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GUTE-NACHT/2896: Corinna reist ins Kaufhaus (SB)


Gute Nacht Geschichten


Corinna ist ein lustiges Kind und hat immer eine Geschichte auf Lager. Sie kann sich die besten Witze ausdenken und erzählt die schlimmsten Gruselstories. Abends, wenn sie im Bett liegt, liebt sie es, sich Geschichten auszudenken. Wenn sie möchte, schließt sie die Augen und eine Reise beginnt.

Am liebsten reist sie in das Kaufhaus, in dem ihre Tante May arbeitet. Einige Male hat Corinna ihre Tante schon ins Kaufhaus begleitet. Tante May ist Plakatmalerin und arbeitet in der Innendekoration.

Heute möchte Corinna wieder ins Kaufhaus reisen. Die großen Eisengitter werden um 20.00 Uhr heruntergelassen. Deshalb geht Corinna zehn Minuten vorher ins Bett. Sie schließt die Augen und schon steht sie vor dem großen vierstöckigen Kaufhaus. Corinna huscht noch schnell durch den Haupteingang und steuert auf den Fahrstuhl zu. Sie nimmt den Fahrstuhl des Personals, drückt den Knopf zum vierten Stock und steigt in der Dekorationsetage aus. Keiner sieht sie. Hier im vierten Stock wartet der lange graue Gang auf Corinna. Er verläuft erst 15 Meter geradeaus, dann biegt er rechts um die Ecke, dann noch einmal zehn Meter. Alles ist grau und ohne Fenster, denn die langen Gänge liegen weit im Innern des großen Kaufhauses. Bei jedem Schritt, den Corinna in diesen verlassenen Gang setzt, schallt es. Aber Corinna hat keine Angst. Schon oft ist sie mit ihrer Tante diesen Weg gegangen. Niemand begegnet ihr mehr. Die Dekorateure und Plakatmaler haben bereits am Nachmittag das Haus verlassen.

Auf der rechten Gangseite kommt eine Tür. Diese führt zur Plakatmalerei. Doch Corinna geht weiter. Ihr Ziel sind die Räume der Innendekorateure. Noch einmal spaziert sie zehn Meter weiter den grauen, düsteren Gang entlang, um die Tür auf der linken Gangseite zu erreichen. Corinna erinnern die kahlen Wände an die Straßenunterführung an der Ecke bei der Schule. Doch dort sind die Wände bunt bemalt oder besprüht. Bei dem Anblick hier versteht Corinna, warum die tristen Unterführungen trotz Verbote und Androhung von Strafen mit Farben besprüht oder bemalt werden. Graue Wände sind einfach angsteinflößend.

Corinna gelangt endlich bei der Tür zur Innendekoration an. Hier stehen die nackten Schaufensterpuppen. Lange und hohe Regale sind gefüllt mit allerlei Materialien: Stoffen, Bändern, Stecknadeln und vieles mehr. Auch Einzelteile der Schaufensterpuppen liegen im Regal wie Arme und Beine. Denn bei einigen Puppen können die Gliedmaßen ausgetauscht werden, genau wie die Perücken. Corinna zieht es in den kleinen Raum ganz hinten in der Ecke. Dort hat sich ihre Tante eine winzige, aber gemütliche Ecke eingerichtet. Hier schreibt sie ihre Wochenpläne und zeichnet Skizzen für die nächsten Dekorationen. Eine rote Hand steht auf dem Schreibtisch, an den gespreizten Fingern sind Ketten aufgehängt. Daneben steht ein Glas für Süßigkeiten. Tante May kauft sie sich immer unten am Stand im Erdgeschoß. Darauf hatte sich Corinna den ganzen langen Weg hierher gefreut. Doch leider ist kein einziges Bonbon mehr im Glas.

Da bleibt der heimlichen Besucherin wohl nichts anderes übrig, als nun selbst den großen Süßigkeitenstand neben der Eingangstür des Kaufhauses aufzusuchen, um sich dort die leckeren Süßigkeiten in den Mund zu stopfen. Die vielen Fächer sind immer randvoll gefüllt mit den besten Süßigkeiten aus der ganzen Welt. An diesem Abend möchte sich Corinna die ganze große Welt einfangen.

Noch eine Weile wartet sie hier in Tante Mays Eckchen, um nicht den Putzkollonnen in die Arme zu laufen, die jeden Abend, wenn die Kunden das Haus verlassen haben, den ganzen Kaufraum sauberschrubben.

Nur zu Warten ist langweilig. So legt sie den Kopf auf ihren Arm und beobachtet die Spinne, die unter dem angewinkelten Arm der Schaufensterpuppe ihr Netz spinnt. Corinna ist fasziniert, wie geschickt sich die Spinne an zwei Fäden entlang hangeln kann.


Plötzlich hört sie ein Geräusch. Sie erschrikt und öffnet die Augen. Corinna liegt in ihrem Bett und ist wieder zuhause. Ihr Bruder ist in ihr Zimmer gekommen und kramt auf Corinnas Schreibtisch herum. "Ich hole mir nur mal deinen Spitzer, meiner ist stumpf. Gute Nacht." Corinna brummelt vor sich hin. Sie ist sauer, daß ihr Bruder sie im Kaufhaus gestört hat.

Doch noch einmal möchte Corinna an diesem Abend nicht den langen, grauen Gang entlang marschieren. Sie nimmt ihren Kuschelbär, den sie sich erst vor ein paar Wochen aus einem Automaten herausgefischt hat, schließt die Augen und spaziert mit ihm Hand in Hand über den Rummelplatz ...

Erstveröffentlichung 1. September 1998

31. März 2009

Gute Nacht