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GUTE-NACHT/2761: Aufgesessen (SB)


In der Nacht erwacht das kleine Wesen. Es ist bereits dunkel in der Galerie und menschenleer. Nur einzelne Strahler hier und da in den Räumen werfen einen kleinen Lichtkegel auf die Bilder an den Wänden und das Licht der Straßenbeleuchtung und der Lichtreklamen ergänzen das Schummerlicht mit Farbeffekten in den Gängen. Wohin waren die vielen Menschen vom Abend hin verschwunden. Wo steckte jetzt der Zeichner Raimund? War er wieder nach Hause gefahren, ohne sein kleines Wesen? Das würde er vergeblich zuhause suchen. Denn er wußte ja gar nicht, daß es mittels des nachgesandten Zeichenblocks, das Heim des Zeichners verlassen hatte.

Aber da fällt dem kleinen Wesen ein, daß der Zeichner irgendwann wiederkommen wird. Schließlich hängen hier noch seine Werke. Sobald die Ausstellung beendet sein wird, muß er kommen, die Bilder wieder nach Hause zu holen. Bis dahin sollte das kleine Wesen wieder in dem Zeichenblock verschwunden sein, um ebenfalls mit nach Hause genommen zu werden. Doch wo steckt der Zeichenblock?

Der Zeichner war mit dem Block losgestürmt. Dabei war das kleine Wesen herausgefallen. Der Block konnte nun in diesem Raum hier mit Raimunds Werken liegen oder in einem ganz anderen Raum. Am besten würde es sein, hier auf den Zeichner zu warten, um ihn nicht zu verpassen. Doch in dieser Nacht wird er sicher nicht wiederkehren, sonst wäre er ja wohl noch geblieben.

Das kleine Wesen fühlt sich noch nicht wieder getrocknet, sondern noch recht beweglich, ja sogar etwas klebrig. Das kam sicher von dem prickelnden Getränk, das unter dem Sitzmöbel verschüttet worden war und die Anziehpuppe durchtränkt hatte.

"Herumsitzen und warten kommt nicht in Frage. Ich werde mich in den vielen Gängen in bißchen umsehen", beschließt das kleine Wesen und zieht los. Die Galerie besteht aus fünf Räumen und endlos langen Fluren. In vier Räumen hängen Bilder, der fünfte sieht aus wie der kleine Raum zuhause mit der großen Wanne. Hier sind ebenfalls viereckige kleine Steinplatten an den Wänden und auf dem Boden wiederzufinden, aber keine Bilder.

In einem Raum hängen nur vier Bilder an den Wänden, immer ein Bild an jeder Wand, denn die Rahmen sind sehr groß und die Leinwand farbig angemalt. Das freut das kleine Wesen. "Da war ein richtiger Maler am Werk", stellt das kleine Wesen fest. Diese Bilder könnte die kleine Anziehpuppe stundenlang betrachten. Doch warum nur betrachten und nicht mal einen Spaziergang auf der bunten Leinwand unternehmen? Das kleine Wesen setzt seine Idee sofort in die Tat um. Es entscheidet sich zuerst für das Bild, das nur in gelben und roten Tönen gemalt wurde. Auf dem Bild angekommen, stellt das kleine Wesen fest, daß Farbe nicht einfach verläuft und flach ist, sondern auch Berge und Hügel bilden kann, die aus dem Bild hervorstehen. Auf einem dieser Vorsprünge nimmt das kleine Wesen Platz und beschaut sich von hier aus die Malerei an der gegenüberliegende Wand, die ausschließlich in Blautönen erstellt wurde.

Das kleine Wesen verfolgt mit seinem Blick nun das blaue Wasser, das gleich an den blauen Himmel grenzt. In diese Weite starrt es lange Zeit und bemerkt nicht, wie sein klebrig gewordenes Äußere auf dem gelben ebenfalls noch klebrigen Farbvorsprung vor Anker geht.

17. Oktober 2008

Gute Nacht