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PROFIL/017: Alice Steriade Voinescu - Gemeinschaft der Gedanken (Uni Journal Marburg)


Marburger Uni Journal Nr. 32 - April 2009

Gemeinschaft der Gedanken

Von Heinrich J. Dingeldein


Ein erstaunliches Frauenschicksal am Anfang des 20. Jahrhunderts: Die rumänische Intellektuelle Alice Steriade Voinescu verkehrte mit Malraux, T. S. Elliot, André Gide und den Brüdern Heinrich und Thomas Mann; ihre geistige Prägung aber suchte und erhielt sie bei Hermann Cohen und Paul Natorp in Marburg.


Die so genannte "Marburger Schule" des Neukantianismus wurde um die Wende zum 20. Jahrhundert durch ihre Begründer Hermann Cohen und Paul Natorp zu internationaler Bedeutung geführt. Dass sich die Marburger Universität solch illusterer Alumni wie José Ortega y Gasset und Boris Pasternak rühmen kann, ist der Attraktivität dieser akademischen Lehrer und ihrer Gedanken geschuldet.

Hier soll von einem weiteren Beispiel für die Ausstrahlung der Marburger Philosophenschule berichtet werden, das bei uns bisher so gut wie unbekannt ist - von einer Frau, die zu den herausragenden Größen des rumänischen Geisteslebens zählt, deren Bedeutung und öffentliche Wahrnehmung seit der politischen Wende 1989/1990 ständig im Wachsen begriffen ist und in deren Lebensschicksal sich zugleich die ganze Tragik des 20. Jahrhunderts spiegelt: Von Alice Voinescu, geborene Steriade, der ersten in Philosophie promovierten Frau Rumäniens.


Auf Bildungsreise durch Deutschland

Alice Steriade wird am 10. Februar 1885 in Turnu-Severin im südwestlichen Rumänien als Tochter eines Advokaten geboren, der in Paris promoviert worden war. Schon als Kind lernt sie - in gebildeten rumänischen Kreisen damals durchaus nicht unüblich - neben ihrer rumänischen Muttersprache auch Deutsch und Französisch. Nach dem Besuch des Lyzeums in Turnu-Severin absolviert sie die Fakultät für Philologie und Philosophie an der Universität Bukarest; ihr Abschluss datiert aus dem Jahr 1908.

Im Jahr 1909 begibt sich Alice dann auf eine akademische Bildungsreise, die sich für ihr Leben in den folgenden Jahren als bestimmend erweisen sollte. Zunächst wendet sie sich nach Leipzig, dem Ziel vieler rumänischer Akademiker jener Zeit. An der dortigen Universität besucht sie Seminare bei Theodor Lipps und Johannes Volkelt. Es ist anzunehmen, dass sie bei diesem mit den Ideen des Marburger Neukantianismus bekannt geworden ist.

Im darauf folgenden Jahr 1910 reist sie über München nach Paris, wo sie an der Sorbonne mit den führenden Köpfen der dortigen Philosophischen Fakultät zusammentrifft. Bei Lucien Lévy-Brühl beabsichtigt sie, eine Dissertation über den Neukantianismus und die Marburger Schule anzufertigen, mit anderen Worten: über die Philosophie Hermann Cohens. Konsequenterweise wird ihr von ihren Pariser Lehrern angeraten, die Quelle selbst aufzusuchen. So trifft sie im Frühjahr des Jahres 1911 in Marburg ein.

Die Atmosphäre in der Stadt an der Lahn muss sie - aus den regen Großstädten Bukarest und Leipzig und der Weltstadt Paris kommend - beeindruckt haben. Sie schildert ihren Aufenthalt in einem ausführlichen Gespräch im Jahr 1945, veröffentlicht in einem Sammelband mit Interviews bedeutender Persönlichkeiten, das Ion Biberi unter dem Titel "Lumea de mâine" - Die Welt von morgen - herausgegeben hat.


"Mitten in ihrer Familie"

"Das in Marburg verbrachte Jahr, der Stadt mit Gärten und reicher Vegetation, hat mir die weitesten Horizonte eröffnet. Eine zufällig auf der Straße getroffene Frau half mir, bei den wichtigsten Familien der Stadt eintreten zu können. Ich habe das Leben der kleinen Universitätsstadt kennengelernt, den Geist und die Art und Weise ihrer Menschen, ihr Leben. Vor allem aber hatte ich die Freude, mit den herausragendsten Denkern der Universität, darunter den Philosophen H. Cohen und Natorp, bekannt zu werden. Ich war nicht nur ihre Schülerin. Ich habe mitten in ihrer Familie in einer engen Gemeinschaft der Gedanken gelebt."

Sie fährt fort: "H. Cohen, ein Sozialist, ein Mann mit weiter Perspektive, war der Gegenstand der Verehrung der aus allen Ländern der Welt gekommenen jungen Revolutionäre. Ich bin bei ihm eines Nachmittags eingetreten: ein altes Haus, in dem sich drei Zimmer vollgestopft mit Büchern befanden. Neben Bücherschränken, Vasen mit Blumen, an Stühlen, Regalen angelehnt, unordentlich, immens große El Greco-Reproduktionen. Nach einer Zeit erschien Cohen feierlich in einem langen Hausrock."

In dem dann geschilderten Gespräch zwischen ihr und Hermann Cohen wird erwähnt, dass die El Greco-Reproduktionen von Ortega y Gasset aus Paris gesandt worden waren. Aber Cohen erörterte mit ihr auch seine Zugehörigkeit zum Judentum und die Schwierigkeiten, die sich daraus eventuell für sie ergeben könnten.


Jude und Sozialist

Die Charakterisierung Cohens als Sozialist, seiner internationalen Anhänger als junge Revolutionäre und die angedeutete Thematisierung eines latenten Antisemitismus - ein Vorgang, der so von anderen Zeitzeugen in Zusammenhang mit Cohen nie erwähnt wird - mag aus den besonderen Umständen des Jahres 1945 in Rumänien zu erklären sein, als es galt, sich für die erkennbar sozialistisch werdende "Welt von morgen" gewappnet zu zeigen und sich vom ehemals verbündeten nationalsozialistischen Deutschland zu distanzieren.

Am Ende steht jedenfalls die gegenseitige Versicherung, man wolle sich um eine gute Zusammenarbeit bemühen. Alice lebt in engster Verbundenheit mit Paul Natorps Familie, in der sie "meine weiße Lilie" genannt wird. Kurz: "Das Umfeld von Marburg war durch das intime Leben und die raffinierte Intellektualität das beste Klima für eine harmonische seelische Entwicklung. Es war eine kleine Stadt mit vielen Gärten und Rosen. Der Frühling war entzückend."


Philosophischer Begleitservice

Die jeden Samstag stattfindenden Treffen im Hause Cohen brachte Marburger und auswärtige Intelligenz bei Musik, philosophischen und literarischen Gesprächen zusammen. Hier lernte sie den Baltendeutschen Nicolai Hartmann kennen, später einer der wichtigsten Vertreter der ontologischen Philosophie, der sie abends nach Hause begleitete.

Als Ergebnis ihres so glücklich empfundenen Marburger Aufenthaltes - kurz nach José Ortega y Gasset und knapp vor Boris Pasternak - konnte Steriade schon im Jahr 1912 bei Lucien Lévy-Brühl an der Sorbonne ihre Dissertation einreichen. Mit ihr erwarb sie als erste Rumänin überhaupt den akademischen Grad eines Doktors der Philosophie. Die Schrift mit dem Titel "L'interprétation de la doctrine de Kant par l'École de Marburg" ist 1913 in Paris unter dem Namen Alice Stériad veröffentlicht worden - die Schreibweise des Namens wechselt übrigens auch im Rumänischen.

Nach heutigen Maßstäben wäre jetzt eine unmittelbar folgende akademische Laufbahn zu erwarten gewesen. Doch wir befinden uns in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, und es handelt sich bei der Heldin unserer Geschichte um eine Frau. Den in Paris ausgesprochenen Rat, auf eine Studienreise nach Amerika zu gehen, verwirft sie, stattdessen folgt sie dem traditionellen weiblichen Rollenbild: Sie kehrt zurück nach Rumänien, um 1915 ihren Verlobten, den Advokaten Stelian Voinescu zu heiraten, genannt Stello.


Das Schicksal einer Frau

Zwischenzeitlich hatte mit dem Ersten Weltkrieg das Ende der alten Zeit begonnen. Alice Steriades Dissertationsschrift auf Französisch fand in Deutschland keinen Widerhall (obwohl Hermann Cohen es "ein schönes, ein gutes Buch" genannt hatte), und in Rumänien zunächst offensichtlich auch nicht. Sie tritt erst 1922 ins Berufsleben ein - als Professorin am Bukarester Königlichen Konservatorium für Musik und Theaterkunst. Eine ihrem Intellekt angemessene Professur für Philosophie an einer Universität scheint damals in Rumänien - wie in weiten Teilen Europas - für eine Frau noch nicht vorstellbar gewesen zu sein.

Zwischen 1925 und 1939 folgt Steriade Voinescu jährlich den Einladungen zu den "Dekaden" von Pontigny in Frankreich, einem Treffen herausragender Kulturschaffender, unter ihnen André Malraux, André Gide, die Brüder Thomas und Heinrich Mann, T. S. Elliot; auch der Romanist Ernst Robert Curtius ist darunter, der bis 1924 in Marburg wirkte. Sie ist volksbildnerisch im Rundfunk tätig, publiziert über "Montaigne" (Bukarest 1936), von 1938 an liefert sie umfangreiche Beiträge über den französischen Skeptizismus sowie zur Marburger Schule für das Monumentalwerk "Istoria filosofiei moderne" (Geschichte der Gegenwartsphilosophie). Auch schreibt sie Theaterkritiken und 1938 eine französischsprachige Broschüre mit dem Titel "Contribution de la psychologie dans l'assistance en Roumanie" (Beitrag zur Psychologie der Sozialarbeit in Rumänien). Hier könnte Paul Natorp nachgewirkt haben, der als Marburger Professor für Philosophie und Pädagogik erkennbares soziales Engagement an den Tag legte.

Im Jahr 1940 stirbt ihr Mann Stello, den sie aber in ihrem 1929 begonnen literarischen Tagebuch als Gesprächspartner fiktional weiterleben lässt. 1941 veröffentlicht sie den Band "Aspecte din teatrul contemporan" (Aspekte des gegenwärtigen Theaters).


Zwiesprache mit Ungeborenen

Im Jahr 1948 wird Alice Voinescu zwangspensioniert, weil sie sich gegen die Absetzung König Michaels von Rumänien mit der Bemerkung ausspricht: "Wer seine Geschichte nicht anerkennt, hat keine Zukunft." Zwei Jahre später beginnt sie - wohl um seelischen Druck mit Hilfe literarischer Arbeit abzubauen - mit dem Verfassen der "Briefe an meinen Sohn und meine Tochter", zwei fiktive Figuren, denn ihre Ehe war kinderlos geblieben.

Ihnen vertraut sie bis ins Jahr 1957 ihre Gedanken an und gibt damit auch ihre bedrückenden persönlichen Erlebnisse in der Folgezeit der Nachwelt weiter. Denn in der Zeit des wütenden Stalinismus wird sie 1951 verhaftet und in einem politischen Prozess zu 19 Monaten Zwangsarbeit verurteilt, danach - ohne Bücher! - in das kleine nordostrumänische Dorf Costesti im Kreis Jassy verbannt. Erst 1954 kann sie wieder nach Hause zurückkehren. Nun arbeitet Alice Voinescu als literarische Übersetzerin, unter anderem von Kleists "Michael Kohlhaas" und den Novellen von Thomas Mann - eine politisch unverfänglichere Arbeit als das Verfassen eigengedanklicher Schriften. Nachdem sie 1960/1961 die "Begegnungen mit tragischen Helden in Literatur und Drama" verfasst hat, in die auch frühere Schriften eingeflossen sind, stirbt Alice Voinescu in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1961.

Seit der politischen Wende in Rumänien wird zunehmend über Alice Voinescu und ihre bedeutende Rolle für die rumänische Kultur geschrieben. Ihre Schriften werden publiziert oder wiederaufgelegt, ihre im Original französischsprachige Dissertation ist 1999 in Bukarest in rumänischer Übersetzung erschienen.


Der versagte Ruhm

Alice Voinescus wissenschaftliches Leben hätte unter günstigeren äußeren Bedingungen sicherlich einen anderen Weg genommen, vielleicht hin zu internationalem Ruhm. Inwieweit sich die in Marburg gesammelten Erfahrungen und die Ideen der Marburger Schule in Alice Voinescus Schriften wiederfinden, wäre einer ausführlichen Untersuchung wert. Als Lehrerin auf dem Feld der Ästhetik und Kunst hatte sie gewiss weniger Chancen, Philosophie im Kernbereich des mathematisch und streng logisch orientierten Denkens der Marburger Schule in extenso zu betreiben.

In ihren philosophie-historischen Beiträgen ist sie sicher näher an der Materie, doch war ihre Schaffenszeit wenig geeignet, sie ohne Gefahr auszubreiten: Ihre akademischen Lehrer Hermann Cohen und Lucien Lévy-Brühl waren Juden - sicher kein argumentatives Plus in der kulturpolitischen Wahrnehmung der Zeit des Dikatators Ion Antonescu vor 1944, eines Verbündeten Hitlers; nach 1947 stand ihre "bürgerliche" Philosophie aus anderen Gründen im Abseits.

Die Zeit scheint reif zu sein, Alice Voinescu als eine bedeutende geistige Brückenbauerin ins kollektive Gedächtnis beider Länder, Rumäniens und Deutschlands, zurückzuholen. Ihre wissenschaftliche Auferstehung ist in Rumänien im Gange, und auch ihre Pionierrolle als eine der ersten akademisch gebildeten Frauen Rumäniens wird gebührend gewürdigt. Auch in Paris wurde ihrer schon ehrend gedacht. Mit gutem Recht wird Alice Steriade Voinescu zukünftig in die Liste der herausragenden Alumni der Alma Mater Philippina Marburgensis einzureihen sein.


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Quelle:
Marburger UniJournal Nr. 32, April 2009, Seite 46-48
Herausgeber: Der Präsident der Philipps-Universität Marburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2009