Schattenblick →INFOPOOL →GEISTESWISSENSCHAFTEN → PHILOSOPHIE

STRÖMUNGEN/022: Regenzauber und Hochtechnologie (uni.kurier.magazin Erlangen)


uni.kurier.magazin - 107/September 2006
Wissenschaftsmagazin der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Regenzauber und Hochtechnologie
Über die Rückkopplung von Reflexion und Innovation zur bewussten Zukunftsgestaltung

Von Jens Kulenkampff


Wenn wir heute den vergeblichen Versuch eines Schamanen belächeln, durch seine Tänze und Beschwörungsformeln Regen herbeizuzaubern, so übersehen wir leicht, dass das so genannte magische Weltbild von unserer aufgeklärten wissenschaftlichen Weltauffassung in mancher Hinsicht nicht so verschieden ist, wie es den Anschein haben mag. Gewiss: unser Wissen über die Welt ist ungleich größer als seines, aber der Magier wollte und versuchte genau dasselbe, was wir wollen und versuchen. Seit die Menschen ihren Intellekt dazu gebrauchen, sich zu schützen oder ihre Umwelt besser zu nutzen, ging es darum, Wissen über die Welt zu erwerben, um sich ihr durch Technik anzupassen oder sie den menschlichen Bedürfnissen entsprechend zu verändern. Das gelang den Menschen mal mehr, mal weniger gut, insgesamt aber in Jahrtausenden währenden Prozessen allmählich immer besser.

Was unsere heutige Situation von früheren Zeiten unterscheidet, ist zum einen das Ausmaß, in dem wir uns für die Bewältigung des Lebens auf technische Einrichtungen verlassen, und zum anderen das Tempo, mit dem sich unsere technisch geprägte Zivilisation verändert und weiterentwickelt. Der Grund für diese Dynamik liegt in der wissenschaftlichen Revolution, die in der frühen Neuzeit stattgefunden hat: Während die Menschen nämlich Jahrtausende lang darauf angewiesen waren, Erfahrungen über ihre Umwelt zu akkumulieren, die sich ihnen aus Erfolg und Misserfolg im Umgang mit den Dingen mehr oder weniger zufällig ergaben, erlaubt erst die in der Neuzeit erfundene experimentelle Methode eine systematische Erforschung der Welt und den Gewinn eigentlichen Wissens.

Kant hat diesen Wandel des Erkenntnis- und Wissenschaftsprozesses in unübertrefflich plastischer Weise auf den Punkt gebracht: Der Forscher muss mit Theorien "in einer Hand und mit dem Experiment, das [er] nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen lässt, was der Lehrer will, sondern eines bestellten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt." Die Pointe des kantschen Bildes besteht darin, dass der Experimentator nicht einfach Fragen stellt und dann abwarten muss, dass ihm sozusagen die Gnade einer Antwort zuteil wird, sondern dass der untersuchte Gegenstand genötigt wird, die Fragen, die ihm der Forscher stellt, zu beantworten.

Dabei geht der Forscher immer von theoretischen Vorannahmen aus, die auf dem schon erworbenen Wissen basieren, und diesem Wissen entsprechend konstruiert er die Apparaturen seiner Experimente, so dass er im Vorhinein weiß, was der (natürlich nicht vorbestimmte) Ausgang seines Experiments bedeutet: wofür oder wogegen er spricht, was bei welchem Ausgang des Versuchs der Fall sein kann und was nicht. Eine Bestätigung dafür, dass es auf diese Weise gelungen ist, die verborgenen Gesetze der Natur zu erkennen, haben wir dann, wenn wir in der Lage sind, mit Sicherheit vorherzusagen, welche genau bestimmten Effekte unter welchen Bedingungen auftreten, und wenn wir solche Effekte beliebig oft hervorbringen können, indem wir bestimmte Anfangsbedingungen setzen.

Natürlich feit uns diese Methode nicht vor Irrtümern und erspart uns nicht die Notwendigkeit, unsere Theorien und Hypothesen zu revidieren; aber der bestätigende Ausgang des entscheidenden Experiments und nicht zuletzt der Erfolg bei der Umsetzung des Wissens in Technik beweisen, dass die Wege, die die Wissenschaft gegangen ist, die richtigen Wege sind. Der Grund dafür, dass unsere technischen Erfolge unsere Theorien über die Welt bestätigen, liegt darin, dass das Experiment selbst nichts anderes als technisches Handeln ist und dass die auf diese Weise gewonnene Erkenntnis sofort wieder in die Veränderung und Neukonstruktion jener technischen Apparaturen einfließen kann, die uns Wissen über die Natur liefern. Es ist dieser innere Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Technik, der die Erfolgsgeschichte unserer wissenschaftlich-technischen Kultur erklärt.


Leben in einer von Technik geprägten Welt

Inzwischen leben wir in einer Welt, die durch und durch von Technik geprägt ist und die wesentlich von der Dynamik des weiteren wissenschaftlich-technischen Fortschritts abhängig ist. Wo wir auch hinkommen, - der technisch handelnde Mensch ist schon dagewesen. Manchmal erzeugt diese Ubiquität der Technik Ängste: Die Geschwindigkeit der technischen Innovation macht uns schwindlig, die zunehmende Komplexität der Systeme macht sie immer undurchsichtiger, gerade die stupende Leistungsfähigkeit technischer Apparate erzeugt den Eindruck einer unheimlichen und unbeherrschbaren Macht, die Folgen unseres Handelns erscheinen unabsehbar, und mit der Erweiterung unserer Spielräume und Handlungsmöglichkeiten scheint auch die Gefahr bedrohlich anzuwachsen, dass das auf den Nutzen und das Wohl der Menschen zielende technische Handeln sich in sein Gegenteil verkehrt. Viele solcher Ängste sind diffus, aber vielleicht durch Aufklärung und technische Bildung zu kurieren. Andere solche Ängste sind berechtigt und verlangen, den wissenschaftlich-technischen Innovationsprozess mit einem Reflexionsprozess zu verknüpfen, der darauf abzielt, die Auswirkung von Neuerungen und ihre Bedeutung für die Menschen möglichst frühzeitig zu erkennen. Diese Erkenntnis sollte nicht erst im Nachhinein, sozusagen im Reparaturbetrieb, Wirksamkeit erlangen, sondern - je nachdem, ob es sich um wünschenswerte oder zu vermeidende Konsequenzen handelt - schon in die Entwicklung der Fragen eingeführt werden, die die Wissenschaften verfolgen. Gerade die moderne Form von Wissenschaft, in der Erkenntnisgewinn und technisches Handeln miteinander verzahnt sind, erlaubt eine solche Rückkopplung von Reflexion und Innovation und erlaubt damit den Menschen; ihre Zukunft bewusst zu gestalten.


Prof. Dr. Jens Kulenkampff ist seit 1996 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie und Leiter des Instituts für Philosophie der Universität Erlangen-Nürnberg.


*


Quelle:
uni.kurier.magazin Nr. 107/September 2006, S. 42-44
Informations-Magazin der
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Herausgeber: Der Rektor
Redaktion: Schlossplatz 4, 91054 Erlangen
Tel.: 09131/85-24 036, Fax: 09131/85-24 806
E-Mail: presse@zuv.uni-erlangen.de
Internet: www.uni-erlangen.de

Das Wissenschaftsmagazin der Friedrich-Alexander-
Universität Erlangen-Nürnberg erscheint 1 x jährlich.
Es informiert seit 1975 über Aktivitäten und Vorhaben
der Universität in den Bereichen Forschung, Lehre und
Hochschulpolitik.


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. August