Schattenblick →INFOPOOL →KINDERBLICK → GESCHICHTEN

GUTE-NACHT/3507: Im Schuhschrank ist die Hölle los - Teil  2 (SB)


Gute-Nacht-Geschichten

I m   S c h u h s c h r a n k   i s t   d i e   H ö l l e   l o s


Pünktlich um Mitternacht läuteten die Kirchenglocken die Geisterstunde ein. Darauf hatten die Bewohner des Schuhschranks schon gewartet. Jetzt machten sie sich auf, um sich auf dem großen Teppich im Eingangsflur zu treffen und Rat zu halten. Nur der hochhackige Damenschuh, der in einem der Stiefel steckte, hatte keine Lust dazu. Denn diesem Schuh gefiel es recht gut in seiner Bleibe. In einem edlen Lederstiefel läßt es sich eben auch gut leben. Doch das Schimpfen half dem Damenschuh nichts, der Stiefel nahm seinen ungeliebten Untermieter einfach mit. Eigentlich war der hochhackige Damenschuh eher ein Besetzer. Ein Untermieter zahlt schließlich Miete, ein Besetzer nimmt sich, was er will. Denn der Besetzer will auf Mißstände aufmerksam machen. Zum Beispiel, wenn ein altes Haus einfach abgerissen werden soll oder wenn es zu wenig Wohnraum gibt und so weiter. So ein Besetzer war der hochhackige Damenschuh nicht. Ihm ging es nicht um Verbesserungen. Er wohnte in dem Lederstiefel aus ganz persönlichen Gründen. Doch Miete zahlte er auch nicht.

Nun gut, ob er wollte oder nicht, der hochhackige Damenschuh mußte mit zum großen Teppich. Dort angekommen, wurde er vom Stiefel einfach unsanft auf den Teppich ausgeschüttet. "Das verbiete ich mir aber, ich meine dir natürlich - du Rüpel."

Dem Stiefel waren die Worte des Damenschuhs egal. Er wollte nur dafür sorgen, daß alle Schuhe, ob Stiefel oder Sandale, ob Patschen oder Kinderschuh zusammenkamen. Das waren sie nun ja wohl auch. Nein, die kleine Gruppe war nicht vollzählig. Jeder weiß ja, daß Schuhe immer paarweise auftreten. Ein Paar besteht stets aus einem rechten und einem linken Schuh. Hier bei der Versammlung fanden sich jedoch einige Schuhe ganz alleine ein. Also war klar, daß ihre Gegenstücke nicht anwesend waren.

Es war dunkel im Eingangsflur, nur ein schwaches Licht schien durch die Haustür. Es war eine Laterne, die nicht unweit vor dem Haus am Rande des Bürgersteigs für die Straßenbeleuchtung in der Nacht sorgte. Das bißchen Licht reichte jedoch nicht aus, um auch auf dem großen Teppich alles genau zu erkennen. Deshalb schlug der Stiefel vor, daß alle Anwesenden ihre Namen sagen sollten und mitteilten, wenn ihr Partner fehlte. Die Schuhe waren damit einverstanden und der Lederstiefel begann: "Ich bin Lederstiefel links, Größe 44. Mein Rechter ist nicht zur Stelle. Wahrscheinlich liegt er wieder unter dem Bett des Hausvaters und muß sich dessen Schnarchgesang anhören. Dort lag ich auch schon einmal, deshalb weiß ich Bescheid. Wir sind zusammengekommen, um mit diesen Mißständen hier im Haus, die uns Schuhen angetan werden, aufzuräumen - wir müssen es tun, denn unsere Besitzer denken nicht daran aufzuräumen oder gar uns zu pflegen. Sie schicken nicht einmal diesen Jemand vorbei, den sie extra für diesen Job beauftragen wollten. Gut, wer ist heute Nacht hier alles erschienen? Stellt Euch bitte vor!"

Zuerst sprach die rechte Sandale und dann die linke. Beide hatten sich wiedergefunden und waren überglücklich darüber. Deshalb hatten sie sogleich ihre Riemchen umeinander geschlungen und in der Schnalle befestigt. Jetzt empörte sich die linke Sandale über die Unordnung im Schuhschrank und führte gleich an, wie sehr sie unter der Absatzspitze des hochhackigen Damenschuhs zu leiden hatte.

Sogleich meldete sich der hochhackige Damenschuh zu Wort und protestierte gegen die Anschuldigung. Schließlich hatte auch sie keinen bequemen Stand. Sie hätte auch viel lieber wie ihre Schwester im flotten Lederstiefel gewohnt. Aber die hätte ja keinen Platz gemacht.

"So geht das nicht!" unterbrach nun der Lederstiefel. "Es nützt uns nichts, uns gegenseitig zu beschimpfen. Schließlich sind es die Menschen dieses Hauses, die uns so in die Ecke pfeffern, uns grob behandeln oder uns lange Zeit gar nicht pflegen. Sie besorgen sich lieber neue Schuhe und klemmen die dann noch auf uns obendrauf, so daß es uns noch schlechter geht. Wir müssen uns was einfallen lassen!"

"Das finde ich auch", bestätigte der linke Wanderschuh. Und der rechte fügte hinzu: "Zuallererst müssen wir aber dem kleinen Turnschuh helfen. Er vermißt doch seinen kleinen Bruder und macht sich die schlimmsten Sorgen." "Wo steckt der Kleine denn eigentlich?" fragte nun der flotte Sportschuh, der ebenfalls erschienen war. Keiner hatte bisher den kleinen Turnschuh vermißt. Das lag vielleicht daran, daß alle froh waren, nicht mehr die ganze Zeit das Weinen des Kleinen ertragen zu müssen. Der Sportschuh flitzte los zum Schuhregal und sah im mittleren Schuhfach nach. Denn dort hatte der kleine Turnschuh die ganze Zeit gestanden und geweint. Doch was mußte der Sportschuh erkennen? Der kleine Turnschuh war nicht mehr da. Noch schneller als er gekommen war, flitzte der Sportschuh zu den anderen zurück und rief schon von Weitem: "Der Kleine ist weg! Er ist fort!" Jetzt machten sich alle Sorgen. Na, vielleicht der hochhackige Damenschuh aus dem Stiefel nicht. Der bedauerte noch immer, daß er sein trautes Heim verlassen mußte. Alle spekulierten durcheinander. Nein, nein, sie aßen keine Spekulatius. Sie sprachen durcheinander und jeder gab seine eigenen Vermutungen zum Besten, was inzwischen passiert sein könnte.

Wieder schritt der Stiefel ein. Er trat so kräftig auf den Boden neben dem Teppich auf, daß es einen lauten Knall gab. Sofort waren alle still. "Wir müssen den Kleinen suchen gehen!" schlug der Stiefel vor, "wir sollten uns in Gruppen aufteilen und losmarschieren." Die Schuhe waren einverstanden. Sie lösten ihre Versammlung auf und schwirrten in alle Richtungen des Hauses davon. Sie hatten nicht mehr viel Zeit, um den kleinen Turnschuh zu finden, denn die Geisterstunde war bald vorbei. Dann mußten sie wieder zurück im Schuhschrank sein, denn niemand sollte merken, was hier heute Nacht vorgefallen war. Das bedeutete aber noch lange nicht, daß dann auch der kleine Turnschuh wieder zurück sein würde. Hoffentlich hatte er irgendwo einen Platz gefunden, an dem er für diese Nacht endlich zur Ruhe kam.


Gute Nacht

zum 5. Januar 2012