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FORSCHUNG/018: Äpfel, Birnen und die aristotelische Weltansicht (BI.research - Uni Bielefeld)


BI.research 39.2011
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld

Äpfel, Birnen und die aristotelische Weltansicht
Ein philosophischer Blick auf die Kommunikation von Vergleichen

von Jens Burnicki



Äpfel soll man nicht mit Birnen vergleichen, das weiß dank einer alten Volksweisheit jedes Kind. Doch was macht eigentlich einen aufschlussreichen - oder wissenschaftlich ausgedrückt - einen instruktiven Vergleich aus? Dieser grundlegenden Fragestellung widmet sich Professor Dr. Martin Carrier für die beantragte Exzellenzinitiative zur Kommunikation von Vergleichen. Carrier, der seit 1998 an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie in Bielefeld lehrt, stellt hier mit seinen Kollegen ein in dieser Form weitgehend unbesetztes Forschungsfeld fest.

Wenn das, was verglichen werden soll, keinerlei bedeutsame Gemeinsamkeiten aufweist, dann hat man zwei gänzlich verschiedene Fälle. "Zum Beispiel haben Zen-Buddhismus und Quantenmechanik keine aussagekräftigen Berührungspunkte", erklärt Carrier, "jedenfalls zunächst einmal nicht. Darüber hinaus wird der Holocaust immer als einmaliges Phänomen apostrophiert, das entsprechend mit keinem anderen historischen Ereignis bedeutsame Ähnlichkeiten aufweist." In diesem Fall sind Vergleiche wenig fruchtbar. Carrier spricht hier von "Nicht-Kommensurabilität". Genauso verhält es sich mit dem anderen Extrem, wenn man zu viele Gemeinsamkeiten vorfindet: "Dann ist eine Gegenüberstellung trivial, da man nichts für den anderen Fall lernen kann. Im Grunde ist es dasselbe in Grün", sagt Carrier.

Jeder instruktive Vergleich muss immer gemeinsames Maß haben, aber zugleich auch spezifische Unterschiede. Die Herausforderung für die Forschung besteht darin, einen mittleren Grad zu charakterisieren, der es ermöglicht, sinnvolle und nicht-banale Aussagen über das zu Vergleichende anzustellen. Es ist erfahrungsgemäß besonders anstrengend, sich immer nur über die besonderen Einzelfälle zu unterhalten, da man über diese hinaus nichts mitteilen kann. Der Umgang mit der Welt würde so außerordentlich erschwert, berichtet der Philosoph: "Deshalb müssen wir vergröbern, aber eben nicht zu sehr." Letztendlich muss eine Aussagekraft für die Erfahrung erhalten bleiben, eine Anbindung an das Empirische. Das ist eine Herausforderung, der Carrier sich stellen will.


Unvergleichliches und Gleichsetzungen

Die aristotelische Weltansicht zog Carrier bereits vor vielen Jahren in ihren Bann und veranlasste ihn zu einer tieferen Auseinandersetzung mit dem Vergleich unterschiedlicher Begriffssysteme. Vor allem der Wandel dieser Systeme, der im Laufe der Geistesgeschichte immer wieder auftritt, wurde eine Zeit lang zu seinem Steckenpferd: In der teleologischen Sehweise des Aristoteles wird die unbelebte Natur nach dem Muster der belebten Natur begriffen. Ein fallender Stein bewegt sich auf einen natürlichen Ort, beziehungsweise Zustand, als seinem Ziel zu. In dieser Hinsicht ist er mit der Blume zu vergleichen, die wächst und sich entfaltet. Sie bewegt sich auch hin, auf den ihr angemessenen Zustand. "Das ist aus heutiger Perspektive natürlich eine eigentümliche Sicht, die fremdartig scheinende Gleichartigkeitsbeziehungen stiftet, die wir derzeit so gar nicht haben", erläutert Carrier. "Gleichzeitig werden aber auch Gleichartigkeitsbeziehungen zerrissen, die wir heute annehmen." Zwischen dem freifallenden Stein und dem geworfenen Stein würde man gegenwärtig keinen großen Unterschied sehen. Aus dem Blickwinkel der klassischen Physik handelt es sich einheitlich um beschleunigte Bewegung. Aus aristotelischer Sicht ist es aber etwas völlig anderes: Das eine ist die Rückkehr in den naturgemäßen Zustand, aus eigenem Antrieb, eine natürliche Bewegung. Das andere ist eine gewaltsame Bewegung unter dem Einfluss einer äußeren Kraft. Carrier: "Und das macht es unmöglich, hier Vergleiche durch Begriffszuordnungen herbeizuführen. Es gibt einfach kein Gegenstück zur aristotelischen natürlichen Bewegung in unserer Weltsicht."


Philosophen, Geschichtswissenschaftler und Soziologen forschen gemeinsam

Das Beispiel zeigt, dass Vergleiche durch einfache Übersetzung unter Umständen nicht funktionieren, da es keine passenden begrifflichen Gegenstücke gibt. Trotzdem wurde hier ein Vergleich angestellt, der plausibel erscheint. "Es gibt viele Möglichkeiten, wie wir uns über solch kulturelle, begriffliche, historische Gräben hinweg verständigen können", berichtet Carrier, "und das ist auch das Thema: Die Kommunikation von Vergleichen, die durch den Cluster stärker angegangen werden soll." Das angestrebte Ziel der Forschung ist ein Querschnitt aus Wissenschaftsbereichen der vergangen 200 Jahre. Im Fokus steht die Frage: Wie ist überhaupt das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem bei Vergleichen aufzufassen? Und genau hier sehen Carrier und seine Kollegen der interdisziplinären Exzellenz-Arbeitsgruppe, die unter anderem aus Geschichtswissenschaftlern und Soziologen besteht, eine Forschungslücke. Diese gilt es gemein sam zu schließen: "Das gibt es in dieser Form eben nicht, und genau deswegen wollen wir uns der Frage widmen, was einen instruktiven Vergleich ausmacht."


Globalisierung erweitert Anwendungsbereiche

Es geht also um Grundlagenforschung, um begriffliche Klärung, empirische Erschließung und ein besseres Verständnis des Phänomens "Vergleich". Für Carrier ist der Vergleich ein extrem praktisches Geschäft. Wir sind von Mechanismen des Herstellens und des Mitteilens von Vergleichen auf den unterschiedlichsten Ebenen umgeben. "Und das Vergleichs-Geschäft dehnt sich noch weiter aus", so Carrier. Die Beispiele sind zahllos: "Was machen Rating-Agenturen anderes, als die Bonität von Staaten zu vergleichen? Auch Universitäten vergleichen sich jetzt viel mehr als früher. Stichwort: Shanghai-Liste." Ein Beschleuniger, mit der diese starke Akzentuierung von Vergleichen zusammenhängt, ist die Globalisierung, da ist Carrier sich sicher. Früher fern stehende Wirklichkeitsbereiche rücken näher zusammen und laden somit zu Vergleichen ein. Umgekehrt treiben Vergleiche mit ihrer Fokussierung auf ferne Bereiche diesen globalen Blick weiter an. Eine wechselseitige Befeuerung ist entfacht. Carrier: "Ein besseres Verständnis dieses Phänomens ist von großer Wichtigkeit für all diese breiten Anwendungsbereiche, in denen Vergleiche auftauchen."

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Quelle:
BI.research 39.2011, Seite 44-47
Herausgeber:
Referat für Kommunikation der Universität Bielefeld
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BI.research erscheint zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. August 2012