Es war einmal vor langer Zeit ...
Ein regnerischer Tag, an dem sich das Wetter bald zu einem mächtigen Sturm auswachsen sollte, ließ das Walfängerboot heftig wogen. Sechs kräftige Seeleute, die schon manchen Wal erlegt hatten, sangen ein altes Walfängerlied lauthals gegen den Wind. Finn kauerte am Heck des Bootes. Seine erste Jagd, sein erster Wal, endlich durfte er seinen Vater auf dem Walfangboot begleiten. "Pass gut auf, mein Junge, und vor allem halte dich gut fest, bleib hier hinten hocken, es wird sehr gefährlich werden!" An diese Warnung seines Vaters dachte Finn, als die Wellen höherschlugen. Doch das sollte noch gar nichts sein, richtig wild wurde die See, als ganz in ihrer Nähe ein riesiger Wal auftauchte und eine gewaltige Wasserfontäne aus seinem Atemloch, dem Blasloch, oben am Kopf ausstieß.
Die Männer gerieten in helle Aufregung. "Der muss von ganz tief unten kommen, dass wir nichts von ihm bemerkt haben, so ein hinterhältiges Biest!", fluchte der Harpunier, der Mann, der die Harpune auf den Wal schießen sollte. Finn sah gebannt auf das riesige Tier, fast zwanzig Meter maß es bis zur Fluke, seiner Hinterflosse. Staunend erstarrte der Junge im hinteren Teil des Bootes, seinen Blick fest auf das Ungetüm gerichtet. Da hob der Wal seine Fluke aus dem Wasser und ließ sie augenblicklich auf die Meeresoberfläche sausen. Das Boot wankte, das Wasser schoss mit Macht über sie hinweg und in ihr kleines Schiff hinein, die Männer versuchten mit aller Kraft, es am Kentern zu hindern. In dieser aufgebrachten Lage gelang es dem Harpunier, eine Harpune abzuschießen. Alle Aufmerksamkeit galt seinem Schuss. Niemand achtete auf den Jungen am Heck.
In Sekundenschnelle und unbemerkt stürzte Finn ins Meer, verschlungen von der schäumenden Gischt. Kein Laut verließ seine Kehle, stumm und außer Stande, sich zu bewegen, sank er in die Tiefe. Endlich öffnete er die Augen, sah ein Seil, ergriff und hielt es fest. Das war der einzige Halt und so wurde er an die Wasseroberfläche gezogen. Doch wo war sein Boot, wo waren die Männer, wo war sein Vater? Finn hielt das Seil und wurde fortgezogen, immer schneller. Er schluckte salziges Meerwasser, spie es aus und entsetzt erkannte er, von wem er gezogen wurde.
Finn umklammerte das Seil der Harpune, die in der Seite des Wales steckte, der schmerzleidend die Flucht ergriffen hatte. "Oh weh", klagte der Junge, "das sieht schlimm aus, ich muss die Harpune herausziehen!" Ganz die Gefahr für sein Leben vergessend, hangelte er sich am Seil näher an den Wal heran, bis er das Eisen der Harpune greifen konnte. Die Wunde blutete, doch da half nichts, er musste das scharfe Eisen entfernen. Zum Glück drang die Pfeilspitze nicht so tief in das Walfleisch, so gelang es Finn, sie mit einem kräftigen Ruck herauszuziehen. Der Wal gab einen tiefen Schmerzenslaut von sich.
Finn erschrak. Das Seil sank samt Harpunenspitze schlaff in die Tiefe und er fand keinen Halt mehr. Die Haut des Wals war rutschig, seine Hände steif vor Kälte. Seinen Körper spürte er kaum noch, so sehr hatte das eisige Wasser ihn betäubt. "Kletter hinauf", hörte er ganz deutlich. "Ich kann nicht, du bist so glibschig!", stöhnte Finn. "Kletter hinauf, du kannst es, los, los, schnell!", tönte die Stimme über die tosende See hinweg. Tatsächlich, unglaublich, Finn erreichte den Rücken des Wals, doch fand er keine Flosse, an der er sich halten konnte. Hilflos schmiegte er sich bäuchlings an das riesige Tier. Dann schwanden dem Jungen die Sinne, der Wal mit seiner kleinen Fracht auf dem Rücken tauchte hinab, tiefer und tiefer.
Finn auf dem Rücken des Pottwals
Buntstiftzeichnung: © 2024 by Schattenblick
Hier herrschte Stille und das Wasser hatte sich beruhigt, schien fast ohne Regung zu sein. Als Finn seine Augen öffnete, blickte er ins Dunkle. Er fühlte die Haut des Walrückens und ließ sich hinuntergleiten. "Na, mein Junge, komm her, hier nach vorn zu mir, damit ich dich sehen kann!" Finn zögerte, schwamm dann aber in Richtung Kopf. "Bist du aber winzig, ein Menschenkind, nicht wahr?" "Ja, ja, schon, aber ich bin schon alt genug, um auf Walfang zu gehen", betonte Finn voller Stolz. "Das glaube ich wohl, denn so wie es aussieht, hast du mich ja gefangen, oder?", lachte der Wal. Etwas verlegen brummte Finn: "Mach dich nicht über mich lustig, ich weiß, dass du mich gerettet hast." "Nun denn, kleines Menschenkind, wie ist dein Name?" "Ich heiße Finn und du?" "Wale haben keine Menschennamen, du kannst dir einen für mich aussuchen." "Gut, dann nenne ich dich Hauke, so heißt mein Lieblingsonkel, der ist riesig groß und stark und schlau." Der Wal freute sich: "Danke, das gefällt mir." Finn schwamm noch etwas weiter um Haukes Kopf herum und bewunderte sein gewaltiges Maul mit den vielen Zähnen. Aber er hatte gar keine Angst, es war vielmehr so, als hätte er gerade einen uralten Freund getroffen, so vertraut schien ihm die Stimme des Wals. Der Wal zwinkerte ihm zu: "Nun, ich könnte dich mit einem Happs verschlingen, so als kleine Vorspeise, was meinst du?" - "Ich, ich, nein, das ist gar nicht gut. Ich möchte nicht gefressen werden, nein!" Seine Stimme bebte, er zitterte, denn mit einem Mal wusste er, dass er einem großen Raubtier gegenüber schwamm. "Aber mich wolltest du essen, nicht wahr?", funkelte Hauke ihn böse an. Finn fiel es wie Schuppen von den Augen, der Wal hatte Recht, denn heute Morgen war er mit seinem Vater und den anderen Walfängern aufgebrochen, um einen Wal zu erlegen. "Keine Angst, Finn, ich mag am liebsten Kraken oder Fische, vielleicht einen kleinen Hai, aber Menschen, nein, Menschen fresse ich nicht."
Erleichtert ließ sich Finn im Wasser neben dem Wal treiben. "Komm mit, kleiner Mensch, ich werde dir eine uralte Geschichte von meinen Vorfahren erzählen", forderte Hauke ihn auf, "klettere wieder auf meinen Rücken und halte dich gut fest, ich muss an die Oberfläche schwimmen, Luft holen."
"Ah, ja, ich verstehe!"
Finn suchte die Meeresoberfläche, die hier viel ruhiger war, nach seinem Vater ab. Er entdeckte ihn nicht. Hauke holte tief Luft und tauchte mit dem Jungen auf dem Rücken wieder hinab. Langsam schwamm der große Wal und begann zu erzählen:
"Es ist schon viele Walleben her, da lebte in einem Land voller Eis, das eine gewaltige Schneemasse zu tragen hatte, eine Gruppe Menschen. Sie litten Hunger und froren. Es war bitterkalt, schutzlos waren sie nahe daran, sich ihrem tödlichen Schicksal zu ergeben und den Hungertod zu sterben.
Das sah ein großer Wal, der Mitleid mit den winzigen Menschen empfand. Er bot sich ihnen als Essen an. Die Menschen, nahe am Verhungern, nahmen sein Angebot dankbar an. Sie aßen ihn und aus seiner Haut fertigten sie Zelte, aus seinen Knochen Werkzeuge und mit dem Walöl entfachten sie ihre Lampen und kleinen Feuer, um sich zu wärmen. Dankbar und voller Seeligkeit priesen sie den Wal und versprachen, nur dann einen Wal zu fangen, wenn sie wirklich Hunger und Not litten. Die Zeit verging, die Menschen konnten sich vermehren und bevölkern nun die ganze Erde. Doch sie waren vergesslich und wurden in den vielen Jahrhunderten immer vergesslicher, bis sich niemand mehr daran erinnerte, dass die Menschen nur deswegen leben, weil einst ein Wal sie vor dem Hungertod gerettet hatte."
Betroffen und beschämt blickte Finn dem Wal in die Augen: "Das wusste ich nicht, wirklich. Dann ist es eine schreckliche Bösartigkeit von uns, euch zu jagen."
"Nun, die Welt ist so beschaffen, dass alle Lebewesen sich von anderen ernähren, alle, da gibt es keine Ausnahme. Doch die Menschen töten und jagen schon lange nicht mehr, um zu essen, die jagen aus Vergnügen oder weil sie mit Walöl, Speck und Lebertran Handel treiben und reich werden wollen. Das ist schändlich!", beendete der Wal seine Rede und musterte das kleine Menschenkind: "So Finn, wie ist es? Willst du wieder an Land zu deinem Vater?"
Finn überlegte einen Moment und schüttelte den Kopf: "Nein, auch will ich kein Walfänger sein, ich möchte hier bei dir bleiben."
"Gut, vielleicht sollten wir dir dann eine andere Gestalt geben, eine, die besser für ein Leben im Meer geeignet ist."
"Kann ich ein Wal werden?"
Der Wal zögerte, dann murmelte er ein paar Worte, die Finn nicht verstand und bevor er noch weiter darüber nachdenken konnte, ruderte er mit seinen Delfinflossen: "Oh", Finn fühlte sich merkwürdig, "bin ich ein Wal?" "Ja, ein kleiner, ein Delfin, habe mir gedacht, das macht dir mehr Spaß, denn so kannst du wild durchs Meer flitzen und viele Freunde finden und kannst mit mir schwimmen, wann immer du willst."
Finn freute sich und schmiegte sich dicht an Haukes großen Walkörper.
"Finn, aufwachen, Finn", die Mutter rüttelte ihn sanft an der Schulter. Endlich erwachte er, rieb sich die Augen und wusste einen Moment lang gar nicht, wo er war. "Finn, was ist mit dir? Hast du schlecht geträumt?"
"Ja, Mama, ich hatte einen wirklich merkwürdigen Traum. Der war so echt, dass ich mich fühle, als hätte ich das wirklich erlebt. Bin ich froh, dass ich wieder zu Hause bin."
"Erzähl' ihn mir später davon, denn nun eile dich. Finn, heute ist doch dein langersehnter Tag, endlich darfst du mit Vater auf Walfangfahrt gehen, also, steh rasch auf!"
"Nein, bitte sage Vater, dass ich nicht mitfahren werde. Ich will keine Wale fangen und töten!" Die Mutter blickte ihn erstaunt an und Finn erzählte ihr seinen Traum. Sie nahm ihn in den Arm, dann verließ sie sein Zimmer, um dem Vater von seinem Entschluss zu berichten.
Ende
8. Dezember 2024
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 182 vom 21. Dezember 2024
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