Schattenblick →INFOPOOL →KINDERBLICK → GESCHICHTEN

GUTE-NACHT/2914: Eichen sollen weichen (SB)


Gute Nacht Geschichten


Im Altersheim sitzt Oma Gerda in ihrem Lehnstuhl und fragt sich, wann Herr Egon, der Schriftsteller, sie wieder besuchen kommt. Dann erinnert sie sich, er war doch gestern erst hier. So schnell wird er also nicht erneut erscheinen. Plötzlich fragt sich Oma Gerda, ob er nicht vielleicht doch vorgestern dagewesen ist oder war es in der letzten Woche? Oma Gerda versucht den Besuch an verschiedenen Ereignissen festzumachen, um den Zeitpunkt seines Erscheinens zu bestimmen. Aber sie erinnert sich einfach nicht.

"Das liegt wohl daran", schimpft sie, "daß jeder Tag gleich abläuft. Morgens um sechs werden wir geweckt, gerade wenn man so schön schläft. Anschließend wird sich angezogen, gewaschen und das Frühstück steht bereit. Dann beginnt das große Herumsitzen bis zum Mittagessen. Kurz danach gibt es Kaffee oder Tee und schon bald rückt das Abendbrot heran. Danach werden wir aufgefordert, ins Bett zu gehen, die wenigen, die nicht bereits darin liegen. Es ist, als ob wir wie Kinder ins Bett geschickt werden. Aber das können sie doch mit uns nicht machen. Wir sollten am Abend zusammenkommen und gemeinsam etwas unternehmen, aber was."

Den Tag über grübelt Oma Gerda darüber nach, was die Bewohner des Altersheims zusammen erleben könnten. Nach dem Abendessen bittet sie die anderen um Gehör und schlägt vor, daß diejenigen, die noch nicht zu Bett gehen wollen, zu einer Runde zusammenkommen. Es sind gar nicht so wenige, die ihrer Aufforderung gefolgt sind.

Oma Gerda schildert ihre Überlegungen und schlägt vor, wer eine gute Idee hat, solle sie vorbringen. Die einen wollen Karten spielen, die anderen fernsehen. "Aber das tun wir doch sowieso schon den ganzen Tag aus lauter Langeweile", stellt Oma Gerda fest. Plötzlich sagt einer zu ihr: "Vielleicht willst du uns ja eine Geschichte erzählen?" - "Warum nicht?" Oma Gerda beginnt.


*


"In der Gegend, aus der ich stamme wird folgende Geschichte erzählt: Ein frommer Mann zog im Auftrag des Papstes durch die Lande und sollte die germanischen Stämme zum Christentum bekehren. Vor allem war er in der Gegend des heutigen Thüringen und im Hessenland unterwegs. Dort verehrten die Menschen ihre mächtigen Bäume, vor allem die Eichen. Um nun die heidnisch Gläubigen vom Christentum zu überzeugen, fällte der Reisende so manchen Baum.

Die Heiden glaubten, wenn der Fremde den heiligen Baum umhaue, führe der Donnergott vom Himmel herunter und erschlüge den Frevler, der sich an seinem Heiligtum zu schaffen gemacht hatte. Wenn dann aber nichts geschah, kein Gott eine Strafe sandte, konnte der Reisende dies für sich verbuchen und bekehrte so manch einen Heiden.

So war es auch im Chattenland, wo ich aufwuchs. Eine besonders dicke Eiche soll da einst gestanden haben. Wenn Wandertag war, zogen wir mit unserer Klasse hinaus in den Wald, um den Platz zu besuchen, an dem nun keine heilige Eiche mehr zu finden war. Die Eiche war ja schon vor vielen hundert Jahren umgehauen und sicher auch in tausend Stücke zerteilt und längst verbrannt worden. Aber die Geschichte dort im Wald zu hören, machte sie irgendwie wieder lebendig.

Später habe ich noch mehr über den frommen Mann, der wohl doch nicht so fromm war, erfahren. Unsere Lehrerin hatte uns stets verschwiegen, daß der Fremde nicht jedesmal als der mit dem stärkeren Gott aus einem Zusammentreffen mit den Andersgläubigen hervorging. Seine Bekehrungen kosteten ihn sogar sein Leben."

"Wer war der Fremde?", mit dieser Frage schloß Oma Gerda und wünschte allen eine Gute Nacht.

22. April 2009

Gute Nacht