Tupamaros« nach. [12] Nach dieser Namensgebung organisierten sich die BR in Mailand, Turin, Genua sowie weiteren Städten und später in Rom in Kolonnen.

»Bewaffnete Propaganda«

Unter Führung von Curcio und Franceschini praktizierten die BR die sogenannte »bewaffnete Propaganda«, Aktionen zur Einschüchterung der Konzernmanager und gleichzeitig zur Unterstützung der sozialen Kämpfe der Arbeiter, vor allem ihrer Tarifkämpfe. Brandsätze wurden geworfen und Fahrzeuge in Brand gesetzt, das Wirken der neofaschistischen, im Dienst der Unternehmer stehenden Gewerkschaft CISNAL und ihrer Unternehmerspitzel entlarvt und diese oft auch verprügelt. Es wurden die Auflösung der privaten Werkspolizei gefordert, Sabotage im Produktionsprozeß organisiert, die Aufhebung des mörderischen Akkordtempos verlangt und viele ähnliche Aktionen durchgeführt. Später gingen die BR dazu über, Personen, darunter auch solche aus dem Repressionsapparat der Justiz, zu entführen, die sie in der Phase unter Curcio und Franceschini nach einiger Zeit wieder freiließen. An dem Zuspruch, den die BR, wenn auch in begrenzter Weise, zu dieser Zeit unter Arbeitern fanden, zeigte sich, daß sie in Lücken stießen, die durch die Aufgabe kämpferischer Positionen durch die IKP in den Betrieben entstanden. Ihre Aktionen übten auch einen gewissen Druck auf die IKP und die von ihr dominierte Gewerkschaft CGIL aus, diesen Feldern in der sozialen Auseinandersetzung wieder stärker Rechnung zu tragen.

In den Versuchen, in den Betrieben Fuß zu fassen, widerspiegelt sich die bereits erwähnte Anknüpfung Curcios an Gramsci, konkret seiner Auffassung zur Rolle der Fabrikräte als Machtorgane der Arbeiterklasse in den mit dem Turiner Aufstand 1917 beginnenden revolutionären Kämpfen. Curcio und anderen Brigadisten wollten den Arbeitern in der Auseinandersetzung mit den Padroni Machtpositionen in den Betrieben verschaffen. Allerdings schlugen sich Curcios Gedanken in keinen weiteren politischen Leitsätzen oder programmatischen Papieren nieder. Das mußte sich zwangsläufig vor allem daraus ergeben, daß zwischen dem von Curcio 1969 postulierten Anknüpfen an Gramsci und dem im Herbst 1970 eingeschlagenen Kurs der »bewaffneten Propaganda« ein tiefer Widerspruch klaffte. Diese Vorgehensweise entsprang auch bereits in der frühen Phase letzten Endes den Methoden des individuellen Terrors oder kam ihnen nahe. Sie öffnete dem Abenteurertum, gegen das sich die BR-Gründer doch ausgesprochen hatten, Tür und Tor und machte die Roten Brigaden für die bereits gegen sie konzipierte Infiltration und Manipulierung durch die Geheimdienste anfällig.

Zu den Aktionen

Die erste Aktion der »bewaffneten Propaganda« war am 17. September 1970 das Anzünden des Pkw des Siemensmanagers Giuseppe Leoni in Mailand, nachdem anschließend eine Liste mit Namen der »Spitzel der Padroni«, die von »der proletarischen Rache getroffen werden müßten«, verteilt wurde. Weitere Aktionen in Robin-Hood-Manier waren Brandanschläge auf die Autos des Sicherheitschefs (27. November) und des Personalchefs (8. Dezember) von Pirelli in Mailand und am 25. Januar 1971 auf acht Lkws des Reifenkonzerns. Am 3. März entführten Brigadisten den verhaßten Spitzenmanager Idalgo Macchiarini, Direktor für Arbeitsorganisation, darunter auch für die Geschwindigkeit der Fließbänder. Sie hielten ihn 20 Minuten lang fest und fotografierten ihn mit einem Schild auf der Brust, auf dem stand: »Zuschlagen und abhauen! Nichts wird ungestraft bleiben! Einen treffen, um Hundert zu erziehen!« Auf einem Flugblatt klagten die BR Macchiarini der Kollaboration mit den Neofaschisten an. Die Entführung löst unter den Pirelliarbeitern wahre Begeisterungsstürme aus, wurde gleichzeitig aber von einem Rechtsruck in der DC und einer Repressionswelle begleitet. 1972 wurde der DC-Bewerber Giovanni Leone nur dank der Stimmen der neofaschistischen MSI-Partei zum Staatspräsidenten gewählt. Im Januar 1973 wurden Protestdemonstrationen gegen den MSI-Parteitag in Rom von der Polizei blutig niedergeschlagen.

Die BR antworteten darauf am 12. Februar 1973 morgens in Turin mit der Entführung des Provinzsekretärs der CISNAL-Gewerkschaft Bruno Labate. Vier Stunden befand er sich in ihrer Hand, ehe sie ihn mittags vor den Augen der FIAT-Belegschaft an einem Lichtmast vor dem Werktor des Betriebes anketteten. Kein Arbeiter rührte eine Hand, ihn zu befreien. Erst die von der Konzernleitung herbeigerufenen Carabinieri holten den Neofaschisten von seinem Pranger. Auf einem Schild, das ihm um den Hals gehängt worden war, stand: »Das ist Bruno Labate, Provinzsekretär der CISNAL, einer faschistischen Pseudo-Gewerkschaft, die die Unternehmer in den Fabriken am Leben erhalten, um die Arbeiter zu spalten, um die Streikbrecher zu organisieren, um Aggressionen und Provokationen gezielt einzusetzen, um alle möglichen Arten von Spitzeln in die Abteilungen einzuschleusen.« Nachdem am 28. Juni 1973 der Manager von Alfa Romeo Michele Micuzzi entführt, aber nach wenigen Stunden wieder freigelassen worden war, wurde am 10. Dezember der Personalchef von FIAT, Ettore Amerio, der eng mit der CISNAL zusammenarbeitete, als Geisel genommen.

Die neue Qualität dieser Aktion bestand darin, daß Amerio eine Woche lang festgehalten und für seine Freilassung erstmals Bedingungen gestellt wurden. Die BR verlangten die Rücknahme von angekündigten Maßnahmen zur Kurzarbeit bzw. von Entlassungen, Aussagen Amerios über Umstrukturierungsmaßnahmen und das Spitzelsystem der CISNAL sowie eine wahrheitsgemäße und vollständige Berichterstattung in der FIAT-Zeitung »La Stampa« sowie im »Corriere della Sera«, an dem Agnelli Anteile besaß. Den Forderungen wurde im Wesentlichen entsprochen. Besonders die Rücknahme der Entlassungen erhöhte das Prestige der BR unter den FIAT-Arbeitern. [13]

Individueller Terror schwächte die Arbeiterbewegung

Dieser zeitweilige Widerhall konnte freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Aktionen weder der von den BR beanspruchten Rolle einer »kommunistischen Avantgarde« entsprachen, noch der bei der Gründung des Großstadtkollektivs im September 1969 proklamierten Aufgabe, »die vielen sozialen Einpunktkämpfe in einen homogenen sozialen Kampf zu transformieren«. Die Aktionen blieben im Gegenteil, um bei der Wortwahl zu bleiben, »Einpunktkämpfe«, bei denen zudem die Arbeiter ausgeschlossen, zu passiven Zuschauern degradiert wurden. Um soziale Forderungen durchzusetzen, mußten die Massen aber in die Kämpfe einbezogen werden, damit sie in den gemeinsamen Aktionen Bewußtsein entwickeln und auf einen revolutionären Anlauf vorbereitet werden konnten, dessen Zeitpunkt nicht vorhersehbar war.

Seit den schweren Niederlagen der Anarchistenaufstände in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts gehörte es zu den wichtigsten Lehren der italienischen Arbeiterbewegung, daß individueller Terror keine Massenkämpfe ersetzen kann. Der später unter Moretti/Simioni forcierte individuelle Terror in Form zahlreicher Morde schwächte die Arbeiterbewegung, indem er sie der verstärkt einsetzenden Repression des Staatsapparates, dem damit die willkommenen Begründungen für das Vorgehen gegen Links geliefert wurden, aussetzte und ihre politisch-ideologische Entwicklung hemmte. Schließlich war der Haß von Brigadisten wie Moretti und anderen gegenüber der IKP, deren über zwei Millionen Mitglieder ja mehrheitlich aus der Arbeiterklasse kamen, nicht zu rechtfertigen - auch nicht mit den zunehmenden reformistischen Tendenzen, die in Gestalt des Historischen Kompromisses zu einer Klassenzusammenarbeit auch mit rechten Kräften in der DC führten. Eine erschreckende Konsequenz dieses Hasses war es, daß die BR im Januar 1979 ein IKP-Mitglied, den Arbeiter Guido Rossa von den Italsider-Stahlwerken, ermordeten, weil er einen ihm bekannten Brigadisten bei der Polizei angezeigt hatte. Den Schaden, den die BR unter Moretti in der Arbeiterbewegung und der Linken anrichteten, faßte Rossana Rossanda im Interview mit Moretti in dem Satz zusammen: »Krieg in Deinen Kopf, daß Ihr auf die Bewegung und nicht auf den Staat geschossen habt«. [14]

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:

[1] Werke, Bd. 31. Berlin/DDR, 1959, S. 8 bis 106.

[2] Uljanow, bürgerlicher Name Lenins.

[3] Siehe W. I. Lenin. Biographie. Berlin/DDR 1982, S. 29, auch Unser Bruder Wodja. Berlin/DDR 1956, S. 20 ff.

[4] Die Studie befasst sich im Wesentlichen mit den BR.

[5] Movimento Sociale Italiano. Unter diesem Namen wurde am 26. Dezember 1946 die verbotene faschistische Partei Mussolinis wieder gegründet.

[6] Die nach dem Sturz Mussolinis im Juli 1943 und der Okkupation Nord- und Mittelitaliens durch die Hitlerwehrmacht unter ihrem Besatzungsregime proklamierte Repubblica Sociale Italiana (RSI, die nach ihrem Sitz in Sàlo am Gardasee kurz so bezeichnet wurde).

[7] Borghese war unter Mussolini in der RSI Chef der berüchtigten Decima Maas, der zur Partisanenbekämpfung eingesetzten 10. Torpedoboot-Flottille. Er wurde 1946 wegen wenigstens 800fachen Mordes als Kriegsverbrecher verurteilt, aber im Rahmen der so genannten »Amnestie der Versöhnung« bereits 1947 begnadigt.

[8] Giorgio Galli: Il Partito armato. Gli »Anni di piombe« in Italia, 1968-1986. Mailand 1993, S. 58.

[9] Renato Curcio/Mauro Rostagno: Fuori dei Denti. Neuauflage Mailand 1980, S. 85 f.

[10] Stefan Seifert: Lotta armata. Bwaffneter Kampf in Italien. Die Geschichte der Roten Brigaden. Berlin, Amsterdamm 1991, S. 31 f.

[11] Ebd. S. 50.

[12] Renato Curcio: Mit offenem Blick. Berlin 1997, S. 10 f.

[13] Sergio Flamigni: Convergenze parallele. Le Brigate Rosse, i Servici segreti e il Delitto Moro. Mailand 1998, S. 98. Der Autor war als Vertreter der IKP, später Linkspartei PDS, Mitglied der Parlamentskommission zur Untersuchung des Mordes an Aldo Moro. Er hat dazu fünf Bücher verfasst. Siehe ferner Seifert, S. 37 ff.

[14] Mario Moretti: Brigate Rosse. Eine italienische Geschichte. Interview von Carla Mosca und Rossana Rossanda. Hamburg 1996, S. 200.

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Quelle:
© 2019 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. September 2019

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