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STRÖMUNGEN/023: Zum Frühstück Marc Aurel - Der französische Denker Pierre Hadot (Publik Forum)


Publik-Forum, Zeitung kritischer Christen, Oberursel
Ausgabe 8/2009

Zum Frühstück Marc Aurel

Der Philosoph als Exerzitienmeister:
Lebe jeden Tag so, als wäre er dein erster Lebenstag.
Porträt des französischen Denkers Pierre Hadot

Von Christian Modehn


Wenn er sich auf die schwierigen Operationen an seinem Herzen vorbereiten musste, fand er Trost in der Philosophie. »Die innere Ausgeglichenheit haben mir die Philosophen der Stoa gegeben«, erzählt Pierre Hadot. »Meine individuelle Situation konnte ich relativieren, wenn ich mir vorstellte, wie ich, gleichsam fliegend, von hoch oben, auf die Welt schaue. Diese Übung gegen alles egozentrische Denken zeigt, wie unbedeutend alles ist.«

Der ehemalige Philosophieprofessor Pierre Hadot hat erlebt und erfahren, dass philosophisches Nachdenken genauso heilsam ist wie eine Therapie: »Lebe jeden Tag so, als wäre er dein erster Lebenstag. Und lebe ihn so, als wäre er der letzte. Dann freust du dich entweder über das Aufgehen einer Welt in dir und um dich herum. Oder du siehst im Blick auf das Ende die Ganzheit des Lebens. Nur in dieser meditativen Haltung - ein Vorschlag antiker Philosophen - entdeckt man die Tiefe des Lebens, die Freude, jetzt diese Gegenwart zu erfahren.«

Philosophie ist für Pierre Hadot mehr als abstraktes Debattieren, mehr als systematisches Reflektieren in Universitäten: Sie ist eine Lebenshaltung. Und vielleicht ist sie es ja auch, die Pierre Hadot ein so langes Leben geschenkt hat: 1922 in Paris geboren, hat er sich schon als Jugendlicher leidenschaftlich für die Philosophie interessiert. Er erinnert sich gern an ein Erlebnis ungewöhnlicher Art, das er als »ozeanisches Gefühl« beschreibt: Er fühlte sich plötzlich einbezogen in eine geheimnisvolle Welt, wie in den Wellen eines unendlich erscheinenden Ozeans. Diese Unendlichkeit hat er aber nicht mit Gott in Verbindung gebracht. »Es war sozusagen eine religionsfreie philosophische Erfahrung der Unendlichkeit.«

Pierre Hadot lehrte am berühmten Collège de France in Paris. Sein Fachgebiet: Die antike Philosophie, aber auch das Denken von Montaigne und Kant, Goethe und Wittgenstein. Seine zahlreichen Bücher haben vielen Menschen vor allem die antike Philosophie nahegebracht: Die Schulen der Stoiker und Epikuräer, der Platoniker und Skeptiker. »Philosophen wie Seneca, Marc Aurel oder Epiktet haben keine systematischen Lehrbücher hinterlassen«, betont Hadot, »sondern Reflexionen, die ihnen selbst wie auch ihren Schülern Lebenshilfe sein sollten.« Befreit man diese Lehren von zeitgebundenen Vorstellungen und Einflüssen, etwa bestimmten Ideen vom Kosmos oder den Atomen, dann zeigen diese alten Denker eine überraschend aktuelle Bedeutung für die Lebensgestaltung heute.

»Pierre Hadot hat unsere Vorstellung von Philosophie grundlegend verändert«, schreibt der auf die Philosophie spezialisierte Publizist Roger Pol Droit aus Paris. Zu Beginn seiner Studien sah alles so aus, als würde er eine Karriere innerhalb der katholischen Kirche machen können: Von den Christlichen Schulbrüdern ausgebildet, »hatte ich einen naiven Kinderglauben ohne jeden Enthusiasmus«. Hadot studierte Theologie, 1944 wurde er zum Priester geweiht, weil das Seminar in Reims dringend einen Geistlichen als Philosophie-Dozenten brauchte. Die gegen alles Moderne gewandte Enzyklika »Humani Generis« von Papst Pius XII. war dann für ihn ein Schock. Die stereotypen Wiederholungen der liturgischen Sprache empfand er als Ärgernis. Den immer wieder propagierten Glauben an übernatürliche Wunder konnte er nur ablehnen. »Im Jahr 1953 habe ich dann die katholische Kirche verlassen.« Sein Priesteramt gab er auf und heiratete 1964 in Berlin die Philosophin Ilsetraut Marten. Mit ihr zusammen widmete er sich der Philosophie als Exerzitium, als geistiger Übung.

Die antiken Philosophen wollen, so sagt er, den Geist ihrer Zuhörer anregen, »bearbeiten«. Sie wollten nicht nur informieren, sondern - durchaus mit einem missionarischen Anspruch - die Seele formen. In den zahlreichen, gerade in den Städten weit verbreiteten philosophischen Schulen wurde mit dem »Meister« über diese Exerzitien diskutiert. Praktizieren aber muss die Übungen der einzelne Mensch. Er muss lernen, philosophische Lebenshilfe in jeder Lebenssituation zur Verfügung zu haben.

Hadot empfiehlt, zentrale Einsichten auswendig zu lernen und wie in einem inneren Dialog den eigenen Geist zu formen: »Bald wirst du alles vergessen haben, und bald werden dich alle Menschen vergessen haben.« Dieser Lehrspruch von Marc Aurel zum Beispiel verhindere blinden Übermut oder gar den Wahn, ewig jung bleiben zu können. Philosophische Übungen als verinnerlichtes Bedenken der Weisheit förderten die geistige Präsenz. Der Versuchung, wie im Dämmerzustand durch das eigene Leben zu tappen, werde dadurch begegnet.

Was brauche ich wirklich zum Leben? Epikur lehrte zum Beispiel: »Das Elend der Menschen besteht darin, dass sie Dinge fürchten, die gar nicht gefürchtet werden dürfen, zum Beispiel den Tod oder die Götter: Von unserem Tod können wir nichts wissen. Und von den Göttern wissen wir auch fast nichts, weil sie im fernen Himmel sind.« Innere Ruhe tritt ein, wenn wir uns sagen: »Wir dürfen nicht wollen, dass das, was sowieso eintritt, doch besser nicht eintritt. Sondern wir müssen wollen, das anzunehmen, was nun einmal unabänderlich kommt.«

Zu den Exerzitien der antiken Philosophen gehört für Pierre Hadot entscheidend die Achtsamkeit auf die Gegenwart. Darum empfiehlt er - wie die Meister der Antike - die reflektierende Meditation am Morgen: Nach welchen Grundsätzen will ich heute handeln? Aus egoistischem Antrieb oder gemäß einer vernünftigen Ethik? Und am Abend findet die Gewissenserforschung statt. Nicht etwa, weil ein Gott das verlange, sondern weil es vernünftig und deswegen heilsam sei: Habe ich heute die Menschen mit Wohlwollen behandelt? Lebe ich für die anderen? Ist mir die Freundschaft das höchste Gut? Habe ich mich der Resignation hingegeben? Marc Aurel hat gelehrt: »Erwarte nicht die ideale Republik, sei zufrieden, wenn eine kleine Sache vorankommt, und bedenke, was dann daraus wird; das ist dann oft gar keine kleine Sache mehr.«

Die Exerzitien der antiken Philosophen haben die Exerzitien der Kirche geprägt. Das jedenfalls hat Pierre Hadot nachzuweisen versucht. Die Christen haben sogar diese freien philosophischen Übungen vereinnahmt, als sie die Philosophie ab dem Mittelalter zur »Dienerin der Theologie« erklärten und das kirchliche Dogma über das kritische Fragen stellten. Die Philosophie soll ja noch heute in der Ausbildung der Priester zur Annahme der Kirchenlehre anleiten.

Pierre Hadot lässt keinen Zweifel daran, dass die philosophischen Exerzitien auch heute eine spirituelle Hilfe sein können: als eine Form von »Selbsterziehung«. Die Einzelnen können sich dabei zu philosophischen Gesprächskreisen zusammenschließen, wie dies teilweise auch geschieht. Der zeitliche Abstand zu den Texten antiker Philosophen ist ja nicht größer als zu den Texten der Bibel. In beiden Fällen müssen die alten Texte historisch-kritisch gelesen werden. Die Anregungen der verschiedenen Philosophien bleiben zumindest genauso relevant wie das biblische »Buch der Weisheit«. Die philosophischen Exerzitien wollten freie, selbstständige Menschen fördern, erklärt Pierre Hadot, die sich keiner kirchlich vorgegebenen Moral anpassen müssen. Vielmehr zähle einzig die Achtsamkeit auf die Stimme der Vernunft. Denn sie führe, so der Philosoph, zum inneren Frieden: »Ein Geschenk, das gerade in Zeiten globaler Krisen lebensrettend sein kann.«


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
Pierre Hadot geboren 1922, lehrte von 1964 bis 1986 Religionswissenschaft an der Ecole Pratique und danach Philosophie am Collège de France in Paris. Er gilt als bedeutender zeitgenössischer Begründer einer »Philosophie der Lebenskunst«.

Weitere Texte von Christian Modehn finden Sie unter:
www.religionsphilosophischer-salon.de


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Quelle:
Publik-Forum, Zeitung kritischer Christen
Ausgabe 8/2009, 28. April 2009, S. 44-45
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. April 2009