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GUTE-NACHT/3433: Knopf und Knöpfchen kommen ins Grübeln (SB)




K N O P F   &   K N Ö P F C H E N

kommen ins Grübeln


Die Knöpfe in der Kiste hatten gerade eine lange Nacht hinter sich. Der rote Schwan erzählte seine Geschichte und lockte damit selbst diejenigen Knöpfe aus ihren Ecken, die nicht Knöpfchens Einladung gefolgt waren und die keine Lust verspürt hatten, am "Geschichten-Knöpfen" teilzunehmen. Doch jetzt saßen sie alle in einer Runde beisammen. Die ersten morgendlichen Lichtblitze bahnten sich ihren Weg durch die Ritzen der Holzkiste und stahlen sich in das Innere hinein.

Dieses Licht weckte bei einem der Knöpfe Erinnerungen. Es war ein goldener Knopf, geschwungen wie ein Teller. Auch er hatte seine Löcher zum Annähen auf seiner Unterseite versteckt. Sein Gold glänzte kaum noch. Im Laufe der Jahre war es ganz matt geworden. Ohne lange zu fragen, ob irgendwer seine Geschichte hören wollte, begann er zu berichten:

"Dieses schummrige Licht erinnert mich. So düster wie jetzt sah es auch in dem Zimmer aus, in dem wir uns aufhielten. Ich war einer von Sechsen. Genau genommen hing ich an einer orangenen Kinderjacke. Der Zweite von unten war ich. Damals glänzte ich noch. Mein Platz war an der Sonntagsjacke von Marie Luise. Dort saß ich angenäht. Marie Luise war mit ihrem Vater zu Verwandten nach Marburg gereist. Dort saßen wir um einen Tisch herum, auf dem Essen stand. Es war um die Mittagszeit.

Da ich keiner von den oberen Knöpfen war, konnte ich nicht auf den Tisch blicken und ebensowenig sehen, was aufgetischt wurde. Ich konnte dies auch nicht erfragen, denn die oberen Knöpfe waren zu stolz, mit uns unteren zu sprechen. Deshalb erfuhren wir meist nicht, was auf dem Tisch gerade geschah, ob es nun Essen gab oder ob gespielt wurde.

Jedenfalls denke ich, hat das Essen nicht geschmeckt, zumindest nicht unserer Marie Luise. Sie saß am Tisch und bekam einfach nichts hinunter. Woher ich das weiß? Na, der Vater redete auf seine Tochter ein. Schlimmer aber waren die Verwandten. Sie bedrängten die Kleine, doch endlich mit dem Essen fertig zu werden. Sie hatten alle noch etwas vor. Und was? Das erfuhr ich jetzt. Sie wollten gemeinsam in eine Kirche gehen und die Heilige Elisabeth besuchen. Dort sollte es sehr schön sein - bunte Glasfenster, vergoldete Figuren auf dem Altar, kleine Tische mit vielen Kerzen und noch so einiges mehr an Gold und Heiligkeit. Auch das Jesuskind würde anwesend sein. Die Chance, einmal so viel Gold zu sehen, erfreute mich. Schließlich schaute ich selbst golden aus, wenn das Material auch nicht echt war. Ich bat inständig, die Kleine möge doch schnell ihren Teller leeren. Aber diesen Wunsch erfüllte sie mir nicht. Der Vater wurde nur ungeduldig, und die Tanten drängten zum Aufbruch.

Die Kleine kaute und kaute, schob das Essen von einer Wange in die andere, aber sie bekam davon nichts in den Magen. In ihrer Not ergriff sie mich und drehte an mir herum. Sie drehte mich erst in die eine Richtung, dann in die andere. Dieses Spiel ging mehrmals hin und her. Mir wurde schon ganz schwindelig. Vor lauter Dreherei dachte ich nicht einmal mehr an die schöne goldene Kirche. Ich dachte nur noch: `Hör doch bitte auf!'

Zwar wurde mein Wunsch erhört und die Kleine hielt für einen Moment inne, aber dafür setzte sie die Drehtortour bald fort, diesmal aber nur noch in eine Richtung. Wäre ich ein Mensch gewesen, hätte sie mir wohl den Hals umgedreht. Sie drehte und drehte und zog und zog an mir. In ihrer Verzweiflung, den Teller nicht leer essen zu können und damit den Gang in die Stadt zu verpassen, riß sie einmal so doll an mir, daß ich plötzlich in ihrer Hand landete.

Das hatte eine der Tanten bemerkt. "Was machst du denn da?", fragte sie. Das kleine Mädchen gab keine Antwort. Die Tante griff unwirsch nach der kleinen Hand und erblickte mich. "Mein Gott, jetzt hast du dir auch noch den Knopf abgerissen!"

Sofort ging es mir durch und durch. Nun würde ich irgendwohin gelegt werden, und aus war es mit dem Spaziergang. Die Kirche und die Heilige Elisabeth sowie all die anderen goldenen Dinge würde ich nicht mehr zu Gesicht bekommen. Das stimmte mich sehr traurig.

Da drängte eine zweite Tante zur Eile. "Nunja", meinte die erste, "der Teller ist noch immer nicht leer und Zeit bleibt uns auch keine, um den Knopf wieder anzunähen." - "Hat sie denn keine Ersatzjacke mit?", fragte die zweite Tante. "Nein, hat sie nicht." Zu der Kleinen gewandt meinte die erste Tante: "Wir werden also jetzt ohne dich losgehen, und du wirst hier bei Tante Berta bleiben. Bis nachher."

Da lag ich nun in der Hand des kleinen Mädchens und es schien zu regnen. Zumindest bekam ich ein paar Tropfen ab. Nachdem alle gegangen waren und Berta in der Küche mit den Tellern klapperte, stand Marie Luise auf, spuckte den Rest des nicht hinunter gewürgten Essens wieder aus und vergrub es in der Erde eines Blumentopfes. Danach ging sie zum Fenster und schaute hinaus. Sie hob mich hoch und zeigte mit dem Finger hinaus. "Schau mal, lieber goldener Knopf. Dort drüben ist die Kirche, in der die Heilige Elisabeth wohnt. Sieh mal, wie das Dach glänzt, die Sonne hat es ganz vergoldet. Gut, daß wir nicht mitgegangen sind. In der Kirche ist es bestimmt ganz dunkel und dort riecht es sicher moderig, denn die Kirche ist schon ganz alt ..."

So sprach die Kleine lange mit mir und zeigte mir alles, was sie sah, das Schloß oben auf dem Berg, die alten Stadtmauern, die Straße mit den winzig kleinen Menschen und auch den Fluß, der sich durch die Stadt schlängelte. Was später noch alles geschah, erinnere ich nicht mehr. Ich weiß nur, daß mich Marie Luise die ganze Zeit über, bis wir wieder nach Hause fuhren, in ihrer Hand trug. Ihre Mutter fand es nicht besonders schlimm, daß ein Knopf an der Jacke fehlte. "Hast du den goldenen Knopf denn aufgehoben?", fragte sie ihre Tochter. "Ja, hier ist er." - "Das ist gut. Den werde ich dir später wieder annähen. Jetzt erzählst du aber erst einmal von eurer Reise." Sie nahm mich der Kleinen aus der Hand, in der ich schon einen richtigen Abdruck hinterlassen hatte.

In der einen Hand hielt Marie Luises Mutter nun die Jacke, in der anderen Hand mich. Die Jacke legte sie auf einem Korb ab, auf dem schon andere Kleidungsstücke darauf warteten, geflickt zu werden. Mich kullerte sie hier in diese Kiste hinein und hat mich seit damals nicht wieder herausgeholt. *
Die Knöpfe in der Kiste waren sprachlos. Sie rollten nur hin und her, als würden sie ihre Köpfe schütteln. Auch Knopf und Knöpfchen schüttelten kräftig mit. Was war das für eine grausige Welt da draußen, in der es so lieblos zuging und die großen Leute keine Zeit für die kleinen hatten. Bislang hatte sich Knöpfchen immer nach draußen gesehnt, besonders in der Zeit, als sein Freund Knopf nicht mehr in der Kiste war. Auch die anderen Knöpfe wollten gern wieder an irgendwelche Kleidungsstücke angenäht und herumgetragen werden. Doch nach dieser Geschichte kamen einige Knöpfe wirklich ins Grübeln, ob sie sich das noch immer wünschten. Vielleicht war es ganz gut, hier in der Kiste mit all den anderen Gleichgesinnten zusammen zu sein.

Über die Geschichte war es wieder Abend geworden, und langsam wurde es wieder dunkler in ihrem gemeinsamen Zuhause.

Gute Nacht

Knopf und Knöpfchen - Buntstiftzeichnung: © 2011 by Schattenblick

zum 20. Juli 2011