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ETHIK/023: Technisierung des Menschlichen (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 02/2010

Technisierung des Menschlichen
Wie problematisch ist "human enhancement"?

Von Hans-Dieter Mutschler


In den kommenden Jahrzehnten ist eine fortschreitende Technisierung des menschlichen Körpers mit den Mitteln der Mikrobiologie und der Nanotechnologie zu erwarten. Allerdings garantieren die Regeln des Marktes von sich aus keine Humanität. Deshalb müssen zuvor rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, die moralische Entscheidungen voraussetzen.


Technisierung ereignet sich in Schüben, die über uns kommen wie Naturereignisse: die Erfindung der Buchdruckerkunst im 16. Jahrhundert, die industrielle Revolution in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die kybernetische Revolution hundert Jahre später, die Entwicklung der Weltraumtechnik. Es scheint, dass diese Technisierungsschübe nichts von ihrer bedrängenden Wucht verloren haben. Auch deutet nichts darauf hin, dass der technische Fortschritt demnächst einen Sättigungspunkt erreichen wird.

Zwar könnte es sein, dass unbegrenzter Fortschritt zum Krebsgeschwür ausartet. Die Regelkreisläufe der Natur könnten irgendwann einmal überfordert sein. Aber zunächst einmal jagt eine Innovation die andere und was wir in den kommenden Jahrzehnten erwarten, ist eine fortschreitende Technisierung des menschlichen Körpers mit den Mitteln der Mikrobiologie und der Nanotechnologie.


Wenn es sich dabei um Prothetik handelt, wird niemand etwas einzuwenden haben. So sind wir heute schon in der Lage, Gehörlosen Chips ins Ohr zu pflanzen, damit sie wieder hören. Es ist inzwischen möglich, Querschnittsgelähmten beizubringen, wie sie durch bloße Willenskraft die elektrischen Potenziale ihres Gehirns so anregen, dass damit der Cursor eines Computers gesteuert werden kann.

Aber was, wenn wir demnächst Chips einpflanzen, um Ultra- oder Infraschall zu hören, Ultraviolett oder Infrarot zu sehen oder wenn wir eine computertaugliche Schnittstelle in den Schädel operieren, um rascher übers Internet kommunizieren zu können? Was, wenn wir einen Stick direkt ans Gehirn andocken, um unsere Gedächtnisleistungen zu steigern? Was, wenn wir Glückspillen erfinden, Wachheit steigernde Mittel, oder wenn wir winzige Nano-Implantate in den Körper einführen, unsichtbar wirkende Maschinen, die unsere körperlichen Leistungen "verbessern"? Vor allem aber: Was, wenn es uns gelingen sollte, das Alter der Menschen auf 200, 300 Jahre zu steigern?

In all diesen Fällen geht es nicht um Therapie, sondern um technologische Aufrüstung, eben um "human enhancement". Manche träumen gar im Rahmen des so genannten Transhumanismus vom "Cyborg", einem Mischwesen aus Roboter und Mensch, das den herkömmlichen homo sapiens ablösen wird, wie dieser den Neandertaler abgelöst hat. Vielleicht wird dieser Cyborg unsterblich sein, weil seine Teile immer wieder austauschbar sind. Oder wir werden Unsterblichkeit biologisch herstellen, indem wir Alterungsprozesse gänzlich außer Kraft setzen.

Solchen Utopien stehen entsprechende Katastrophenszenarien gegenüber, wie etwa sich selbst reduplizierende Nanoroboter, die die gesamte Biosphäre zerstören. Allerdings hat die Technik bisher weder zur Erlösung noch zur Apokalypse geführt - obwohl beides immer befürchtet oder begrüßt wurde.


Wie sakrosankt ist die menschliche Natur?

Bezüglich der Heilsversprechungen verweisen Kritiker gerne auf die bescheidenen Erfolge, die man bislang mit einer Technisierung des Menschen erreicht habe. Zu Beginn der fünfziger Jahre war die Weltraumfahrt eine fern liegende Utopie. Wenige Jahre später kreiste der erste Satellit und innerhalb von nur zwölf Jahren betrat der Mensch den Mond. Der erste leistungsfähige Computer ENIAC von 1946 war so groß wie ein dreistöckiges Wohnhaus und brauchte einen Wasserfall zur Kühlung der überhitzten Vakuumröhren. Heute würde er auf einer Scheckkarte Platz finden, gespeist von einer harmlosen Photozelle.

Wenn auch zutrifft, dass insbesondere den Versprechungen der Nanotechnologie mit Blick auf das "human enhancement" wenig substanzielle Forschungsergebnisse zugrunde liegen, ist das im Fall der Altersforschung anders (vgl. Sebastian Knell und Marcel Weber, Länger leben? Frankfurt 2009). Der Biologe Michael Rose, Professor an der University of California, war der erste, dem es bei Fruchtfliegen gelang, deren Alterungsprozess hinauszuzögern. Man zieht in der Biologie gerne solche Modellorganismen heran und überträgt dann die Ergebnisse auf komplexere Lebewesen, zum Beispiel auf Mäuse. Bei ihnen ließ sich das Alter bereits um 25 Prozent steigern.


Man muss allerdings davon ausgehen, dass das Altern mehrere Ursachen hat, weil sehr viele Gene daran beteiligt sind, deren Einfluss sehr verschieden hoch einzuschätzen ist. Weiter bewirken Schäden an Proteinen und Lipiden Alterungsprozesse, ebenso auch freie Radikale als Abfallprodukte des Stoffwechsels. Deshalb müsste man an verschiedenen Punkten zugleich angreifen. So ließe sich etwa der altersbedingte Schwund an Knochen und Muskeln durch entsprechend programmierte Stammzellen rückgängig machen. Vielleicht wird man auch einmal Stammzellen so einrichten können, dass sie andauernde Regenerationsprozesse auslösen. Schon heute arbeitet man mit den verschiedensten Mitteln wie Blutdruck- und Cholesterinsenkern, Vitaminen, Hormonen, Liponsäure, Selen usw.

Natürlich würden sich eine Fülle von Problemen ergeben, sollte es gelingen, Alterungsprozesse signifikant hinauszuschieben: Ist Alter überhaupt eine Krankheit, die geheilt werden sollte? Wären dann nicht auch Schwangerschaft oder Pubertät eine Krankheit? Werden künftige Generationen in ihrer innovativen Kompetenz blockiert, wenn die Alten viel später abtreten? Wird das Leben allein durch bloße Verlängerung ein erfüllteres Leben? Würde durch ein längeres Leben nicht auch die Leidenszeit am Ende verlängert? Würde die neue Technik nicht sehr teuer sein, so dass sie nur den Reichen zugutekäme? Darf man für die Luxusgüter einiger weniger öffentlich erhobene Steuergelder einsetzen?


Sehr auffällig ist in der gesamten Diskussion, dass der Vergleich des Menschen mit einer Maschine als unproblematisch angesehen wird; Fragen der Psychologie werden hingegen ausgeblendet. Alle an der Diskussion Beteiligten gestehen immerhin zu, dass es sinnvoll ist, sich über zukünftige Technologien Gedanken zu machen, bevor sie im großen Stil angewandt werden. Bislang verlief der Technisierungsprozess nach den Regeln des Marktes. Doch diese Regeln garantieren von sich aus keine Humanität. Dafür müssen zuvor die rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die zudem moralische Entscheidungen voraussetzen. Glücklicherweise werden die Probleme des "human enhancement" heute schon diskutiert, wenn auch in den USA viel intensiver als bei uns.

In der Zeitschrift "Gehirn & Geist" (Nr. 11/2009) gab der Neurophilosoph Thomas Metzinger "Entwarnung": Der Mensch habe schon immer danach gestrebt, sich zu verbessern. Was wir als "normal" empfänden, sei geschichtlich variabel, und kulturkonservative, im Besonderen religiöse Menschen würden sich irren, wenn sie glaubten, die menschliche Natur sei sakrosankt. Wir hätten die Natur schon immer verändert und daran auch in der Vergangenheit nichts Schlechtes finden können.

In derselben Nummer der Zeitschrift liest man ein Memorandum sieben führender Wissenschaftler zum gleichen Thema: Man solle die ganze Entwicklung positiv sehen. Allerdings wird auch vor negativen Folgen gewarnt, die jedoch eher im Bereich des Technischen oder Politischen liegen. So wird beklagt, dass es in Bezug auf die jetzt schon zur Verfügung stehenden Mittel (insbesondere Medikamente) bislang keine Langzeitstudien gebe, man sich also über die Nebenfolgen nicht im Klaren sei. Außerdem müsse man verhindern, dass nur wenige von den Segnungen der neuen Technologien profitierten.

Symptomatisch ist auch der Sammelband, den Markus Christen und Jan Heilinger jüngst herausgegeben haben (Über Menschliches. Biotechnische Verbesserung des Menschen zur Überwindung von Leiden und Tod, Biel 2009). In ihm finden sich Gespräche mit führenden Wissenschaftlern und Philosophen, was naturgemäß zu ganz verschiedenen Einschätzungen führt. Im Wesentlichen aber enthält der Band Aussagen darüber, welche "Verbesserungen" des menschlichen Körpers - je nach der ethischen Zielvorstellung - sinnvoll sind.

Man sollte diesen Philosophen deshalb keinen Vorwurf machen, kann man doch heute nicht mehr auf eine allgemein akzeptierte "Idee des guten Lebens" im Aristotelischen Sinn zurückgreifen. Keine der heute allgemein akzeptierten Moralvorstellungen bietet eine Hilfestellung bei der Bewertung des "human enhancement" an. Wie wäre beispielsweise der Fall des gelähmten Physikers Stephen Hawking zu bewerten, der sich nur noch mit Hilfe von Elektromotoren bewegen und mit Hilfe von Computern verständigen kann? Ist ein technologisch hochgerüsteter Mensch kein Subjekt der Achtung mehr?


Allerdings: Gemäß einer verbreiteten Überzeugung in der Philosophie sollten alle Zwecke, die wir verfolgen (insbesondere technische, instrumentelle, strategische usw.) an etwas festgemacht werden, das für sich selbst steht und seinerseits nicht nur Mittel zum Zweck ist. Alles, was nützlich oder effizient ist, ist nützlich oder effizient für etwas anderes. Um nicht in einen regressus in infinitum oder in die Beliebigkeit abzudriften, müssen wir etwas angeben können, das den ganzen Prozess ausrichtet und für sich selber steht: das heißt etwas Selbstzweckliches.

Aus christlicher Sicht ist die Überzeugung fundamental, was gelungenes Leben bedeutet. Weil aus dieser Perspektive Heil etwas ist, das wir nicht selbst herstellen können, sondern uns geschenkt werden muss, ist das Empfangen über das Machen zu stellen.

Die technische Weltbewältigung seit dem 19. Jahrhundert ist der gegenteiligen Überzeugung. Dabei ist wohlbekannt, dass zum Beispiel die industrielle Revolution im Protestantismus besonders gefördert wurde. Im 19. Jahrhundert waren die hauptsächlich katholisch besiedelten Gebiete zugleich industriell die rückständigsten. Bis heute scheint der Katholizismus eine Bremse des Fortschritts (man denke an Medizintechnologien wie die verbrauchende Embryonenforschung oder ganz allgemein an die Gentechnologie).

Auf der anderen Seite könnte der Preis des Fortschritts auch zu hoch sein: dann nämlich, wenn wir die Balance zwischen Machen und Empfangen immer weiter zugunsten des Machens verschieben. Der christliche Glaube müsste angesichts dieser Situation einklagen, was unsere Gesellschaft im Begriff ist zu vergessen: dass die Realität Geschenkcharakter hat. Wir sind derart vom Machen und Herstellen eingenommen, dass wir die technische Weltbewältigung wie einen Letztwert behandeln.

Gerade in der Diskussion um "human enhancement" fällt auf, dass der Mensch selbstverständlich als eine zu optimierende Maschine angesehen wird. Biologen wie Richard Dawkins machen weder eine kategoriale Differenz zwischen Maschinen und Lebewesen noch zwischen Lebewesen im Allgemeinen und Menschen im Besonderen: alle Organismen sind blind von der Evolution vorprogrammierte "Überlebensmaschinen". Damit werden nicht nur alle Menschen zu Maschinen herabgestuft, die dann wie alle Maschinen zu optimieren sind, sondern auch alle anderen Lebewesen werden als außengesteuert angesehen.

Dabei haben Philosophen der Biologie wie Peter McLaughlin längst darauf hingewiesen, dass das Maschinenverständnis des Lebendigen unzureichend ist: Was für den Menschen die Idee des guten Lebens ist, ist für das nichtmenschliche Leben die Selbsterhaltung. In diesem Sinn ist alles Lebendige selbstzwecklich. Maschinen haben demgegenüber ihren Zweck außerhalb ihrer selbst.


Leben gibt es seit rund vier Milliarden Jahren auf der Erde. Da die Evolution mit einer extremen Knappheit der Ressourcen zurechtkommen muss, sind die von ihr hervorgebrachten Gebilde extrem gut austariert. Wir fangen erst an, dies zu verstehen, seit wir selbst Probleme mit der Knappheit der Ressourcen haben: Die Bionik zeigt, wie überlegen natürliche Konstruktionen den unsrigen sind, was Stoff- und Energieeffizienz anbelangt. Je komplexer die natürlichen Gebilde, umso staunenswerter ihr Aufbau und ihre Leistung. Auch noch so ehrgeizige gentechnologische Projekte hängen parasitär an diesen vier Milliarden Jahre Evolution, die wir nicht gemacht haben. Und ob wir mit unseren Veränderungen das diffizile Geflecht des Organischen mehr stören als verbessern, ist noch längst nicht ausgemacht.

Thomas Metzinger missversteht die christliche Religion gründlich, wenn er glaubt, sie sei darauf abonniert, das Bestehende zu sanktionieren. Das Gebot der Hege und Pflege der Natur, das wir schon im ersten Kapitel des Buches Genesis finden, wurde in der christlichen Tradition auch als Auftrag zur technischen Weltgestaltung verstanden. So waren zum Beispiel die Zisterziensermönche des Mittelalters diejenigen, die die Techniktraditionen der Antike vermehrten und an die Neuzeit weitergaben. Es kann deshalb nicht darum gehen, Empfangen und Machen gegeneinander auszuspielen. Vielmehr ist wichtig, den Primat und das Maß festzulegen.

Dies alles spricht nicht prinzipiell gegen "human enhancement". Es gibt zwar Handlungen, die nicht verhandelbar sind (etwa Folter, Sklaverei, Vergewaltigung, Demütigung). Aber immer schon hat der Mensch seine Physis zu vervollkommnen versucht, ohne dass - das rechte Maß vorausgesetzt - dabei ein moralisches Problem entstanden wäre. In Bezug auf Lebensverlängerung ist es zudem nützlich, sich daran zu erinnern, dass sich die durchschnittliche Lebenserwartung in unseren Breiten zwischen 1900 und 2000 geradezu verdoppelt hat und wir schon längst Mittel gegen vorzeitiges Altern konsumieren. Niemand sieht darin ein Problem.

Allerdings ist alles eine Frage des Grades: Wenn es dazu kommen sollte, dass man ohne Einnahme von Psychopharmaka oder ohne zusätzliche Mikrochips im Gehirn seinen Beruf nicht mehr effizient ausüben kann, könnte sich der Einzelne nicht mehr gegen die technologische Aufrüstung seines Körpers wehren.


Generell fällt in der Debatte auf, dass fast durchweg ein technisches Verständnis des menschlichen Körpers vorausgesetzt wird, als gebe es keine Differenz zwischen dem Körper, den wir haben, und dem Leib, der wir sind, zwischen dem Körper, den wir modulartig zerlegen und manipulieren können, und dem Leib, der ein ganzheitlicher Ausdruck unserer Existenz ist. Von daher könnte sich auch der beklagte katholische Konservativismus als progressiv herausstellen. Auch der Leib ist ein Geschenk - christlich gesehen sogar der Tempel Gottes.


Hans-Dieter Mutschler (geb. 1946) ist Professor für Natur- und Technikphilosophie an der Hochschule Ignatianum in Krakau. Ausgewählte Veröffentlichungen zum Themenfeld Naturwissenschaften und Theologie: Die Gottmaschine. Das Schicksal Gottes im Zeitalter der Technik, Augsburg 1998; Naturphilosophie, Stuttgart 2002; Physik und Religion, Darmstadt 2005.


LITERATUR
Ach, Johann S. und Beate Lüttenberg (Hg.):
Nanobiotechnology, Nanomedicine and Human Enhancement,
Lit-Verlag, Berlin 2008
Christen, Markus und Jan Heilinger:
Über Menschliches. Biotechnische Verbesserung des
Menschen zur Überwindung von Leiden und Tod,
Verlag Die Brotsuppe, Biel 2009
Knell, Sebastian und Marcel Weber:
Länger leben?, Suhrkamp, Frankfurt 2009
McLaughlin, Peter: What Functions Explain.
Functional Explanation and Self-Reproducing Systems,
Cambridge University Press, Cambridge 2001
Nordmann, Alfred (Hg.):
Nanotechnologien im Kontext,
Akademische Verlagsgesellschaft, Berlin 2006
Schöne-Seifert, Bettina u.a. (Hg.):
Neuro-Enhancement. Ethik vor neuen Herausforderungen,
Mentis-Verlag Paderborn 2007

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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 02, Februar 2010, S. 103-106
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. März 2010