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TIERGESCHICHTEN/017: Es kann der Beste nicht in Frieden leben ... (SB)



"Ach wie schön, dass es Menschen gibt, die sich um uns kümmern, wenn es winterlich kalt und unser Essen knapp wird", dachte Eichhörnchen gerade, als es vom hohen Ast des alten, knorrigen Baums die kleine Frau beobachtete. Sie stand auf einem Höckerchen und befestigte einen Meisenring mit einem dünnen Stück Tau an einem kräftigen Zweig. Die Frau begutachtete ihr Werk und trippelte mit flinken Schritten wieder ins Haus. "Halt, stopp", rief Eichhörnchen, "du hast mich vergessen, wo sind denn meine Nüsse?" Enttäuscht und beleidigt hockte es so da und musste mitansehen, wie sich eine Blaumeise auf dem Ring niederließ und genüsslich zu knabbern anfing. Es schien ihr sehr zu schmecken und bald schon näherte sich eine zweite Meise mit ebensolchem Appetit. Eine dritte gesellte sich hinzu und der Ring wurde leerer und leerer. Jetzt reichte es dem vernachlässigtem Eichhörnchen. Mit einem gekonnten Sprung landete es auf dem Ast, an dem der Ring befestigt war. Erschrocken flogen die Meisen davon. Eine jedoch ließ sich in einiger Entfernung nieder, um nun Zeuge einer wirklich unverschämten Tat zu werden.

Eichhörnchen machte sich an dem dünnen Tau zu schaffen, zog es mit seinen Pfoten zu sich hinauf und begann es anzuknabbern. "Oh weh, das arme Eichhörnchen muss aber wirklich sehr hungrig sein, wenn es schon Tau frisst", dachte die Meise voller Mitleid. Doch das währte nur kurz, denn als das Band riss und der Meisenring endlich zu Boden fiel, sprang das Eichhörnchen hinterher, schnappte sich das Teil, entfernte den restlichen Inhalt aus dem Pappring und stopfte sich gierig ein paar Happen in den Mund, den Rest ergriff es und kletterte auf den Baum hinauf, geradewegs in seinen Kobel. Empört zwitscherte die Meise so aufgeregt und laut, dass alsbald ihre Kollegen neugierig geworden wieder heranflogen.


Eichhörnchen hockt auf dem Ast und zieht das Tau samt Meisenring zu sich hinauf - Buntstiftzeichnung: © 2022 by Schattenblick

Eichhörnchen nagt das Tau durch
Buntstiftzeichnung: © 2022 by Schattenblick


Just in dem Augenblick wurde die Tür des Hauses, die in den Garten hinausführte, geöffnet und die kleine Frau trat abermals in den Garten. Diesmal hielt sie ein paar Walnusshälften in ihrer Hand. Sorgfältig platzierte sie eine Nusshälfte in eine Astgabel, die andere legte sie an den Rand des Vogelhäuschens, so dass Eichhörnchen sie dort gut erreichen konnte. Zufrieden sah sich sie um, aber dann schimpften die Meisen von neuem los. Die Frau blickte die Vögel erstaunt an. Dann sah sie den Grund für den Ärger der kleinen Federtiere. Der Meisenring, den sie doch eben erst aufgehängt hatte, war fort!

Erstaunt sah sie die kleinen Vögel an: "Na so etwas, ihr seid wohl nahe am Verhungern gewesen, dass ihr den Ring so schnell aufgefuttert habt!" Sie schüttelte nachdenklich den Kopf: "Ich werde noch einen zweiten holen, aber es kann einen Moment dauern, ich habe gerade Besuch bekommen - und ihr müsstet nun doch erst einmal satt sein. Also, habt ein wenig Geduld." Mit diesen Worten zog sie sich wieder ins Haus zurück, um ihren Gast zu bewirten.

Eichhörnchen hatte das natürlich sofort mitbekommen und sich schon auf die leckeren Nüsse gefreut. "Nur noch schnell die Reste des Meisenrings in meinem Kobel gut verstauen und dann hole ich mir auch noch die Walnüsse", summte es vor sich hin und schlüpfte in sein Nest, um die Krümel sehr sorgfältig an eine Nestwand abzulegen. Dann drehte Eichhörnchen sich um und trat den Weg baumabwärts zum Futterplatz an.

Unter den Meisen hatte sich derweil Empörung und Verzweiflung lautstark bemerkbar gemacht: "Das ist so unverschämt vom Eichhörnchen!" "Genau, eine Frechheit!" Eine kleine Blaumeise beteiligte sich nicht am Geschimpfe. Sie flog auf das Vogelhäuschen zu, hockte sich an den Rand und betrachtete die dort liegende Walnusshälfte sehr genau. Nur wenige Augenblicke später hatte sie einen Entschluss gefasst. Sie sperrte ihren Schnabel auf und nahm die Nuss-Schale in ihren Schnabel, presste ihn ordentlich zusammen und breitete ihre Flügel aus. Die kleine Meise ließ sich vom Rand des Vogelhäuschens fallen und ruderte kräftig mit ihren Schwingen. Als die anderen Meisen dies erblickten, starrten sie völlig überrascht auf das merkwürdige Geschehen.

Die Walnuss war eindeutig viel zu schwer für den kleinen Vogel. "Oh weh, wie soll ich das nur schaffen, das hätte ich nicht gedacht, so ein schweres Gewicht!", stöhnte er leise. Der Vogel hatte seine liebe Mühe mit dem Nuss-Stück, dass ihm vorn am Köpfchen ein Übergewicht bescherte. Doch obwohl er sich ziemlich rasch dem Erdboden näherte, gab er nicht auf, sondern schlug so heftig mit den Flügeln, dass er sich tatsächlich wieder in die Luft erhob. "Ich werd dem Eichhörnchen keine noch so kleine Nuss gönnen!", raunte er in den Wind. Völlig erschöpft, aber auch ein wenig stolz ließ er die Nusshälfte vor seinen Kameraden fallen. "Na los, bedient euch, lasst es euch schmecken!", rief er ihnen zu. Dann steuerte er die Astgabel an, in welcher sich die andere Walnuss befand und wiederholte das doch sehr anstrengende Unterfangen. Genüsslich verspeisten die Meisen ihre Beute bis auf den letzten Krümel. Die kleine Meise war sehr glücklich, dass nun alle satt waren. Am meisten aber freute sie sich, als sie das Eichhörnchen sah, das geradewegs den Baum heruntergeklettert kam und sich nach den Nüssen umschaute. Enttäuscht suchte es hier und dort und konnte sich ihr Verschwinden einfach nicht erklären. "Irgendwo müssen sie doch zu finden sein", dachte es sich und suchte auch den Boden ab. Vergeb ens, nirgends konnte Eichhörnchen eine Nuss entdecken. Enttäuscht wollte es sich gerade auf den Rückweg begeben, als der kleine Vogel ihm zurief: "Tja, Eichhörnchen, wenn du unseren Meisenring stiehlst, dann lassen wir uns deine Nüsse schmecken, das ist doch wohl mehr als gerecht!"

Da blieb es stehen und sah die Meise erstaunt an: "Hast du etwa meine Nüsse geklaut? Ihr esst doch sonst gar keine Walnüsse!" "Nun ja, eigentlich sind sie auch nicht besonders lecker, aber da du unseren Meisenring gestohlen hattest und wir hungrig waren ...", erklärte die Meise.

"Pah, gestohlen, was soll das heißen? Mein Magen knurrte ganz fürchterlich und da weit und breit nur der Meisenring zu sehen war, hab ich mir gedacht, besser den essen als gar nichts!", regte sich das Eichhörnchen auf. So gab ein Wort das andere und dabei erhoben sie ihre Stimmen und wurden lauter und lauter.

Wieder öffnete sich die Tür zum Garten und die kleine Frau eilte heraus. "Was ist denn das für ein Lärm?" In ihrer Hand trug sie eine Schale mit Nüssen und darin lagen obenauf eine Meisenkugel und ein neuer Ring mit Meisenfutter. Eichhörnchen und Meise verstummten und sahen gebannt auf die Frau. Sie verteilte das Futter an die entsprechenden Stellen und blieb noch einen Moment stehen. Beschämt sahen sich die beiden Neider an.

"Puh, das ist mir nun aber etwas unangenehm. Wie stehe ich denn jetzt da, wie ein Dieb, der anderen das Essen stiehlt, obgleich es gar nicht nötig wäre!", seufzte Eichhörnchen und machte einen Vorschlag: "Ich werde mich nicht mehr an eurem Essen vergreifen, denn nun glaube ich, dass die gute Frau weder mich noch euch vergisst. Vielleicht muss ich nächstes Mal einfach warten, bis sie auch etwas für mich bereitlegt." "Ja, das ist wohl so", bestätigte die kleine Meise, "und wir lassen deine Nüsse in Ruhe und warten ebenfalls ab, bis wir an der Reihe sind und unser Futter bekommen", erklärte die Meise. Eichhörnchen lachte verschmitzt und in seinen Augen blitzte ein Fünkchen Gier auf. Die Meisen bemerkten es nicht und wenig später sah man sie alle nahe beieinander schmausen. Eichhörnchen als leidenschaftlicher Sammler fand es allerdings sehr verlockend, vielleicht doch hin und wieder etwas von dem Meisenfutter zu stibitzen, so als Vorrat, man kann ja nie wissen ...

Ob die kleine Frau etwas davon ahnte, wer weiß das schon? Sie schaute den Tieren noch ein Weilchen zu und begab sich alsbald ins Haus zurück.

Ende


7. März 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 172 vom 12. März 2022


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