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BERICHT/172: Die "halben Sachen" der Yoko Ono (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2013

Die "halben Sachen" der Yoko Ono
Die Frankfurter Schirn zeigt erstmals in Deutschland ihr Werk

Von Karoline Hille



Die gebürtige Japanerin aus New York - Pionierin der Fluxus-, Konzept-, Film- und Performancekunst, Musikerin, Friedensaktivistin, Feministin - gehört zu den einflussreichsten Persönlichkeiten unserer Zeit. Und doch ist Yoko Ono immer noch die "berühmteste unbekannte Künstlerin", als die sie ihr Mann John Lennon 1971 beschrieb. Jeder kennt sie, kaum einer ihr Werk. Die umfassende Retrospektive zum 80. Geburtstag wird das ändern.


Kann es einen halben Raum geben oder einen halben Wind, kann man eine Erinnerung in die eine Gehirnhälfte einschließen und vergessen, während die andere Hälfte sich nach ihr sehnt? Ja, sagt Yoko Ono, denn die Aufforderung an den Betrachter, die "halben Sachen" in Gedanken oder durch Handlungen zu vervollständigen, begründet erst als integraler Bestandteil ihre Kunst, in der bis heute das konzeptionelle und performative Arbeiten im Mittelpunkt steht. Das "ganze" Werk entsteht nach Yoko Onos Überzeugung nur durch die aktive Beteiligung des Publikums und die Sehnsucht des Menschen nach Vollständigkeit.

Die radikale, grenzüberschreitende und gesellschaftspolitisch orientierte Kunstströmung, die sich ursprünglich vor allem in Aktionen und Performances manifestierte, wurde Fluxus genannt und entstand in den frühen 60er Jahren in Amerika. Yoko Ono hat Fluxus mitbegründet und geprägt, ja praktiziert, bevor es den Begriff überhaupt gab. Lange bevor sie 1966 nach London reiste, John Lennon kennen lernte und schließlich zur Popikone avancierte, war sie in der avantgardistischen New Yorker Musik- und Kunstszene eine anerkannte Künstlerin. Manchmal genügte ihr ein Stück Papier, worauf sie die "Instruktionen" für das vom Publikum zu vollendende "Piece", wie sie es nannte, notierte. Das Lighting Piece etwa schrieb Yoko Ono bereits 1955: "Entzünde ein Streichholz und beobachte wie es ausgeht." Später führte sie es selbst in einer Performance vor und dehnte es 1966 in ihrem ersten Fluxusfilm in extremer Zeitlupe fast bis zum Stillstand. "Mein Werk ist sehr still", hat Yoko Ono formuliert und schon dieses frühe Beispiel basiert auf diesem Prinzip, dessen Ausgangspunkt immer eine Idee ist. Das Wesentliche spielt sich im Kopf des Besuchers ab.

Mitunter hat die Künstlerin die Ideen nicht nur als Handlungsanweisung aufgeschrieben, sondern auch real gestaltet. Ihr berühmter, in Frankfurt ausgestellter Half-a-Room zeigt in Hälften geteilte Möbel und Gegenstände, Tisch, Stuhl, Regal, Vase, Teekanne, Schuhe und vieles mehr. Alles ist weiß bemalt, nichts lenkt ab, der Betrachter kann gar nicht anders, als den Verlust zu spüren und das "Ganze" zu denken, sich - wenn man so will - nach der anderen Hälfte zu sehnen. Streng genommen ist der halbe Raum zwar eine Installation, aber eigentlich handelt es sich um eine Performance, denn die zugrunde liegende Idee funktioniert nur durch die gedankliche Interaktion mit dem Publikum.


Gedanklicher Mehrwert statt Marktwert

Den halben Raum erfand Yoko Ono 1967 für ihre zweite Londoner Ausstellung in der Lisson Gallery, die sie "Half-a-Wind Show" nannte: Eine poetische Bezeichnung, die vor diesem Hintergrund gar nicht mehr so geheimnisvoll anmutet. Als Hommage an die Künstlerin trägt die Frankfurter Ausstellung diesen Titel. Kurz zuvor im Herbst 1966 hatte Yoko Ono ihre erste Schau in London. Dort begegnete sie John Lennon. Vielleicht hat er ebenfalls nach ihrer "Instruction" Painting to hammer a Nail einen Nagel in die Holzplatte gehämmert. Der Rest ist Geschichte, wie sie selbst lakonisch dazu anmerkte. Auch dieses, bereits 1961 konzipierte Stück ist in Frankfurt zu sehen, wie überhaupt das große Verdienst der Ausstellung in der umfassenden Präsentation des Frühwerks besteht. Heute kann der Besucher allerdings nicht mehr in Nagel-Aktion treten, die Musealisierung verlangt hier leider ihren Tribut. Anderes darf man hingegen weiterhin berühren oder benutzen, darf das ebenfalls schon 1961 entstandene Werk To be stepped on, ein Stück Stoff auf dem Boden, der Aufforderung gemäß betreten, darf spielen mit den weißen Schachfiguren, die den Ausgleich der Gegensätze thematisieren, oder sich für die Performance Moving Mountains in schwarze Säcke hüllen. Und in einem eigenen Musikraum kann man sich alle ihre Platten anhören. Rund 200 Objekte, Fotos, Filme, Installationen, Zeichnungen, Textarbeiten illustrieren das so vielgestaltige intermediale Werk, dessen Themen um Luft und Himmel, Wasser und Glas, Licht und Schatten, Weiß und Schwarz, Erinnerung und Vergessen, Verlust und Heilung kreisen.

Auch wenn das zunächst sehr ernst und geradezu erhaben klingt, so ist es das keineswegs. Diese Erkenntnis ist die eigentliche Überraschung der Ausstellung. Witz, Humor und Ironie zeigen sich allerdings oft erst auf den zweiten Blick. Manches erscheint absurd oder komisch, anderes kämpferisch, gar gewalttätig, aber oft auch poetisch und berührend. Yoko Ono spottet und lacht und unterläuft die Erwartungen der Besucher. So lud sie 1962 zu einem Konzert in Tokio, bei dem sie nicht auftrat und es gar keine Musik gab; eben deshalb, weil "die Musik im Geist" ist. Oder sie forderte "Keep laughing a week". Denn das "Gelächter ist Gottes Sprache", ein Satz, der einmal mehr die enge Verwurzelung im Zen-Buddhismus zeigt, auch wenn sie selbst nie lächelt auf den frühen Fotos. Viele ihrer Arbeiten haben ein großes utopisches Potenzial, etwa das Morning Piece, eine Performance, die sie ihrem Freund, dem Fluxus-Begründer George Macunias widmete und 1965 "vor Sonnenaufgang" auf dem Dach ihrer Wohnung in der Christopher Street 87 in New York veranstaltete. Dabei bot sie in Form von beschrifteten Glasscherben zukünftige und vergangene "Morgen" zum Verkauf an: Von Meereswellen rund geschliffene Glasstücke, je versehen mit einem Datum in der Vergangenheit oder in der Zukunft. An einer Tür stand die Einladung "Enter Sky". Eine solche, auf den Geist zielende, minimale Handlung zeigt allerdings auch das grundsätzliche Problem der Ausstellungspräsentation, der sie sich von ihrem Wesen her widersetzt. Zwar kann man in Frankfurt ein Foto und die Relikte der Performance - die Glasscherben - in einer Vitrine betrachten, aber diese vermitteln bestenfalls einen schwachen Abglanz. Im Grunde hat diese Kunst keinen Marktwert, sie lässt sich trotz mancher Versuche ganz schlecht handeln und eigentlich kaum vermitteln. Genau deshalb aber erscheint es umso zwingender, ihr als Gegenreaktion zum überhitzten, spekulativen Kunstmarkt im Museum einen Raum zu schaffen, wie derzeit nicht nur für Yoko Ono in der Schirn, sondern auch für "Fluxus" in der Staatsgalerie Stuttgart. Der "Mehrwert" an Denken rechtfertigt diese Unternehmungen - wie unzulänglich im Einzelnen auch immer - allemal.


"Part of a very large circle"

Grundsätzliche Themen, wie etwa Wasser und Glas, Himmel und Luft im Morning Piece fanden eine Fortsetzung in weiteren Arbeiten: in Sky Machine von 1966, einem Metallspender für mit "Sky" beschriebene Pappkarten, der nach Yoko Onos Meinung an jeder Straßenecke aufgestellt werden sollte, oder wenig später in Sky TV. "This is a TV just to see the sky", lautet die Instruktion. Das Gerät zeigt allerdings nicht irgendeinen Himmel, sondern einen live übertragenen Himmelsausschnitt über dem jeweiligen Aufstellungsort. Wer also das "Ganze" sehen will, muss das Museum verlassen und in den Himmel über Frankfurt blicken. Dazu passen die vier Glasschlüssel, "to open the skies". Sollte dabei einer der filigranen Schlüssel zerbrechen, so fallen die Scherben vielleicht ins Meer, wo die Künstlerin sie findet und als zukünftige oder vergangene "Morgen" verkauft. Solche imaginären Kreisläufe interessieren Yoko Ono immer wieder. Eine ihrer ganz zentralen frühen Anweisungen zeigt eine Linie, beschriftet mit "This line is a part of a very large circle".

Zu Yoko Onos bekanntesten Arbeiten gehören zweifellos jene, in denen sie sich von einem feministischen Blickwinkel aus mit dem Körper beschäftigt. Zum ersten Mal findet sich das Thema 1966 in dem Fluxusfilm No. 4, jener mit viel sarkastischem Humor inszenierten Parade von im Schrittrhythmus bewegten, nackten Hintern. Mit ihnen unterläuft sie nicht nur traditionelle Geschlechterklischees und sexuelle Projektionen, sondern auch den Konsum erotisierter Frauenkörper im Medium Film selbst, denn nach weiblich und männlich unterscheiden lassen sich ihre gefilmten Gesäßansichten nicht.

Aber Yoko Ono setzte auch den eigenen Körper ein, als eine der allerersten Künstlerinnen überhaupt, lange bevor sich überhaupt ein Bewusstsein für den Feminismus entwickelt hatte. Bei der Performance Cut Piece, 1964 in Japan zum ersten Mal aufgeführt, war das Publikum aufgefordert, ihr die Kleidung mit einer Schere buchstäblich vom Körper zu schneiden, denn ihr Anliegen war es, etwas von sich zu geben. In Frankfurt wird die 1965 in New York gedrehte Dokumentation gezeigt. Yoko Ono sitzt bewegungslos in ihrem besten Kleid auf dem Bühnenboden und mit jedem weiteren Schnitt wächst das Unbehagen, ja die Angst in ihrem Blick. "Und ich fühlte, dass ich mich freiwillig opferte", beschrieb Yoko Ono in einem Interview diese radikale Erfahrung von Ausgeliefertsein und Grenzüberschreitung, die bis heute für den Betrachter selbst im Film schwer erträglich bleibt. Ein paar Jahre später, 1971, machte die Künstlerin auf New Yorks Straßen Werbung für ihre "One Woman Show" im berühmten Museum of Modern Art, das ansonsten die Kunst von Frauen nicht gerade förderte. Die von ihr befragten Passanten antworteten alle, sie hätten die großartige Schau noch nicht gesehen. Das konnten sie auch nicht, denn diese existierte überhaupt nicht.

Wer mag, kann sich in der Frankfurter Schirn zum Abschluss seines Ausstellungsbesuchs auf die Suche begeben nach all den kleinen Hinweisen, die Yoko Ono dort mit ihrer schönen kalligraphisch anmutenden Handschrift auf die Wände geschrieben hat. In jedem Fall aber sollte er der Künstlerin - vielleicht inspiriert von John Lennons Lächeln in ihrem Film No. 5 - in dem silbernen Kästchen, der Box of Smile, sein eigenes Lächeln hinterlassen.


Yoko Ono. Half-a-Wind Show. Eine Retrospektive. Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main, bis zum 12. Mai 2013. Der Katalog in der Ausstellung kostet € 29,80. Weitere Information: www.schirn.de.


Karoline Hille ist promovierte Kunsthistorikerin und arbeitet als Publizistin und Ausstellungskuratorin in Ludwigshafen. Zuletzt erschien bei DuMont 2012: Gabriele Münter. Die Künstlerin mit der Zauberhand.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2013, S. 65 - 68
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Mai 2013