Schattenblick →INFOPOOL →GEISTESWISSENSCHAFTEN → PHILOSOPHIE

PROFIL/016: Der Bürger-Philosoph - Jürgen Habermas zum 80. Geburtstag (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2009

Der Bürger-Philosoph
Jürgen Habermas zum 80. Geburtstag

Von Thomas Meyer


Ob "Historikerstreit", "deutsche Leitkultur" oder die Auseinandersetzung um die Europäische Verfassung - Jürgen Habermas prägte alle großen Debatten der Bundesrepublik. Er gilt als "öffentlicher Intellektueller" und genießt weltweite Anerkennung. Habermas ist Anwalt für Geist und Praxis der Aufklärung in unserer Zeit.


*


Für die Republik ein Glücksfall

Was immer sonst aus Anlass seines 80. Geburtstags zu Person und Wirken des Jubilars anzumerken sein mag, Würdigendes, Rühmliches oder auch Kritisches, einer Feststellung gebührt der Vorrang: Jürgen Habermas, der Philosoph, der Intellektuelle, der Bürger, ist für die zweite Demokratie in Deutschland ein Glücksfall. Als akademischer Lehrer und Analytiker der Gegenwart hat er über eine Spanne von fünf Jahrzehnten hinweg das Gemeinwesen zuverlässig und wirkungsmächtig begleitet. Als Wächter und Mahner war er auf öffentlicher Bühne stets zur Stelle, wenn in Grundfragen der Demokratie falsche Weichenstellungen drohten. Und mit seinen Interventionen und Zwischenrufen hat er wie kaum ein Zweiter die politische Kultur des Landes mitgeformt.

Jürgen Habermas wirkt dabei nicht allein durch die Überzeugungskraft seiner Argumente, sondern auch durch das Beispiel seiner Haltung und seine Zivilcourage. Das begann bereits in den 50er Jahren, als er, ein junger Mann von noch nicht 25 Jahren, Heidegger bei dem Versuch ertappte, die Mitverantwortung seiner hochmütigen Seinsphilosophie für die Wegbereitung des Führerkults zu verwischen; es setzte sich fort in der heißen Phase der Studentenrevolte, als er den Begriff "Linksfaschismus" wagte, um politische Fehlentwicklungen und wachsende Gewaltbereitschaft zu verhindern; und es erreichte seinen Höhepunkt, als er im "Historikerstreit" der 80er Jahre Ernst Nolte in den Weg trat, weil er nicht zulassen wollte, die Entsorgung der deutschen Vergangenheit durch fragwürdige Kausalitäten und falsche "Normalisierung" zu betreiben.

Im folgenden Jahrzehnt erinnerte Habermas mit Leidenschaft daran, dass ein großzügiges Asylrecht nicht nur ein ethisches Gebot darstellt, sondern so wesentlich im rechtsstaatlichen Gründungsgeist der Bundesrepublik verankert ist, dass das Gemeinwesen durch Einschränkungen Schaden nehmen muss. Dem fahrlässigen Diskurs über "Menschenzüchtung" stellte er in neuer und zeitgerechter Form die Überzeugung entgegen, dass personale Identität als Bedingung menschlicher Würde unverfügbar sei. Inder Debatte über den problematischen - politisch instrumentalisierbaren und potenziell chauvinistischen - Begriff einer "deutschen Leitkultur" erinnerte er daran, dass nur die "Einbeziehung des Anderen" (so auch der Titel eines Buches von 1996) die Grundlage politischer Kultur bilden könne. Und noch die um sich greifende Europa-Faulheit oder -Abstinenz unserer politischen Eliten hat Habermas im letzten Jahrzehnt bei leider allzu vielen Anlässen immer wieder auf den Plan gerufen.


Der Prozess der Vernunft

Das Medium seiner Interventionen sind nicht moralische Weckrufe, vielmehr Analyse und kritische Argumentation, so wie es der Diskurstheorie entspricht. Um so erstaunlicher, dass diese Interventionen ihre Wirkung gleichwohl nicht verfehlt haben. Unter der Übermacht politischer Routine, im fragwürdigen Automatismus des politischen Geschäfts mochte die Stimme der Vernunft zwar nicht immer erhört werden, gehört aber wurde sie so gut wie immer. In der Person von Habermas bleibt sie auch im anschwellenden Medienrauschen jederzeit vernehmbar, wie zum Beleg seiner einzigartigen Rolle als Intellektueller und Gelehrter.

Bereits die Methode seiner Einmischungen sollte die gröbsten Missverständnisse widerlegen, denen sein Werk und seine Person sich immer wieder ausgesetzt sehen. Dass nicht allen gefällt, was er zu sagen hat, dass gelegentlich polemische Gegnerschaft hervorruft, wofür er plädiert, ist nachgerade der Sinn seiner intellektuellen Interventionen. Die Konsenstheorie der Wahrheit - Prüfstein für alle kognitiven, ethischen und moralischen Geltungsansprüche - begründet ja kein simples Harmonieprinzip, sondern ein diskursives Verfahren, das von der legitimen Differenz seinen Ausgang nimmt und dessen Ende in Politik und Lebenswelt jederzeit offen bleibt. Das gilt auch für die Frage des ethisch Richtigen: Übereinstimmung soll nicht aus dem Bestreiten oder Unterlaufen der Unterschiede hervorgehen, schon gar nicht aus stillschweigendem Einvernehmen, sondern aus dem Zwang und der Notwendigkeit einer argumentativen Debatte, die diesen Namen verdient.

Die kooperative Wahrheitssuche, die allein Geltungsansprüche verbürgt, beruht als Bewegung vernünftiger Rede und Gegenrede im Kern auf dem Differenzprinzip, allerdings unter der zwingenden Voraussetzung, dass Verständigung nur dort erwartet und erreicht werden kann, wo sie im Ernst gesucht wird. Die Äußerung von Gründen, der Austausch von Argumenten ist nur sinnvoll, solange die Beteiligten annehmen dürfen, dass Gründe und Argumente von allen ernst genommen werden. Dass diese Voraussetzung "kontrafaktisch" für alle Akte sprachlicher Verständigung auch dann unverzichtbar bleibt, wenn die Absicht ins Spiel kommt, sie faktisch zu missachten, bildet gleichsam den archimedischen Punkt der Habermasschen Diskurstheorie. In ihm konvergieren seine Erkenntnis- und seine Gesellschaftstheorie, aber auch die politische Philosophie der deliberativen Demokratie.

Darauf beruht die enorme Reichweite der Diskurstheorie. Sie gibt gleichermaßen Antwort auf die philosophische Wahrheitsfrage, fungiert als basale Theorie der Gesellschaft und stellt normative Gesichtspunkte für die Organisation des sozialen und politischen Zusammenlebens bereit. In der Kultur der Moderne zeichnen sich menschliche Lebensformen durch die konstitutive Rolle von Gründen für das Zusammenleben aus; gerechte Formen politischer Gemeinschaft gebieten den Vorrang der Deliberation vor der bloßen Faktizität von Überlieferungen und Interessen. Darum ist das Prinzip Öffentlichkeit und seine angemessene Verwirklichung ein Schlüssel für die Organisation einer guten Gesellschaft.

Das alles hat der Sozialphilosoph Habermas über fünf Jahrzehnte hinweg aufwändig begründet und weiterentwickelt, und der Bürger Habermas hat es, wo es geboten war, beispielhaft praktiziert. Dabei ignoriert das Diskursprinzip weder Konflikte noch Interessen, eher stellt es ein Regelsystem für den fairen und produktiven Umgang mit ihnen bereit. Kommunikatives Einvernehmen ist niemals der Ausgangspunkt der Verständigungsversuche zwischen Menschen und Bürgern im öffentlichen Raum, bildet vielmehr deren Ziel und Horizont. Deliberation ist nicht illusionäre Flucht vor dem Konflikt sozialer und politischer Interessen, vielmehr das Medium seiner Zivilisierung und damit Grundlage der politischen Kultur in der Demokratie. Dazu gehört, wie auch Habermas weiß, die Einsicht, dass die Verwirklichungsform des Ideals auf Erden zumeist und zuletzt der Kompromiss ist, nicht als Einbruch der Willkür in das politische Leben, sondern in seiner eigenen Begründungsrationalität.


Emanzipation statt Erlösung

Das Leitmotiv seines Denkens, die Klärung der Voraussetzungen und die theoretische Begründung menschlicher Praxis als verständigungsorientiertem Handeln hat den gesamten Denkweg von Jürgen Habermas bestimmt, in systematischer Form seit der noch heute in der Forschung weltweit diskutierten Schrift Strukturwandel der Öffentlichkeit (1961) über die Theorie des kommunikativen Handelns (1981) bis in die Gegenwart. Habermas hat auf diesem Weg das theoretische Erbe der Frankfurter Schule, aus der er nicht eigentlich hervorging, sondern mit der er sich in selbstbewusster Distanz zeitweise verbündete, im substanziellen Sinne rationalisiert. Den religiös grundierten Versöhnungswunsch, der das gesellschaftskritische Denken Adornos und Horkheimers im Innersten bewegte, verwies er aus der wissenschaftlichen Theorie; stattdessen gab er dem - bei den Frankfurter Klassikern damit auf heikle Weise verwobenen - Emanzipationsgedanken eine gesellschaftstheoretisch tief angelegte rationale Grundlage. Wenn zuweilen kritisch angemerkt wurde, Habermas' Verständigungsdenken sei selbst nur eine letzte Säkularform des Versöhnungs-Verlangens, so kennzeichnet das keine spezifische Schwäche seiner Theorie, sondern eher den unüberwindbaren Kern aller menschlichen Gesellungsformen. Soweit Versöhnung eines der mitschwingenden Ziele in den Bemühungen um Verständigung ist, ist damit kein romantisches Einswerden getrennter Einzelpersonen gemeint, vielmehr die Möglichkeit des friedlichen Ausgleichs zwischen ihnen und die Erwartung, dass allgegenwärtige Konflikte durch Argumente und nicht durch Gewalt ausgetragen werden können.

In dieser rationalen Form wohnt dem Habermasschen Denken zweifellos ein utopischer Rest inne, den es freilich mit der gesamten Moral- und Rechtsphilosophie teilt und ohne den menschliche Lebensformen überhaupt nicht denkbar sind. Dazu gehört auch die in letzter Zeit immer eindringlichere Empfehlung, mit dem nicht rationalisierbaren religiösen Überschuss pfleglich und behutsam umzugehen. Keines der überlieferten Sinn- und Versöhnungsmotive soll auflösender Kritik verfallen, ehe nicht Ersatz in Sicht ist. Die religiös imprägnierten Lebenswelten, so gibt Habermas uns zu verstehen, bedürfen des besonderen Schutzes, da sie ein jederzeit gefährdetes Motivationsreservoir für die soziale Nachhaltigkeit sittlichen Handelns darstellen. Das ist freilich ein Gedanke, über den angesichts der nachweisbar ambivalenten Rolle der Religionen zwischen Krieg und Frieden durchaus zu streiten wäre.


Eine weltweit gehörte Stimme der Vernunft

Habermas genießt heute Achtung überall in der Welt. In den USA ist er gefragter Gast in den Zentren der Gelehrsamkeit; in Japan wurde ihm vom Kaiser der Kyoto-Preis - oft "Nobelpreis der Geisteswissenschaften" genannt - verliehen; in China haben vor wenigen Jahren die Repräsentanten des wissenschaftlichen und intellektuellen Lebens das Gespräch mit ihm gesucht, in der berechtigten Erwartung, daraus Nutzen zu ziehen für die Reform ihres eigenen Gemeinwesens. Eines wird dabei deutlich: Das Verlangen nach universell verbindlicher, vernünftiger Argumentation ist keine fragwürdige Forderung, sondern zunehmend gelingende Praxis. Habermas fällt dabei die Rolle als wichtigster Anwalt für Geist und Praxis der Aufklärung in unserer Zeit zu. In Zeiten eines neu entfachten kulturellen Relativismus, der unter anderem auch den intellektuellen Zündstoff liefert für die fundamentalistische Politik der Verfeindung, schärft er den Blick für die Tatsache, dass Aufklärung und Vernunft sowie die Ideen von Freiheit und Gleichheit keine regionale Spezialität Europas oder des "Westens" sind, sondern ein Projekt der ganzen Menschheit. Menschsein heißt, sich sprachlich zu verständigen, um nach Gründen fragen zu können. In dieser universalistischen Minimalanthropologie ist die ganze Sprengkraft der Aufklärung für das Zusammenleben der Menschen in Freiheit und Gleichheit enthalten: in der Freiheit des Fragenkönnens nach den Gründen des Handelns, in der Gleichheit des Antwortenmüssens, wo Begründung verlangt wird, kurz im Widerspiel des vernunftgeleiteten menschlichen Diskurses.

Dass dies nicht bloß theoretische Erkenntnisse und methodologische Empfehlungen sind, sondern Grundsätze für die demokratische Gestaltung von Staat und Gesellschaft, darauf beruht das Geheimnis der Wirksamkeit von Habermas' Denken. Sein Idealismus ist nicht angestrengte Ermahnung zum Streben nach hohen Idealen, sondern Erinnerung an das, was in Wahrheit immer schon vorausgesetzt werden muss, wenn wir uns mit anderen zu verständigen suchen oder wenn politische Herrschaft auf dem Prüfstand steht. Es trifft zu, dass das in der komplexen Welt unserer Gegenwart zunehmend schwieriger wird. Falsch ist es deshalb nicht.


Thomas Meyer (* 1943) ist Professor em. für Politikwissenschaften an der Universität Dortmund und Chefredakteur der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Soeben im VS Verlag erschienen: Was ist Demokratie? und Soziale Demokratie. Eine Einführung.
thomas.meyer@fes.de


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Jürgen Habermas: Philosoph - Intellektueller - Bürger


*


Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2009, S. 66 - 69
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 935-71 51, -52, -53
Telefax: 030/26 935-92 38
ng-fh@fes.de
www.ng-fh.de

Die NG/FH erscheint monatlich, wobei die Hefte 1+2
und 7+8 im Januar bzw. Juli als Doppelheft erscheinen.
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2009