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BERICHT/062: Goodbye Kant? Welcome back Kant! (Agora - Uni Eichstätt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 1 - 2007

Goodbye Kant? Welcome back Kant!

Von Giuseppe Franco


Im Jahr 1827 kam Immanuel Kants "Die Kritik der reinen Vernunft" auf den vatikanischen Index. 180 Jahre später bildet ein Kloster den Rahmen für eine Fachtagung rund um Kants Werk. Sind seine Texte noch aktuell? Oder heißt es Abschied nehmen von Kant?


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Es sind schon viele Jahre vergangen, in denen Kant als Gift und Gegner für den Katholizismus betrachtet wurde. Die Zeit ist reif, um Kants Beiträge für den religiösen Glauben in seiner wahrhaft christlichen und katholischen Gestalt zu beachten und anzuerkennen. Zum zweiten Mal war das Kloster Weltenburg im vergangenen Sommer Ort für ein Kant-Seminar zum Thema "Einführung in die Kritik der reinen Vernunft II: Transzendentale Ästhetik" unter Leitung der Professoren Norbert Fischer und Maximilian Forschner. Heuer wird die Fortsetzung am selben Ort stattfinden. Es ist bemerkenswert, wie Kant mit diesem Seminar gleichsam aus dem Index Librorum Prohibitorum herausspringt und in einem Kloster landet! Das Kloster Weltenburg, mit seiner ausgezeichneten Umgebung, hat dieses philosophische Symposium aufgenommen. Es lohnt sich daran zu erinnern, dass der angenehme Aufenthalt im Kloster ein einladender Grund ist, an diesem Seminar teilzunehmen (semel in anno licet philosophari!). Der Aufenthalt wurde auch von gemütlichem Beisammensein charakterisiert, bei dem das Weltenburger Bier als "Hauptsponsor" auftrat. Darüber hinaus begleitete die Tagung ein geistliches Orgelkonzert in der Klosterkirche (Pater Stephan) und ein Terzett von Klavier, Violine und Violoncell, das von Jeong-Hwa, Susanne und Tobias Fischer ausgeführt wurde. Zu den Referenten der Veranstaltung gehörten die Professoren Bernd Dörflinger (Präsident der Internationalen Kant-Gesellschaft und Mitherausgeber der Kant-Studien), Maximilian Forschner (Erlangen), Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Freiburg; Hauptherausgeber der Heidegger-Gesamtausgabe), Norbert Hinske (Trier; der "Philologe" unter den Kantforschern) und Clemens Schwaiger (Benediktbeuern) - allesamt durch zahlreiche Publikationen hervorragend ausgewiesene Kant-Kenner. Die Ziele des Seminars waren einerseits kompetente Einführung durch hervorragende Interpreten (deren Vorträge werden voraussichtlich 2008 im Verlag Meiner/Hamburg publiziert), andererseits die Lektüre und Diskussion der einschlägigen Texte aus der Kritik der reinen Vernunft. Professor Fischer, der Motor der Geschichte der Weltenburger-Seminare, hat diese seit dem Jahr 2000 mit großem Erfolg veranstaltet (von 2000 bis 2004 Augustinus-Seminare, gemeinsam geleitet mit Prof. Cornelius Mayer OSA; seit 2005 Seminare zu Kants Kritik der reinen Vernunft) und sie werden von Studierenden der Philosophie, von Promovenden und Promovierten, Studienräten, Professoren und interessierten Akademikern besucht.

Ein Leitmotiv, das als trait d'union der wissenschaftlichen gehaltenen Vorträge gilt, ist die Überzeugung, dass Kants kritische Philosophie als Metaphysik betrachtet werden kann. In der Kritik der reinen Vernunft geht es um eine Metaphysik der Probleme, d. h. um notwendige, aber unlösbare Aufgabe der menschlichen Vernunft. Kant bietet mit seiner Kritik eine neue Ausarbeitung der Metaphysik, die gerade deswegen zur Offenheit für Transzendenz führen kann. Mit den Worten von Hinske kann man die Kritik als eine doppelte Grenzbestimmung betrachten. Einmal gegenüber der theoretischen Metaphysik, von der Kant glaubt, dass diese Metaphysik die Möglichkeit des Menschen überfordert. Aber sie ist zugleich auch eine Grenzbestimmung gegenüber den aufkommenden Wissenschaften, also gegenüber dem Determinismus, Psychologie und dem Materialismus.

Die Kritik der reinen Vernunft ist eine kritische Analyse der Grundlagen ihres Wissens, sie ist eine Vor-Untersuchung auf die Grenzen und Ansprüche von der Erkenntnis. Die menschliche Vernunft wird durch ihre eigene Natur ständig dazu gebracht, die Grenzen der sinnlichen Erfahrung zu überschreiten und sich mit den großen metaphysischen Fragen zu konfrontieren. Sie kann aber auf diese Fragen keine sicheren und endgültigen Antworten geben. Warum, fragt sich der Philosoph von Königsberg, haben die Wissenschaften Mathematik und Physik sensationelle Fortschritte gemacht, während die Metaphysik immer auf der gleichen Stelle geblieben ist? Seine Antwort ist, dass der Misserfolg der Metaphysik nicht von der Höhe und von der Schwierigkeit der Gipfel verursacht wird, auf den sie abzielt, sondern von der falschen Wahl des Weges. Die Unzerstörbarkeit der Metaphysik, als Äußerung eines unbeseitigbaren Bedürfnisses der Vernunft, ist ein wiederkehrendes Motiv in der kritischen Philosophie.

Obwohl die Vernunft nicht in der Lage ist, theoretisch das Dasein Gottes zu beweisen, ist sie doch in der Lage, die theoretische Haltlosigkeit der verschiedenen Formen theologischer Negation zu beweisen: Sie richtet sich beispielsweise gegen den Materialismus, gegen den Fatalismus und gegen den Atheismus. Die Kantische Kritik ist weit davon entfernt, eine Zerstörung der Theologie zu sein; sie eröffnete auf mehrfache Weise den Platz für Formen von Theologie, die - nach der Meinung Kants - radikaler begründet und ausführlicher entwickelt sind: die moralische Theologie und die offenbarte Theologie. Der Ausschluss der Möglichkeit, Dinge an sich zu wissen, erlaubt einerseits, die Grenzen und die Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis zu bestimmen; andererseits öffnet er den Untersuchungsbereich des moralischen Lebens, in dem genau das Unbedingte und das Absolute, trügerisch gesucht von der Metaphysik, gedacht werden kann, wenn auch nicht objektiv erkannt.

Der Mensch ist ein endliches Wesen, das aber durch seine metaphysische Naturanlage in Bezug auf ein Unbedingtes ist. Der berühmte Satz Kants "Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen" zeigt eben, dass seine Absicht darin besteht, die Grenzen des Wissens zu zeigen, um mit Vernunft Platz für den Glauben zu schaffen. Kants Beitrag über die Endlichkeit der menschlichen Erkenntnis hat heute eine besondere Aktualität. Zur metaphysischen Naturanlage des Menschen gehört es, nach der Wahrheit zu streben. Darin besteht die Endlichkeit der menschlichen Erkenntnis: Der Mensch entdeckt sich als ein endliches Wesen, weil er in Bezug auf eine transzendente Wahrheit lebt, auf ein Unbedingtes, dieses aber nicht erreichen kann. Das Unbedingte ist für Menschen nur zugänglich im Wissen des Nichtwissens. Wir sind wesenhaft bezogen auf etwas, was außer unserer Reichweite liegt.

Es ist schade zu erkennen, wie noch heute viele Interpreten Kants Kritik auf eine Prinzipientheorie der Mathematik und exakten Wissenschaften reduzieren (d.h., dass Kant als Metatheoretiker der Physik und nicht als Metaphysiker gilt), ohne ihre metaphysische Dimension zu berücksichtigen. Kants Philosophie hat zweifellos undogmatischen, wissenschaftlichen, metaphysischen Charakter. Obwohl Kant sagt, dass es die Metaphysik als dogmatische Wissenschaft nicht geben könne, ist sie doch als Naturanlage der menschlichen Vernunft möglich. Die philosophische Frage nach Gott ist ein Zeichen dieser Naturanlage und ermöglicht diese Frage. Ein Großteil des Kant-Seminars wurde dafür gewidmet, eine Erklärung und Kommentierung wichtiger Texte der Kritik zu geben. Alle Teilnehmer fühlten sich als "Schüler" und Lernbegierige. Zum Teil wurden auch spannende Auseinandersetzungen, aber wie Platon sagt "angenehme oder wohlwollende Auseinandersetzung" ausgetragen. Wir besitzen kein Kriterium um die wahre und objektive Interpretation zu erkennen, aber wir sind vielleicht in der Lage die falsche Interpretation zu erkennen. Der Interpret muss sich über die Wirkungsgeschichte eines Textes und seines theoretischen Systemausgangs bewusst sein. Wenn ein Interpret in der Lage wäre, die wahre und adäquate Interpretation Kants anzubieten, dann würde ihm die ganze wissenschaftliche Gemeinschaft dankbar sein.

Kants Philosophie ist mit seiner Theorie der Grenzen der Vernunft geeignet, einen Raum für den Glauben zu schaffen. Seine kritische Philosophie kann als 'ancilla theologiae" betrachtet werden. Wer Lust hat, sich in diese Themen zu vertiefen, kann mit Genuss (und Geduld) zwei "dicke Schinken" lesen, zu denen die Referenten des Kant-Seminars wichtige Beiträge mit erarbeitet haben (Kants Metaphysik und Religionsphilosophie/Kant und der Katholizismus. Stationen einer wechselhaften Geschichte). Kants Philosophie kann als ein sicherer Gesprächspartner und als eine Herausforderung für die heutige Philosophie und für die Frage nach der Beziehung zwischen Glauben und Wissen gelten. Seine Leistungen und Beiträge für die Theologie müssen ernsthaft in Betrachtung genommen werden. Das muss geschehen mit Respekt und Schätzung anderer Gedankentraditionen, aber auch mit der Überzeugung, dass heutzutage der von Kant gezeigte Weg zu beachten ist. Auch die befreiende, aber wenig beachtete Enzyklika "Fides et Ratio" sagt, dass "keine historische Form der Philosophie legitim beanspruchen kann, die Gesamtwahrheit zu umfassen; dies gilt auch für die vollständige Erklärung des Menschen, der Welt und der Beziehung des Menschen zu Gott".

Die Metaphysik hat keine Begründungsfunktion gegenüber dem Glauben, sondern vielmehr eine explikative. Die Philosophie hat keinen zwingenden Gebrauch, sondern eine motivierende Funktion. Es geht nicht darum, Kants Philosophie zu verabsolutieren, sondern um das Bewusstsein, dass sie in der heutigen postmodernen Kultur eine Herausforderung ist, und dass sie Lebendigkeit und Aktualität besitzt. Wie der italienische Kantforscher Silvestro Marcucci sagte, können wir auch fragen, ob es zutrifft, dass wir uns heute nicht mehr Kantianer nennen können? Man kann diese These vertreten, indem man Respekt anderen Gedankentraditionen entgegenbringt. Es ist seltsam zu sehen, wie heute einige Wissenschaftler von Kants Verabschiedung sprechen. Diese Allergie gegen Kant stützt sich nicht nur auf Missverständnisse, sondern auch auf die Nichtkenntnis seiner Texte. Es geht nicht um ein "Goodbye Kant", sondern um ein Willkommen und Wiedersehen im nächsten Kant-Seminar, das Ende August 2007 wieder im Kloster Weltenburg stattfinden wird. Es wird die Analytik der Kritik der reinen Vernunft interpretieren, im Bewusstsein der Tatsache, dass Kant für Anfänger und Fortgeschrittene auf jeden Fall eine Klippe bleibt (oder scheint?).


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Giuseppe Franco absolvierte im vergangenen Jahr sein Magisterstudium an der Universität Lecce und schloss in diesem Jahr an der KU sein Studium der Diplom-Theologie ab. Er strebt in Eichstätt die Promotion im Fach Philosophie an.


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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
23.Jahrgang, Ausgabe 1/2007, Seite 26-27
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität,
Prof. Dr. Ruprecht Wimmer
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2007