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GUTE-NACHT/2580: Tapferer Holunderbusch am Häuschen am Hang (SB)


Tapferer Holunderbusch am Häuschen am Hang

Bei den Büchern, die Mandy gestern auf dem Dachboden gefunden hat, war auch eines dabei mit dem Märchen vom tapferen Holunderbusch. Hedda hat versprochen, die Geschichte Mandy am Abend vorzulesen.


*


In jener fernen Zeit, als es noch Riesen gab, da lebte einer von ihnen in einem wüsten Turm auf einer weiten Halde. Es hätten sich dort die schönsten Kornfelder ausbreiten oder Obstbäume hätten dort wachsen können, um schöne Äpfel oder süße Birnen zu tragen, oder wenigstens hätte ein dichter, stolzer Wald dort Raum gehabt, Zuflucht für Mensch und Tier zu bieten. Aber von alledem gab es nichts, denn der Riese konnte es nicht leiden. Ihm war am wohlsten, dort wo es recht wüst und leer war. Er duldete keinen Baum und keinen Busch auf Meilen in der Runde. Menschen gab es nur wenige in jener Zeit, und sie lebten geduckt und voller Angst in den Höhlen der Felsen und in tiefen Wäldern. Denn die Riesen machten sich ein Vergnügen daraus, sie zu jagen, nicht anders als die Tiere. Unterhalb der Halde, in einem Tal, stand ein festes Haus. Das hatte sich ein Geschlecht gebaut, mächtig in seiner Art und mit Herzen voller Mut. Es duckte sich nicht, sondern bekämpfte die Riesen wo es nur konnte, besonders jenen auf der Halde.

Einmal nun geschah es, daß alle Männer auf einen Kampfzug gegen das Riesenvolk zogen. Nur die holde, schöne Frau Frigge, die zu dieser Zeit ihr erstes Kind erwartete, hütete allein das Haus. Dies hörte der Riese von der Halde und beschloß, die Gelegenheit zu nutzen und mit der Frau auch gleich die junge Brut zu vernichten. Da mußte Frau Frigge fliehen. Sie kam in einen Wald und traf den Lindenbaum: "Ach Lindenbaum, Lieber, Guter! Hilf mir in meiner Not, hilf meinem Kind und verjage den Riesen!" Der Lindenbaum antwortete: "Liebe, holde Frau Frigge, gern will ich dich bergen unter meinen Zweigen. Hinausgehen aber und mit dem Riesen kämpfen, das kann ich nicht!" Da eilte Frau Frigge tiefer in den Wald und kam zum Eschenbaum: "Ach, Eschenbaum, Lieber, Stolzer! Hilf mir in meiner Not, hilf meinem Kind und verjage den Riesen!" Der Eschenbaum aber sprach: "Liebe, holde Frau Frigge, gern will ich deinem Sohn, wenn er heranwächst, Speere und Bogen geben aus meinem Holz, so leicht und fest wie keines sonst, aber hingehen und mit dem Riesen kämpfen, das kann ich nicht!" So eilte Frau Frigge noch tiefer in den Wald und kam zum Eichbaum: "Ach Eichbaum, Lieber, Starker! Hilf du mir doch in meiner Not, hilf meinem Kind und verjage den Riesen!" Doch auch der Eichbaum konnte dies nicht und sprach: "Liebe, holde Frau Frigge, gern möchte ich als deines Sohnes Hüter ihm geben, daß er so stark werde wie ich, aber hingehen und mit dem Riesen kämpfen, das kann ich nicht!" Da ging Frau Frigge weiter, und sie weinte, denn nun wußte sie keinen Rat mehr.

Mit einem Male fühlte sie sich an der Schulter festgehalten. Als sie sich umsah, stand da ein kleiner Holunder am Wege, der sagte: "Liebe, holde Frau Frigge, ich kann dich nicht traurig sehen! Ich will es wagen und versuchen, den Riesen zu vertreiben!" Nun muß man aber wissen, der Holunder ist gar kein rechter Baum, sondern mehr ein Gestrüpp, ein Unterholz. Sein Stamm hat nur weiches Mark, es gilt als schwach. So glaubte Frau Frigge nicht, daß es der Holunder mit dem Riesen aufnehmen könnte. Der Holunder aber ließ sich nicht abschrecken und schon am anderen Morgen - wie er es geschafft hatte, weiß kein Mensch - stand er grad vor des Riesen Turm auf der Halde. Mit viel Lärm und Getöse kam der Riese aus seinem Bau. "Was ist denn das?" schrie er, "was steht denn hier?" - "Ich", sagte der Holunder. "Aber nicht mehr lange!" brüllte der Riese wütend, hob seinen Fuß und - knacks - trat er das Stämmchen um. "Aus ist es mit dir!" sagte er zufrieden und schritt davon.

Als der Riese aber nach ein paar Tagen wiederkam, was stand da vor seiner Tür? Der Holunder! Er war nicht so stämmig wie vordem, hatte aber dafür viele neue Triebe. "Bist du immer noch da?" wütete der Riese. Der Holunderbusch sagte nichts, aber er gab sich Mühe und seine Ruten wuchsen sichtbar. "Ich will das nicht!" schrie der Riese und begann den Holunderbusch anzublasen. Da wurde es kalt, oh so kalt! Es fror, mitten im Sommer. Dem Holunderbusch wurde so eisig, alle seine grünen Blätter fielen ab, nur noch nackte Ruten ragten aus dem Boden. Der Riese meinte, nun müsse der Holunderbusch ganz erfroren sein. Er ließ ab von ihm und ging seiner Wege.

"Ist er tot? Ist er nun tot?" fragte sich der tiefer als die Halde stehende Wald, und seine Bäume, die nicht so durch die Kälte gelitten hatten, reckten sich und versuchten, bis zum Holunderbusch hinauf zu schauen. Doch der Holunderbusch war nicht tot. Er hatte nur alle seine Säfte und Kräfte ins Innere gezogen. Nun, als der Riese fort war, streckte er sich wieder, gab sich rechte Mühe, wuchs und trieb neue Blätter hervor und tat, was er konnte. Er schob seine Wurzeln im Boden weiter und überall, wohin sie kamen, trieben sie neue Schößlinge hervor. Auch diese begannen zu grünen und streckten sich, setzten weiße Dolden an und brachten in unheimlicher Eile Beeren hervor. Diese waren zuerst grün, wurden aber alsbald ganz schwarz. Kaum bemerkten die Vögel die schwarzen Beeren, kamen sie auch schon geflogen und fraßen die süß schmeckenden Beeren.

Als der Riese wieder zurückkam, da grünte es vor seinem Turm und die Zweige der Holunderbüsche wiegten sich im Winde. Nicht nur ein Busch wuchs jetzt dort, sondern drei, vier, ja über zehn Holunderbüsche. In denen hüpfte und zwitscherte es nur so, Nester wurden gebaut, daß es eine Freude war. Nicht aber für den Riesen. "Warte nur, du...!" drohte der Riese, "ich werde dich schon noch vertreiben!" - "Ich bleibe!" sagte der Holunderbusch. Da begann der Riese zu toben und zu wüten. Er ließ kein grünes Stämmchen stehen, nicht die kleinste Rute. Er brach alles um und zertrampelte es. Längst waren die Vögel entflohen. Als schon nichts mehr vom Holunderbusch zu sehen war, holte der Riese eine Hacke und begann, den Boden umzuwühlen. Wo er nur eine Wurzel fand, da riß er sie aus und hackte sie kurz und klein. Als es Abend wurde, lag rund um den Turm des Riesen eine Wüste von aufgerissener, zerklüfteter Erde. Da wuchs kein einziges Hälmchen mehr. "Jetzt ist es aus mit dir!" brüllte der Riese. Niemand widersprach. Der Riese schulterte seine Hacke und ging in seinen Turm.

Zurück blieben viele winzig kleine Wurzelreste, die der Holunderbusch noch im Boden hatte anklammern können. Diese besannen sich in der Nacht unter dem strahlenden Sternenhimmel auf ihr Dasein und fingen von vorn an zu wachsen. Sie streckten kleine Würzelchen in die Tiefe. Es ging sogar leichter, denn der Riese hatte ja beim Hacken die ganze Erde aufgelockert. Als genügend kleine Würzelchen Nahrung aus dem Boden zogen, da versuchten es die Wurzelreste schüchtern, ein oder zwei Schößlinge nach oben herauszustoßen. Bis dahin hatten die Armen, die Überreste in der dunklen Erde, gemeint, jedes sei allein und hatten sich für den Rest vom alten Holunderbusch gehalten. Als nun aber der Boden hier einen Schößling freigab und dort einen anderen und da drüben wieder einen und sie sich alle im Sternenlicht erkannten, da begriffen sie, nicht ein einziger Rest war vom Holunderbusch noch da, sondern der tapfere Holunderbusch selbst war noch am Leben! War das eine Freude! Wie wurde nun die Nacht hindurch geschafft, gereckt, getrieben, gewachsen. Als die Sonne am nächsten Morgen aufging, da standen im zerwühlten Acker viele, viele Holunderbüsche - ja, ein kleiner Wald fast.

Die Sonne weckte den Riesen in seinem Turm. Er reckte sich, daß es krachte, er gähnte mit Gebrüll und lachte schallend, weil er daran dachte, wie er gestern mit dem Holunderbusch abgerechnet hatte. Als er aber vor sein Tor trat, stotterte er: "Was, was, was ist denn das?" - "Ich!" schrien all die vielen Holunderbüsche. Da gab der Riese auf, gepackt von Panik, daß es immer mehr Holunderbüsche wurden, je mehr er sie zertrat oder zerhackte, rannte er davon und kam nicht wieder. Weit, weit bis zum Nordpol lief der Riese und soll da noch immer hausen. Auf die Halde aber kamen die Vögel zurück und auch die holde Frau Frigge. Mit ihr kamen Schmetterlinge, Bienen und Käfer. Die vielen Holunderbüsche blüten wie noch niemals zuvor. Frau Frigge streichelte ihre Blüten. Da wurden aus ihnen kleine Beeren, die sich mit süßem Saft und großer Heilkraft füllten und dazu noch weithin dufteten. Frau Frigge kostete von den Beeren. Sie schmeckten würzig und so ist es mit ihnen geblieben bis zum heutigen Tage. Seine Tapferkeit und Zähigkeit und, daß er nicht auszurotten ist, hat sich der Holunderbusch bis heute bewahrt. Und weil er Frau Frigge geholfen hat, haben die Menschen ihn von damals an immer geachtet und werden ihn auch nie vergessen.


*


Mandy zeigt auf das Fenster. "Da draußen steht auch ein Holunderbusch, nicht wahr?" fragt sie. "Ja", bestätigt Hedda, "ich freue mich immer, wenn er so schön wächst und im Herbst seine Holunderbeeren reif sind. Jetzt aber ist Schlafenszeit." Mandy blickt wieder zum Fenster und sagt: "Gute Nacht, Holunderbusch." "Gute Nacht, Mandy", lacht ihre Tante. "Gute Nacht, Hedda!"

15. März 2008

Gute Nacht