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KALENDERGESCHICHTEN/012: 12-2011   Eine ungewöhnliche Weihnachtsgesellschaft (SB)


Buntstiftzeichnung: © 2011 by Schattenblick

Eine ungewöhnliche Weihnachtsgesellschaft


Durch die Gitterstäbe seines Käfigs sah der alte Tiger hinaus auf die graue, nasskalte Umgebung. Nur noch ganz wenige Menschen fanden sich zu einem Zoobesuch ein. Den meisten war es schon zu kalt und zu dunkel. Es wurde früh dunkel. Tiger fühlte sich einsam und sehnte sich zurück nach Indien. Von dort kam er nämlich. Da war er zuhause. Aber es war schon so lange her, dass er gefangen wurde und man ihn hierher in den Zoo gebracht hatte. In der Anfangszeit dachte Tiger, er würde lieber auf der Stelle sterben, als hier eingesperrt im Käfig zu leben. Er war unsagbar traurig. Sicher, er hatte schon viele Fluchtpläne geschmiedet. Am liebsten hätte er den Tierwärter zum Frühstück verspeist und wäre durch die offene Käfigtür verschwunden. Aber der Wärter passte immer ganz genau auf, und er betrat niemals den Tigerkäfig. Hatte er etwa Angst?

Wie gesagt, das war schon lange her. Inzwischen hatte Tiger beschlossen, nicht zu sterben - schließlich könne er das ja immer noch, wenn 's denn sein muss. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, wieder nach Indien zu reisen.

Der Tierpfleger gab ihm gut und reichlich zu fressen. Über das Essen konnte er sich wirklich nicht beklagen. Aber es ist schon ein Unterschied, ob man ein Stück Fleisch vorgeworfen bekommt oder selbst auf die Jagd geht. Menschen verstehen das nicht. Davon war Tiger überzeugt. Menschen sind ohnehin ganz merkwürdige Wesen. Sie verletzen andere und merken es nicht einmal, jedenfalls behaupten sie das. Die meisten denken nur an sich selbst. Selten blieb mal jemand vor seinem Käfig stehen und sagte etwas wie, "oh, der arme Tiger, der ist bestimmt traurig, weil er gefangen ist." Ja, das kam wirklich nur sehr selten vor.

Aber alles änderte sich als Tiger Bruno kennenlernte. Bruno war kein Mensch, nein, Bruno war ein mittelgroßer brauner Hund. Eines Nachmittags streifte besagter Bruno durch den Zoo. Allerdings nicht ganz freiwillig. Sein Herrchen hatte ihn vergessen. Festgebunden an einem Laternenpfahl hatte er leise vor sich hin gewinselt und gehofft, sein Herrchen würde ihn abholen. Doch es dämmerte bereits und Bruno hatte sich mutterseelenallein gefühlt. Dann war ein Tierpfleger des Weges gekommen, erblickte den ganzen Kummer und band Bruno los.

"Na, denn lauf mal zu und such dein Zuhause. Es wird bald dunkel werden."

Bruno hüpfte vor Freude ein paar mal in die Höhe und rannte augenblicklich los. Unterwegs hielt er immer wieder an und schnüffelte hier und dort, doch keine Spur brachte ihn näher zu seinem Herrchen. Schließlich stoppte er vor einem großen Käfig. Ein riesiger Tiger fauchte ihn böse an. Bruno war sehr froh, dass Gitterstäbe ihre Welten trennten.

Buntstiftzeichnung: © 2011 by Schattenblick
"Der sieht mich an, als sei ich sein Abendessen", dachte Bruno und beschloss lieber schnell weiter zu gehen. Er schüttelte sich und hob seine Vorderpfote. Doch auf einmal hörte er eine ganz, ganz leise Stimme: "Lauf nicht fort, kleiner Hund, warte bitte!"

Bruno drehte sich einmal um sich selbst, schaute in alle Richtungen und konnte niemanden entdecken, niemanden - außer den Tiger. Sollte diese leise, feine und sanfte Stimme etwa zu dieser übergroßen Katze gehören?

"Hast du etwa gerade nach mir gerufen?" Bruno hatte sich in gemessenem Abstand hingesetzt und betrachtete den Käfig und den Tiger darin.

"Ja, sicher, ich dachte immer Hunde hören so gut. Aber nun ja, ich habe dich gerufen, weil ich deine Hilfe brauche. Ich meine selbstverständlich, weil ich deine Hilfe erbitten möchte, falls du mir denn eine Bitte erfüllen würdest."

"Oh, nur nicht so umständlich", bellte Bruno zurück und wunderte sich über diesen ausgesprochen höflichen Umgangston. "Was möchtest du denn von mir?"

"Am meisten ersehne ich meine Befreiung aus diesem Käfig. Es ist nämlich an der Zeit, mich auf den Heimweg nach Indien zu begeben."

"Indien? Was ist das denn?" Bruno hatte dieses Wort noch niemals gehört.

"Indien, lieber Hund, das ist ein Land in weiter Ferne, ein Land, das ich meine Heimat nenne. Dort wurde ich geboren, dort bin ich aufgewachsen und genau dort möchte ich gerne wieder hin."

"Nun gut, aber wie kann ausgerechnet ich dir dabei behilflich sein", wollte Bruno wissen.

"Eigentlich hatte ich gehofft, du könntest die Käfigtür öffnen."

"Oh ja, nichts leichter als das, das mache ich jeden Tag, Tigerkäfigtüren öffnen, nichts leichter als das", Bruno schüttelte sich vor Lachen. Wie sollte ein Hund eine so gut verriegelte Käfigtür aufschließen?

"Mach dich bitten nicht über mich lustig. Das ist meine ernsthafte Idee. Irgendwie muss ich doch hier heraus gelangen."

"Entschuldige bitte, Tiger - wie heißt du überhaupt?"

"Ich heiße Bramaputra, aber hier sagen alle nur 'Tiger' oder 'der Tiger', wenn sie von mir sprechen. Niemand redet mit mir, oder spricht mich direkt an - da brauche ich ja auch keinen Namen."

Das klang sehr traurig. Bruno hatte sofort eine Idee - nein, er hatte sogar zwei: "Halt, stopp, so soll es nicht bleiben. Dein Name ist etwas lang und klingt für mich sehr fremd, aber wie wäre es, wenn ich 'Herr Tiger' zu dir sage?"

Tiger wiegte seinen Kopf hin und her und hoch und runter. Bruno verstand es als Zustimmung und legte gleich seine zweite Idee vor: "Also gut, Herr Tiger, ich habe mir folgenden Plan ausgedacht. Ich renne dort hinten auf den Hügel hinauf und klettere über die kleine Absperrung, springe hinunter in dein Gehege und fange ganz laut an zu bellen. Du musst grauenerregend knurren und fauchen. Dann kommen, jedenfalls hoffe ich das, die Tierpfleger, um mich vor dir zu retten. Sie öffnen die Tür und genau in diesem Moment müssen wir rasch handeln. Du stürmst dicht neben mir durch die Tür. Falls ein Tierpfleger sich in den Weg stellen will, müsstest du einmal ungezogen sein, und ihn einfach umschubsen. Dann rennen wir beide so schnell wir können zum Ausgang des Zoos und verstecken uns in der Stadt. Es ist inzwischen ja schon dunkel geworden. Wir haben also gute Möglichkeiten, uns in den Gassen zu verstecken."

"Dein Plan hört sich durchdacht an. Wir sollten ihn so ausführen, wie du es vorgeschlagen hast. Nur eine Frage hätte ich noch - wohin gehen wir danach?", wollte Herr Tiger wissen.

"Verlass dich ganz auf meine Spürnase. Den Weg nach Hause finde ich bestimmt. Ich wohne in dem Haus von Willi Müller. Er hat mich hier im Zoo vergessen und bisher konnte ich ihn nicht wiederfinden. Egal jetzt, jedenfalls sind wir in dem Haus erst einmal sicher und finden bestimmt eine Lösung für eine geeignete Unterkunft. Das Auto von Willi Müller ist gerade in der Werkstatt. Die Garage wäre also frei. Dort können wir zuerst ein Versteck finden."

Bruno rannte den Hügel hinauf und sprang in den Käfig. Herr Tiger brüllte und fauchte so gefährlich wie er nur konnte. Es dauerte nicht lange und ein Tierpfleger, der gerade in der Nähe stand, kam angerannt und schimpfte. Er pöbelte und fluchte so laut, dass Herr Tiger fast das Fauchen aufgegeben hätte. So sehr erschrak er über den wütenden Tierpfleger. Der schloss die Tür zum Käfig auf. Zuvor hatte er aber noch eine Spritze in seine Hand genommen, mit der er Herrn Tiger betäuben wollte. Doch Bruno und Herr Tiger waren viel zu schnell. Herr Tiger schubste den Pfleger beiseite und dann rannten die beiden so schnell sie konnten fort.

Der Tierpfleger indess war auf dem Boden gelandet und rappelte sich wieder auf, klopfte seine Kleidung ab und versuchte dabei den Hund und den Tiger zu erspähen. Doch er konnte sie nicht mehr entdecken.

Bruno und Herr Tiger versteckten sich hinter einer großen Hecke. Sie hörten nun die lauten Rufe: "Vorsicht, ganz gefährlicher, großer, bösartiger Tiger jagt kleinen braunen Hund. Wer den Tiger sieht, soll sofort die Polizei anrufen!"

"Oh je, da müssen wir nun aber sehr geschickt vorgehen und niemand darf uns sehen", meinte Herr Tiger bestürzt. Bruno war nicht so ängstlich. In dieser Stadt kannte er sich gut aus, und so neckte er Herrn Tiger: "Ich wusste ja gar nicht, was für ein gefürchteter Kerl zu bist ..."

"Ach Bruno, lass das, mir ist nicht nach Scherzen zumute."

"Ich wollte dich bloss ein wenig aufmuntern. Wir schaffen das schon, glaub' mir", tröstete Bruno.

Sie blieben eine Weile hinter der Hecke und warteten, bis der Tumult sich aufgelöst hatte.

"Bleib du hier, ich spinkse mal um die Ecke. Mal sehen, ob die Luft rein ist", bekundete Bruno und schlich leise, Pfote um Pfote hinter der Hecke hervor. Die Straßen waren wieder ruhig. Autos fuhren in die eine oder in die andere Richtung, Menschen gingen gemessenen Schrittes auf den Gehwegen entlang.

Bruno drehte sich um und warf einen kurzen Blick über seine Schulter, um sich zu vergewissern, dass ihn keiner beobachtet. Er hatte Glück. Niemand achtete auf ihn. Guten Mutes zwängte er sich durch die Hecke und traf ziemlich genau mit seiner Schnauze auf Herrn Tigers Hinterbacke.

Der sprang erschrocken herum, riss sein riesiges Maul auf und fauchte ganz gruselig. Es schien, als wolle er Bruno den Kopf abbeißen. Gerade noch rechtzeitig erkannte Herr Tiger seinen Freund und brummte etwas verlegen: "Oh, entschuldige bitte, aber ich bin momentan in einer sehr angespannten Verfassung. Ich nahm an, ein Mensch wäre mir auf die Schliche gekommen und wollte mich fangen."

"Macht doch nichts, Herr Tiger, ich hätte besser aufpassen sollen. Aber ich wollte dir so schnell wie möglich berichten, dass die Straßen wieder frei sind. Wir können uns also sofort auf den Weg zu meinem Haus machen", japste Bruno aufgeregt und erläuterte Herrn Tiger seinen Plan: "Ich werde immer ein Stückchen vorausgehen, falls etwas Unvorhergesehenes geschieht. Dann kann ich dich warnen und wir verstecken uns lieber."

"Das ist sehr klug Bruno. Am besten verlieren wir keine Zeit. Diese Menschen aus dem Zoo sind unberechenbar. Stets haben sie etwas, womit sie dich überraschen. Mal bekommst du etwas gutes zu Essen, ein anderes Mal scheuchen sie dich in einen kleinen, engen Käfig, darin können sie dich zum Schlafen bringen, obgleich du gar nicht müde bist. Sie nennen es 'betäuben'. Das fühlt sich überhaupt nicht gut an", verfiel Herr Tiger in leichtes Klagen.

"Ist schon gut, Herr Tiger, ich kann dich verstehen. Ich bin ein Hund und habe gelernt aufzupassen und ich gebe auf uns beide acht!" Bruno versuchte seine Stimme möglichst mutig klingen zu lassen.

Wie besprochen trabte Bruno voraus. Wenn alles in Ordnung und überschaubar war, blieb er stehen, drehte sich in Richtung des Tigers und gab diesem damit das Zeichen, dass auch er kommen könne. Nach einer ganzen Weile, in der sie sich auf diese Weise fortbewegten, erreichten sie das Haus, in dem Bruno wohnte.

Bruno gab Herrn Tiger zu verstehen, dass er noch warten möge. Dann rannte er auf den Hofplatz und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Was war das? Er stand vor einer verschlossenen Garage. Wo sollten sie sich denn jetzt verstecken, wenn sie nicht in die Garage gelangen konnten. Bruno schüttelte sich und plumpste auf sein Hinterteil. "Oh, das ist ja eine schöne Bescherung, so ein Mist aber auch!"

Er hatte es wohl etwas zu laut ausgerufen, denn einen Moment später stand Herr Tiger neben ihm: "Ich dachte, dir wäre ein Unglück widerfahren. Kann ich dir helfen?"

"Ach, Herr Tiger, sieh nur, das Garagentor ist hinuntergelassen worden. Wir können dort nicht mehr hinein, um uns zu verstecken!"

Im nächsten Moment aber hatte sich Bruno wieder gefasst und stellte Herrn Tiger aufgeregt eine Frage: "Moment mal, hörst du, was ich höre," wollte er vom Tiger wissen.

"Du meinst die Polizeisirene, dieses überaus grässliche Geräusch?"

"Ja, genau das meine ich. Jetzt wird es höchste Zeit, dass uns etwas einfällt. Hier draußen können wir nicht bleiben", drängte Bruno.

Dann sprang er auf seine vier Pfoten und rannte um das Haus. "Warte hier", rief er Herrn Tiger noch zu und schon war er verschwunden. Bruno wollte das Kellerfenster ausfindig machen. Er erinnerte sich daran, dass es manchmal nur angelehnt war. Es roch von dort unten dann so lecker nach Schinken und allerlei anderen schmackhaften Dingen. Bruno schnüffelte und schnüffelte und beinahe hätte er laut gebellt. Aber gerade rechtzeitig fiel ihm die Polizeisirene wieder ein. Also hielt er inne, wandte sich dem Kellerfenster zu und legte seine Pfote an den klitzekleinen Spalt. Mit seinen Krallen konnte er es gut fassen und nach vorne ziehen. Nun vergrößerte sich der Spalt und er konnte seinen Kopf hindurchstecken. Um einen kleinen Sprung in die Tiefe würden sie wohl nicht umhinkommen. Bruno schätze aber, dass es nicht tief sein würde. Also rannte er zurück zu Herrn Tiger und berichtete ihm.

"Oh, Bruno, hoffentlich passe ich durch das Fenster, ich bin ja so viel größer als du!"

"Uups, daran habe ich vor lauter Freude gar nicht gedacht", mußte Bruno zugeben, "aber laß' uns erst einmal zum Kellerfenster gehen. Dann sehen wir weiter!"

Die beiden schlichen ums Haus, und es verhielt sich so, wie Herr Tiger befürchtet hatte. Da war nichts zu machen. Der Tiger war einfach zu riesig.

"Was nun? Ich werde hier draußen bleiben müssen. Wie schade. Ich will mich ja nicht beklagen, aber es ist doch ganz schön kalt und ziemlich nass."

Herr Tiger war traurig und hätte man genau hingesehen, wären einem die Tränen in Tigers Augen aufgefallen. Bruno fühlte auch ohne hinzusehen Mitleid mit Herrn Tiger und mit kräftiger Stimme verkündete er:

"Lieber Herr Tiger, nicht gleich aufgeben. Du hast nämlich Glück, dass du mit dem weltbesten Türenaufmacher befreundet bist. Ja, mit nicht wenig Stolz darf ich behaupten, jede Tür früher oder später öffnen zu können." Bruno verschwieg allerdings, dass dies nur für Türen galt, die nicht mit einem Schlüssel abgeschlossen worden waren.

"Also, ich schlage vor: ich klettere durch das Kellerfenster und springe hinunter. Vom Keller aus werde ich die Treppe hinaufgehen, die Tür zum Hausflur öffnen und ins Wohnzimmer schleichen. Die Terrassentür ist meine Spezialität. Sie ist von innen einfach zu öffnen, das ist keine große Sache. Wenn alles gut geklappt hat, belle ich und du kommst zur Terrasse. Von dort schmuggle ich dich ins Haus."

"Du bist wirklich ein kluger und einfallsreicher Hund, Bruno. Ich bin beeindruckt", meinte Herr Tiger und fügte hinzu, "ja, wir richten uns nach deinem Plan. Ich bin sicher, er wird genauso gut gelingen, wie dein Fluchtplan aus dem Zoo."

Der Tiger blieb am Kellerfenster sitzen und schaute Bruno nach, wie er dadurch verschwand. Plötzlich rumpelte es. Etwas war umgefallen. Dann schepperten Blechteile aufeinander und Porzellan oder Gläser klirrten. Besorgt beugte der Tiger sich ans Fenster und rief: "Bruno, bist du unverletzt?"

"Ja, alles gut, Herr Tiger. Hier stand nur so ein blöder Karton mit Krimskrams - nun steht er nicht mehr hier", antwortete Bruno leise flüsternd. Er wusste nicht sicher, ob sein Herrchen ihn im Zoo einfach nur vergessen hatte und längst schon wieder zu Hause war. Sicher hätte er das Gepolter gehört und wäre hinunter gekommen, um nachzusehen, was diesen Lärm verursacht hat. Bruno spitzte die Ohren und lauschte. Nichts war zu hören - gar nichts. Das Haus schien wirklich ganz verlassen zu sein. Bruno drehte sich um und rief: "Herr Tiger, ich werde jetzt die Treppe hinaufgehen. Wenn alles gut geht, sehen wir uns gleich an der Terrassentür!"

Herr Tiger nahm dicht neben der Hauswand platz und wartete.

Bruno erreichte den Hausflur, schnupperte hier und dort, doch fand er keine frische Spur von seinem Herrchen. Er tapste eilig ins Wohnzimmer und steuerte geradewegs auf die Terrassentür zu. "So ein Mist", murrte Bruno vor sich hin, "warum muss diese doofe Tür gerade jetzt abgeschlossen sein?"

Der große Hebel an der Seite der Tür war nach oben geklappt. Bruno wusste, das dieser Hebel nach unten gehörte. Einen kleinen Moment überlegte er, da er nicht so einfach mit seinen Pfoten dort hinreichte. Aber er hatte schon eine Idee. In einer Ecke des Wohnzimmers befand sich ein Schreibtisch mit einem Stuhl davor. Dieser stand auf Rollen - also ein richtiger Büro-Chefsessel. Bruno legte seine beiden Vorderpfoten auf die Sitzfläche und lief mit den Hinterbeinen los. Auf diese Weise rollte er den Stuhl in Richtung Terrassentür. Das war gar nicht so einfach. Leider befand sich auf der Strecke dorthin eine Bodenvase. Bruno schaffte es nicht, an ihr vorbei zu schieben, und die Vase machte keine Anstalten, ihm aus dem Weg zu gehen.

Buntstiftzeichnung: © 2011 by Schattenblick
"Selbst Schuld, Vase, hättest ja auch ein bißchen aufpassen können", beschwerte sich Bruno, als er die vielen Scherben auf dem Boden sah. Aber er hatte es eilig, schob also weiter und schließlich stand der Stuhl unter dem Hebel. Nun nahm Bruno Anlauf, um auf die Sitzfläche zu springen und dann von dort aus den Hebel umzulegen. Jetzt ging alles ganz schnell und holterdipolter. Mit seiner Pfote fasste er den Hebel und ließ sich fallen. Dabei rollte der Stuhl gegen den Türrahmen - zum Glück, denn sonst wäre die Scheibe zertrümmert worden - und blieb stehen. Bruno landete auf dem Hintern, aber der Hebel zeigte nach unten. Nach einer kleine Verschnaufpause stand Bruno auf und drückte sich gegen die Tür. Endlich, sie ließ sich öffnen.

"Tiger, Herr Tiger, du kannst kommen", rief er in den Garten hinaus.

Herr Tiger antwortete ihm mit relativ leisem Gebrüll: "Ich komme schon, bin schon da!" Nach ein paar Tigersprüngen hatte er Bruno erreicht. Mit seiner Pfote zog Bruno die Tür noch etwas weiter auf, damit Herr Tiger auch wirklich hindurch gehen konnte. Dann schloss er die Tür wieder, denn draußen war es mittlerweile bitterkalt geworden.

"Schön hast du es hier, schön warm und sehr gemütlich. Und dein Herrchen, wie heißt er doch gleich ...?"

"Er heißt Herr Müller, Willi Müller", wiederholte Bruno und kam ins Grübeln. "Ja, irgendwie ist es sehr merkwürdig. Hat er mich wirklich im Zoo vergessen? Aber warum ist er dann nicht hier im Haus? Vielleicht ist ihm etwas passiert!"

Das war der erste Moment seit ihrer turbulenten Flucht, dass Bruno Gelegenheit hatte, sich Gedanken zu machen. "Du musst wissen Herr Tiger, Willi Müller ist ein sehr freundlicher und gütiger Mann. Es fällt mir schwer zu glauben, dass er mich einfach vergessen hat. Aber nun komm erst mal weiter, lass uns in die Küche gehen und nachsehen, ob es etwas zu essen gibt."

Die Küche war recht geräumig und schien alles zu enthalten, was eine Küche so braucht - einen Herd, einen Tisch und Stühle. Herr Tiger entdeckte in einer Ecke ein Bücherregal mit Kochbüchern darauf. "Oh, fantastisch, Bruno, Bücher übers Backen!" Schon hatte er sich eines herausgegriffen und aufgeschlagen.

Bruno hatte in der Zwischenzeit Ausschau nach Essbarem gehalten, aber nichts Verlockendes gefunden.

"Erzähl' mir jetzt bloß nicht, dass du backen kannst. Das wäre komisch, ein Tiger als Bäckergeselle", lachte Bruno.

"Bitte Bruno, mach dich nicht über mich lustig. Ich weiß nicht, ob ich backen kann, aber ich habe oft davon geträumt, es zu können. Wenn vor meinem Käfig im Zoo die Menschen mit duftendem Kuchen oder Brötchen standen, lief mir das Wasser im Munde zusammen. Aber ich bekam nie Kuchen zu essen. Immer nur Fleisch. Menschen denken, dass Tiger nur gerne Fleisch essen und sonst nichts", erklärte Herr Tiger.

"Weiß du, Herr Tiger, was wir gleich machen werden?", Bruno hüpfte vor Aufregung mit allen vier Pfoten gleichzeitig vom Boden hoch, "wir backen. Ja, wir beide werden einen Kuchen backen." Aber dann, etwas ernüchtert, fragte Bruno: "Kannst du lesen?"

"Ja, natürlich kann ich lesen!"

"Prima, prima", bellte Bruno, "dann lies bitte vor, was wir zum Backen brauchen."

"Warte, warte, ich kann lesen, aber natürlich indisch und leider kein deutsch."

Bruno streckte nun alle vier Pfoten auf dem glatten Fußboden aus und platschte mit dem Bauch auf die Fliesen. Er schnaufte laut, doch einen Moment später sprang er wieder auf und meinte: "Wir fragen Susi, ob sie uns hilft. Sie wohnt im Winter in einem der oberen Zimmer und sie kann auch lesen."

"Gut, dann lass uns zu Susi gehen. Wer ist Susi überhaupt?", wollte der Tiger wissen.

"Sie ist ein großes Kaninchen, etwas schüchtern, aber sehr hilfsbereit. Warte am besten hier unten auf uns", schlug Bruno vor und trabte die Treppe hinauf.

"Susi, bist du hier oben? Susi antworte doch, wo bist du?"

"Hier bin ich, hörst du mich, hier im Zimmer", rief Susi zaghaft. Ein Glück, dass Bruno so gut hören konnte. Als geübter Türenöffner legte er seine Pfote auf die Klinke und drückte sie nach unten. Schwupps und hopps, schon war Bruno im Zimmer gelandet. "Hallo Susi, hast du Lust uns zu helfen?"

"Oh verzeih' bitte, Bruno. Wobei soll ich denn helfen?", erkundigte sich das Kaninchen.

"Nun, ja, Entschuldigung. Also: Würdest du mir und Herrn Tiger beim Kuchen backen helfen? Wir sind hungrig und würden gerne Kekse essen."

"Wer ist denn Herr Tiger und wo ist Willi Müller. Er war lange nicht bei mir und ich habe auch Hunger", sagte Susi leise.

Bruno erzählte ihr in kurzen Worten die Geschichte von der Flucht aus dem Zoo und auch davon, dass Willi Müller ihn wohl dort vergessen hatte.

"Inzwischen mache ich mir aber Sorgen um Willi, denn zuerst hatte ich gehofft, ihn hier im Haus anzutreffen, aber nun ist er auch hier nicht. Hoffentlich ist ihm nichts passiert!", schloss Bruno seinen Bericht.

"Oh je, nur das nicht", rief Susi erschrocken aus. "Ich weiß nicht, ob ich euch helfen will. Du sagst, Herr Tiger ist hungrig. Da fürchte ich doch ein wenig, dass er mich vielleicht fressen möchte, so als Vorspeise zu den Keksen."

"Nein, du brachst wirklich keine Angst zu haben, Susi. Er ist ganz freundlich und eigentlich mag er Kuchen, Brote und Kekse lieber als Fleisch. Außerdem will er keinen Ärger machen. Er will einfach nur wieder nach Hause nach Indien", versuchte Bruno das Kaninchen zu überzeugen.

"Ist gut, Bruno. Ich bin dabei. Ich helfe euch", willigte Susi schließlich ein.

Willi Müller sperrte den Stall von Susi nie ab und so konnten sie sich einfach auf den Weg in die Küche begeben. Herr Tiger bemühte sich, möglichst ungefährlich auszusehen und begrüßte Susi freundlich: "Hallo Susi, ich bin Herr Tiger und habe Hunger."

Susi machte einen Satz hinter Bruno, um sich zu verstecken.

"Ach je, ich habe wohl etwas Ungeschicktes gesagt. Keine Sorge Susi, ich möchte dein Freund sein und du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Entschuldige bitte meine Bemerkung."

Susi kam hervor und nahm Herrn Tigers Entschuldigung an. Dann hoppelte sie los und eins, zwei, drei war sie oben auf dem Tisch gelandet. Herr Tiger hatte das Backbuch dort abgelegt und Susi blätterte darin.

"Wie wäre es mit Erdnuss-Keksen?"

"Prima, tolle Idee", bellte Bruno.

"Ja, das hört sich sehr lecker an", stimmte Herr Tiger zu.

Susi las nun vor, welche Zutaten sie benötigten. Bruno, der sich am besten in der Küche auskannte, suchte alles zusammen. Zucker, Mehl, Eier, Butter, Erdnüsse, Salz und die Rührschüssel. Herr Tiger übernahm das Rühren und Bruno rollte den Teig aus. Sie erhielten auch noch Hilfe von Pfeffer und Minze, den beiden Hausmäusen. Diese wollten gerne die Kekse ausstechen. Niemand hatte etwas dagegen und so waren alle ganz eifrig dabei, Kekse zu backen. Zwar rollte schon mal ein Ei auf den Fußboden, aber das machte nichts, Herr Tiger schleckte es einfach auf.

Minze hatte über das Naschen von der Schokolade ganz vergessen, dass sie ja die Plätzchen ausstechen wollte. Pfeffer zeigte derweil großes Interesse an den Erdnüssen, aber ein mahnender Blick von Bruno reichte, um Pfeffer wieder an seine Aufgabe zu erinnern. Alle waren guter Dinge und schließlich landete das erste Blech mit Plätzchen im Ofen.

"Bei 200° Grad backen, 15 Minuten lang", las Susi vor. Etwas wüst sah es schon aus, aber es war trotzdem sehr gemütlich. Herr Tiger wollte langsam anfangen, die Sachen wieder an ihren Platz zu räumen. Bruno half ihm dabei. Pfeffer und Minze hingegen waren voll und ganz damit beschäftigt, die Krümel zu verspeisen. Sie behaupteten, das gehöre zum Aufräumen dazu.

Mitten in diesem Durcheinander fiel die Haustür mit einem lauten Rumms zu. Bruno hatte gar nicht mitbekommen, dass sie geöffnet worden war. Alle waren schlagartig still und lauschten. Wer mochte das sein? Bruno schlich sich bis zur Küchentür, die einen Spalt offen stand und ins Wohnzimmer führte. Von dort aus konnte er in den Flur gelangen und nachsehen, wer der Eindringling war.

Es roch nach Willi Müller. Bruno rannte nun auf den Flur und - tatsächlich es war Willi Müller. Bruno freute sich und sprang an seinem Herrchen hoch, blieb mit einer Pfote in der Manteltasche hängen und wäre beinahe gefallen. Willi Müller packte Bruno im Fell und drückte ihn an sich.

"Oh Bruno, ich habe dich überall gesucht. Als ich zurück zu dem Laternenpfahl kam, warst du fort. Bin ich froh, dass dir nichts passiert ist."

Bruno wedelte mit dem Schwanz und war so aufgeregt und freute sich.

"Weißt du Bruno, ich dachte schon, dass du von dem Tiger gefressen worden wärst. Im Zoo ist nämlich ein Tiger aus dem Käfig ausgebrochen und der Tierpfleger behauptete, dass er einen kleinen braunen Hund gejagt hätte. Ich habe mir solche Sorgen gemacht", endete Willi Müller seine Rede.

Willi wunderte sich zwar, wie sein Hund ins Haus gekommen war, aber er freute sich so sehr, dass er nicht weiter darüber nachdachte.

"Komm, lass uns in die Küche gehen." Als er das sagte, fiel ihm plötzlich der köstliche Duft auf, der eindeutig aus der Küche kam. Es roch lecker nach Keksen. Doch wie konnte das sein, er hatte bestimmt keine Plätzchen in den Ofen geschoben. Wie hätte er das tun können, er war ja die ganze Zeit auf der Suche nach Bruno gewesen. Was war hier los? Etwas stimmte hier ganz und gar nicht.

Bruno wusste nun nicht so recht, was er tun sollte. Er stellte sich vor die Küchentür, als könnte er damit verhindern, dass Willi dort hineinspazierte.

"Bruno, lass mich bitte durch, mach nicht so ein Theater. Ich muss da rein, um zu sehen, was dort vor sich geht!"

Bruno gab nach. "Ich möchte dir meinen Freund, Herrn Tiger, vorstellen", bellte Bruno in der Hoffnung Willi Müller würde ihn verstehen.

Der öffnete nun die Tür und erschrak ganz fürchterlich. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Blieb einfach stehen und sah sich in der Küche um. Was er dort zu sehen bekam, konnte er einfach nicht glauben. Ein Tiger, der eine Rührschüssel mit seiner Pfote auswischte, zwei Mäuse, die auf dem Tisch mit Naschen beschäftigt waren und sein Kaninchen Susi, das einen Kochlöffel in den Pfoten hielt. Als die Tiere Willi erblickten, verharrten alle ebenfalls reglos in ihrer Bewegung. Als hätte jemand die Zeit angehalten. Niemand bewegte sich.

Bis Herr Tiger ganz verlegen seine Pfote aus der Schüssel nahm, sie langsam abschleckte und dann an dem Tischtuch säuberte. Nun hielt er die Pfote so, wie er es bei Hunden oft gesehen hatte, wenn sie von den Menschen etwas haben wollten. Herr Tiger wollte auf jeden Fall so freundlich und ungefährlich aussehen, wie nur möglich. Die Spannung war unerträglich. Niemand schien zu wissen, wie es weitergehen sollte. Dann plötzlich fing Willi Müller an zu lachen.

"Ihr seid mir ja ein paar Bäckergesellen. Na, dann zeigt mal her, was ihr gebacken habt!"

Herrn Tiger fiel ein Stein vom Herzen. Eilig ging er zum Ofen, nahm einen großen Topflappen und zog das Blech heraus. Willi zog sich ebenfalls Topflappen an und nahm das Blech entgegen mit den Worten: "Wisst ihr, was heute für ein Tag ist? Nein, wahrscheinlich wisst ihr es nicht, aber ich. Heute ist Weihnachten. Am Weihnachtsabend kommen die Menschen mit ihren Familien zusammen, oder mit Menschen, die sie gern haben. Sie essen zusammen und beschenken sich. Nun, Geschenke habe ich keine für euch. Aber wir können zusammen essen und uns die frisch gebackenen Keksen schmecken lassen. Einen bunt geschmückten Tannenbaum haben wir auch.

Als Willi Müller in der Stube die zerbrochene Vase entdeckte, begann er sich auszumalen, was alles geschehen sein mochte, während er auf der Suche nach seinem Hund gewesen war. Er fegte die Scherben zusammen, ohne sich darüber zu ärgern. Bald saß die ungewöhnliche Weihnachtsgesellschaft in der Stube beisammen und machte sich über die Kekse her. Sie hatten es total gemütlich.



Dezember 2011