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FRAGEN/017: Die Grenzen des Wissens vor Augen führen (Uni Oldenburg)


Einblicke Nr. 57 - Frühjahr 2013
Das Forschungsmagazin der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Die Grenzen des Wissens vor Augen führen

Interview mit Ideenhistoriker Matthias Bormuth



Was bleibt von Karl Jaspers? Der Anspruch, über Disziplinen hinweg zu denken und Wissensperspektiven miteinander zu verknüpfen, so der Oldenburger Ideenhistoriker Matthias Bormuth. Im Interview spricht Bormuth über die Pläne der Karl-Jaspers-Gesellschaft, Jaspers' Blick von außen auf die Wissenschaft - und warum ein solcher Blick auch heute noch lohnt.


Einblicke: Herr Bormuth, die Bibliothek von Karl Jaspers hat im Oldenburger Jaspers-Haus ihre neue Heimat gefunden, auch Sie arbeiten dort. Wie sind die ersten Eindrücke?

Bormuth: Es ist aufregend, mit dieser Bibliothek zu forschen. So konnte ich schon Jaspers' Hölderlin-Deutungen ideengeschichtlich gleichsam bis zum Ursprung verfolgen. Seine Anstreichungen und Kommentare in den Gedichten lassen ahnen, wie er den philosophierenden Dichter verstand. Nun sollen jüngere wie erfahrene Forscher die Möglichkeit bekommen, in Oldenburg an den Quellen von Jaspers' Werk zu forschen.

Einblicke: Im Dachgeschoss des Hauses gibt es bereits zwei Wohnungen für sogenannte "Jaspers-Fellows" - die dann beispielsweise an Vortragsabenden ihre Forschungen der Öffentlichkeit vorstellen?

Bormuth: So ist es von der gerade gegründeten Jaspers-Gesellschaft gedacht. Wir hoffen, die notwendigen Mittel durch Spenden einwerben zu können. Grundsätzlich möchten wir im Jaspers-Haus das Gespräch über Fragestellungen anregen, die an Jaspers orientiert zwischen den Disziplinen liegen und die auch für das weitere Publikum von Interesse sind. Dazu müssen wir Formate entwickeln, die sachlich verständlich und spannend sind. Auch hier steht Jaspers Pate: Er selbst hat so klar und anregend gedacht, dass sogar Funk und Fernsehen auf ihn zukamen.

Einblicke: Wie wollen Sie das erreichen?

Bormuth: Nun, wir möchten mit der Zeit Vorträge, Tagungen und Publikationen bieten, die den Dialog der Wissenschaften in die Öffentlichkeit tragen. Gemeinsam mit dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach überlegen wir: Wie kann man im Vorraum der Bibliothek die Besucher, vor allem Schüler- und Studentengruppen, möglichst interaktiv an die Bücher und Biographie von Jaspers heranführen? Was die Vortragsabende angeht, so ist geplant, fundierte Querdenker einzuladen, Schriftsteller, Wissenschaftler oder Essayisten, die der Gesellschaft etwas unzeitgemäß Gehaltvolles und Provozierendes zu sagen haben - nicht selten, weil sich ihr Blick über Disziplingrenzen hinaus erstreckt.

Einblicke: Wenn man Ihre Vita liest - Psychiater, Medizinethiker, Professor für Ideengeschichte - dann bekommt man den Eindruck: Auch Sie bewegen sich zwischen den Stühlen.

Bormuth: Angefangenhabe ich in der Tat mit der Medizin, die mich über erste Jaspers-Lektüren im Studium zur Psychiatrie führte. Ich wollte die inneren Strukturen und Dynamiken des psychisch kranken Menschen verstehen - bis ich mich über die weitere Beschäftigung mit dem philosophischen Jaspers fragte: Was bewegt eigentlich "gesunde" Menschen, welche Ideen über ihr Leben und ihre Geschichte entwickeln sie in Grenzsituationen? Eine Frage, die mich später dazu führte, dem suizidalen Denken von Paul Celan, Ingeborg Bachmann und Jean Améry nachzugehen. Das ist dann Forschung, die sich notwendig zwischen Philosophie, Psychiatrie, Soziologie und Literaturwissenschaft bewegt. Auf einem solchen Weg zwischen den Disziplinen ist der Austausch mit Fachleuten besonders wichtig.

Einblicke: Der Ideenhistoriker auch als Netzwerker?

Bormuth: Ja, fast von selbst kommt es über Gespräche und Briefe zu persönlichen Verbindungen, die nicht selten zur näheren Bekanntschaft und Freundschaft führen und so neue Verknüpfungen erlauben. Man selbst nimmt die integrierende Rolle eines "Universaldilettanten" ein, der locker im Netz von Experten verwoben ist und natürlich auch den Rat von Kollegen benötigt, die geübt sind, verschiedene Wissensperspektiven sinnvoll zu verknüpfen. Die Begegnungen mit amerikanischen "Intellectual Historians" war hierfür sehr hilfreich.

Einblicke: Wie sind Sie auf Jaspers gestoßen?

Bormuth: Entscheidend war nach den ersten Lektüren der Besuch bei Jaspers' letztem Assistenten Hans Saner, der mich in Basel inmitten der Bücher seines Lehrers empfing. Damals hätte ich mir nicht träumen lassen, zwanzig Jahre später so privilegiert zu sein, mit der Bibliothek in Oldenburg als Forscher täglich umgehen zu dürfen. Sie hat für meinen eigenen Weg zwischen Medizin und Philosophie eine besondere Bedeutung.

Einblicke: Inwiefern?

Bormuth: Hannah Arendt, die philosophische Schülerin von Jaspers, fragt in einem Essay, was passiert, wenn wir denken, und wo wir uns dabei befinden. Die Bibliothek kann diesen imaginären Raum andeuten, ihn gleichsam materialisieren, zumal in so schönen Räumlichkeiten. Jaspers sah sich selbst im ständigen Dialog mit den großen Philosophen und ihren Ideen, von Platon über Augustin bis hin zu Kant und Hegel. Er verstand sich als Denker, der auf die Zeit einwirkt, aber ihr nicht allein zugehört. Und zugleich offenbart seine Bibliothek, wie sehr Jaspers die aktuellen Wahrheiten schätzte, die er in einer enormen Vielfalt von empirischen Wissensgebieten wahrnahm. Die überzeitliche "Kommunikation" mit den großen Philosophen zu suchen und zugleich mit den Wissenschaften im Austausch zu sein: das waren seine Maximen als kreativer Leser.

Einblicke: Mit den Wissenschaften im Austausch zu sein, das ist auch eines der Ziele der Jaspers-Gesellschaft. Haben Sie - als ursprünglicher Mediziner - schon Pläne, auch mit den neuen jungen Medizinstudierenden der Universität zusammenzuarbeiten?

Bormuth: Dies bietet sich schon von Jaspers selbst her an, der vielfach philosophische Essays für Mediziner schrieb. Von meinen Tübinger Erfahrungen her weiß ich, wie sinnvoll es ist, Medizinstudierendemit geisteswissenschaftlichen Texten vertraut zumachen. Seminare und Workshops können zum Weiter- und Selbstdenken anregen, das Kant sich für jeden mündigen Menschen wünschte. Und der Mediziner ist wie wenige in politisch, kulturell und ethisch brisante Problemfelder gestellt, die nicht selten auch einer philosophisch geschulten Urteilskraft bedürfen.

Einblicke: Gibt es schon erste Anfänge und Beispiele?

Bormuth: Ich selbst stehe seit Jahren, meinem klinischen Herkommen gemäß, im Austausch mit Psychiatern und Psychotherapeuten. Gemeinsam veranstalten wir Symposien und Weiterbildungsseminare. Im Herbst dieses Jahres, in dem Jaspers' "Allgemeine Psychopathologie" hundert Jahre alt wird, haben wir führende Köpfe der deutschen Psychiatrie nach Oldenburg und Bremen eingeladen. Die Konferenz fragt nach der aktuellen Relevanz von Jaspers für die Psychiatrie.

Einblicke: Was, würden Sie sagen, ist das Vermächtnis von Jaspers?

Bormuth: Wie bei jedem Denker gibt es bei Jaspers gedankliche Momente, die den Test der Zeit nicht bestehen. Und solche Theoreme, die uns andauernd herausfordern und nachdenklich halten. Besonders fasziniert mich seine an Kant orientierte Idee der Freiheit, die es so gut als möglich zu verwirklichen gilt. Dies wird in seinem Umgang mit der Lungenkrankheit deutlich, die ihm eine praktische Tätigkeit verwehrte. Jaspers verlegte sich auf das "innere Handeln" des Philosophen und trotzte dem Körper ein langes theoretisches Leben ab. So wurde er noch im achten und neunten Lebensjahrzehnt zu einem der meist diskutierten politischen Philosophen der Bundesrepublik, der über Hannah Arendt auch in den USA bekannt wurde. Jaspers verließ seine Baseler Wohnung kaum mehr, aber seine Gedanken gingen für ihn um die Welt.

Einblicke: Seine körperliche Krankheit hatte einen philosophischen Nutzen?

Bormuth: Genau. Begonnen hatte seine berufliche Marginalität in der Psychiatrie, als seine Krankheit Jaspers nur wenige Möglichkeiten im täglichen Klinikleben ließ, aber ihm Zeit für Nachdenken und Gespräche mit Patienten und Büchern schenkte. Durch die Krankheit war er genötigt, die Rolle des engagierten Beobachters einzunehmen, von dessen Einsichten die Psychiatrie seitdem profitiert. Auch in der Philosophie führte er aufgrund der körperlichen Grenzsituation ein abgeschirmtes Leben des Gedankens. Jaspers bezeichnete sich selbst als "Outsider", der unter den philosophischen Fachgenossen "Narrenfreiheit" genoss. Bis man merkte, dass er aus der Psychiatrie existentielle Fragen mit ins Fach gebracht hatte, die ein neues Nachdenken über den Menschen und seine mögliche Freiheit auslösten.

Einblicke: Und was hat sie daran fasziniert?

Bormuth: Dass sich Jaspers im Namen möglicher Freiheit gegen sachliche Reduktionismen und schulische Dogmen wandte. Philosophen sollen nach Jaspers unbequeme Zeitgenossen sein, die uns im Sinne des Sokrates die Grenzen des Wissens vor Augen führen. Nicht zufällig fiel der junge Jaspers im Alten Gymnasium dadurch auf, dass er sich weigerte, einer Schüler-Verbindung beizutreten. Er stand lieber als Individuum für sich, mit Abstand zu den kollektiven Meinungsbildern. Es kann noch heute anregen, selbst für Momente innezuhalten und zu fragen, was wir eigentlich tun, welchen Sinn unser Handeln hat und wohin es uns führen soll.


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KARL JASPERS

Der Mediziner und Philosoph Karl Jaspers (1883-1969) wurde in Oldenburg geboren und wirkte an den Universitäten Heidelberg und Basel. Seine Schriften zur Psychiatrie avancierten zu Klassikern. Nach 1929 begründete Jaspers mit Martin Heidegger die deutsche Existenzphilosophie. Als politischer Philosoph setzte er gemeinsam mit seiner Schülerin Hannah Arendt nach 1945 Akzente.
2008 fand in Oldenburg das Jaspers-Jahr statt, das intensive Forschungen über den Oldenburger Philosophen einleitete. In der Folge konnte die Heisenberg-Professur für Vergleichende Ideengeschichte etabliert werden. Im Karl-Jaspers-Haus hat diese Initiative ihren universitären Ort.
Als Kernstück beherbergt das Haus die Arbeitsbibliothek des Philosophen, die rund 12.000 Bände aus vielen Wissensgebieten umfasst. Außerdem enthält das Jaspers-Haus Arbeitsräume für die Jaspers-Forschung und Jaspers-Edition sowie zwei Appartements für Gastwissenschaftler. Ein Vortragsraum bietet der neu gegründeten Karl-Jaspers-Gesellschaft die Möglichkeit, den Dialog der Wissenschaften und ihre Vermittlung in die Öffentlichkeit unter anderem auch durch Veranstaltungen zu fördern.

Zur Person des Autors

Prof. Dr. Matthias Bormuth ist Heisenberg-Professor für Vergleichende Ideengeschichte an der Universität Oldenburg. Er Promovierte 2001 an der Universität Tübingen mit der medizinethischen Arbeit "Lebensführung in der Moderne. Karl Jaspers und die Psychoanalyse". 2008 folgte die Habilitation "Ambivalenz der Freiheit. Suizidales Denken im 20. Jahrhundert". Als Stipendiat der Alexander Von Humboldt-Stiftung lehrte und forschte Bormuth in New York an der City University und als Heisenberg-Stipendiat an der Columbia University.

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Quelle:
Einblicke Nr. 57, 28. Jahrgang, Frühjahr 2013, Seite 18-23
Herausgeber:
Präsidium der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Ammerländer Heerstraße 114-118, 26129 Oldenburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juli 2013