Schattenblick → INFOPOOL → KUNST → FAKTEN


BERICHT/188: Nachvollziehbare Erkundungen am menschlichen Körper (TU Dresden)


Dresdner Universitätsjournal Nr. 5. vom 15. März 2016

Nachvollziehbare Erkundungen am menschlichen Körper

Von Tomas Petzold


Brückenschlag zwischen Kunst und Wissenschaft: Der seit Jahrzehnten in Dresden lebende Ungar Sándor Dóró überrascht mit seiner brillanten Künstleranatomie


"Die Trennung von Wissenschaft und Kunst ist nur von partieller Gültigkeit und die Konsequenz bequemer Konventionen", schreibt Sándor Dóró in der Einleitung zu einem wahrhaft gewichtigen Buch, mit dem er die Ergebnisse einer achtjährigen Lehrtätigkeit an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden zusammenfasst. Als Hauptzeugen und Vorbild beruft er sich auf keinen Geringeren als Leonardo da Vinci, der die Untrennbarkeit der beiden Bereiche durch sein Lebenswerk bewiesen habe, nicht zuletzt durch seine Beiträge zur Künstleranatomie. Diese ist das spezielle Fachgebiet des Malers und Zeichners Dóró, der seine Erkenntnisse, Lehrmeinungen und -methoden nun auf beeindruckende Weise in einem unlängst im Berner Haupt Verlag erschienen Prachtband dargestellt hat. Es ist tatsächlich ein Brückenschlag zwischen Kunst und Wissenschaft, vollzogen auf knapp 400 Seiten im adäquaten Zusammenspiel von Wort und Bild. Dabei regiert freilich nicht die Ehrfurcht vor dem Genie, sondern das Vertrauen auf die eigene Gestaltungskraft. Dórós Ziel war es, mit zeichnerischen Mitteln ein universelles Körperbild zu entwickeln, das einerseits auf dem Verständnis von Gesetzmäßigkeiten beruht, an dem sich andererseits die künstlerische Fantasie entzünden kann. Ein großer Ansatz, der aber nicht zuletzt durch die heute jedermann mögliche mediale Erfahrung bestätigt bzw. nahegelegt wird. Die äußere Erscheinung eines menschlichen Körpers, seine Statik, lässt nicht einmal ansatzweise vermuten, zu welcher Fülle an Ausdrucksmöglichkeiten und Bewegungen er in der Lage ist, oftmals schon in scheinbarem Widerspruch zu den Gesetzen der Schwerkraft.

Die faszinierenden Details aufzuklären, Zusammenhänge zu verstehen, hat Dóró schon früh aus verschiedenen Gründen gereizt, für künstlerisch unabdingbar hält er es freilich nicht: "Natürlich kann man ein guter Künstler sein ohne Künstleranatomie. Wenn wir das so sehen, ist es auch gar nicht wichtig zu studieren - wenn man eben ein geborener Künstler ist. Für alle anderen ist die Hochschulausbildung eine Erleichterung..." Will heißen: Hier geht es um Angebote statt einzuhaltende Regeln.

Dórós Werk ist nicht Ergebnis einer langen konzeptionellen und theoretischen Vorarbeit, sondern ergab sich ad hoc als unmittelbarer Ertrag der Lehrtätigkeit, in die der 58-Jährige nach zwei Jahrzehnten als freier künstlerischer Zeichner, Performer, Maler einigermaßen überraschend einsteigen konnte, in verzögerter Nachfolge des legendären Gottfried Bammes. Freilich hat Dóró keine Professur, nur einen Lehrauftrag als "einfacher" Mitarbeiter. Aber das hat ihn nicht gehindert, ein Standardwerk zu schaffen, das in seiner Ästhetik, in seiner sprachlichen und zeichnerischen Klarheit und Geschlossenheit keinen Vergleich mit einschlägiger Literatur zu scheuen braucht.

Dóró war nicht nur Student, sondern Mitte der 80er-Jahre auch Assistent bei Bammes, hat aber damals bewusst auf die Hochschulkarriere verzichtet. "Es ist eine Illusion zu glauben, dass man daneben noch Künstler sein kann." Dass man hingegen als Künstler wieder in die Anatomie einsteigen kann, war des Beweisens wert. Selbstverständlich kann man an der Geschichte nicht vorbei, aber Dóró hat sie kritisch aufgearbeitet und in seine eigene Methodik und Bildsprache entwickelt. "Es war für mich das Allerwichtigste, eigene Texte auszuarbeiten, weil natürlich die Anwesenheit von Gottfried Bammes an der HfBK noch sehr intensiv ist, er war ja auch mein Lehrer, und so bestand die Gefahr, dass ich beim Ausarbeiten seine Bücher in die Hand nehme - aber ich habe es nicht getan. Ich wollte mich nicht einmal annähernd an Bammes oder einen anderen Anatomielehrer anlehnen. Es gibt auch eine Menge Dinge, die man damals gar nicht besprochen hat, sehr viele Neuheiten und Vermittlungen durch die digitale Welt."

Dóró ist kein Anatom oder gar Mediziner, mit denen die lange Dresdner Tradition der Künstleranatomie begann. Bereits 1850 erschien posthum ein Lehrbuch des Medizinprofessors Burkhard Wilhelm Seiler (1779-1843) mit dem Titel "Anatomie für Künstler und Turnlehrer". Allerdings war Seiler beim Zeichnen, das von ihm möglichst getreu nach der Natur gewünscht war, auf Unterstützung angewiesen, die ihm u.a. von Carl Gustav Carus zuteil wurde.

Bei Dóró hingegen kommt alles aus einer Hand und aus einem Geist. "Ich mache das nicht als Amateur", sagt er selbstbewusst, "sondern ich bin sogar doppelt, nämlich von der Kunst und vom Sport her dazu qualifiziert". Mit dem Sport ist hier im engeren Sinn das Ringen gemeint, mit dem sich Dóró als Aktiver wie Performer sehr intensiv auseinandergesetzt hat: "Es bietet, außer der Liebe, so ziemlich die einzige Gelegenheit in unmittelbar intensiven Kontakt zu anderen Körpern zu kommen." Aus dieser Sicht scheint es logisch, dass Dóró die üblichen Studien - am gesunden menschlichen Körper, in der Pathologie und anhand von Exponaten der Anatomiesammlung der Hochschule - durch von ihm kreierte Ringer-Performances ergänzt hat.

Neben den detaillierten Erläuterungen der Funktionsweisen von Sehnen, Muskeln und Gelenken stehen die Zeichnungen nicht als Illustration, sondern als das Eigentliche, und sie bieten freilich etwas ganz anderes als Erkenntnisse aus der Pathologie. Zu einem großen Teil entstanden sie als Live-Darbietung, vor äußerst kritischen Augen im Unterricht, oft überlebensgroß mit den schlichtesten Mitteln: farbiger Kreide auf schwarzer Wandtafel. Das erfordert, auch bei komplizierten Gegenständen wie Schädel- oder Beckendarstellungen souverän und fast vollständig aus dem Kopf zu arbeiten - lediglich kleine Handskizzen bilden die Brücke zwischen minutiöser Vorbereitung und Unterricht. Die Resonanz sei erfreulich, gerade auch bei den Studenten der freien Künste, für die die Künstleranatomie keine Pflichtveranstaltung ist. "Es gibt auch viele Erasmus-Studenten von anderen Hochschulen, die in der Anatomie und im Aktzeichnen bei mir vorbeikommen; sie sind begeistert von dem Angebot."

Erst im Lauf der Jahre sei ihm aufgegangen, dass diese Zeichnungen auch einen bleibenden Wert darstellen könnten, gesteht Dóró, aber seither hat er sie selbst fotografisch dokumentiert. Mehr als 700 seien es inzwischen, entstanden nicht nur auf Wandtafeln im Hörsaal sondern auch auf denen in Dórós Ateliers in Dresden, Szolnok und Budapest. Sie bilden einen eigenen Werkkomplex, sogar so etwas wie ein eigenes Genre. "Ich sehe meine Tafelzeichnungen tatsächlich als künstlerische Zeichnungen an. Das sind keine Kopien, sie sind nach Vorstellungen entstanden und trotz des didaktischen Inhalts sehe ich sie als Kunst."

Freilich ist das Ergebnis ein ganz anderes, als wenn man über das Sezieren in der Anatomie herkommt. Präzision, verbindet sich mit Anschaulichkeit, Übersichtlichkeit, Räumlichkeit, was wiederum nur durch ein hohes Maß an Abstraktion auf Funktionalität erreichbar scheint.

Die Ästhetik wirkt keineswegs historisierend, sondern durchaus zeitgenössisch, korrespondiert mit jener der digitalen Welt. "Meine künstlerische Erfahrung ist größer", betont Dóró im Vergleich zu seinen Fachkollegen, "denn bis zu meinem 58. Lebensjahr habe ich immer frei gearbeitet. Erst in den letzten Jahren habe ich erfahren, was es bedeutet, nur Sonntags- und Freizeitmaler zu sein. Allerdings wird sich diese Erfahrung schon in Bälde runden, da der Künstler vor nicht allzu langer Zeit das 65. Lebensjahr vollendet hat und das sächsische Ministerium für Wissenschaft und Kunst danach nur noch maximal drei Jahre Verlängerung zulässt.

Aber das Buch wird bleiben, als ein Beweis für das Potenzial der Künstleranatomie und als Herausforderung für einen Nachfolger, an dem es deswegen hoffentlich nicht fehlen solle.

*

Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 27. Jg., Nr. 5 vom 15.03.2016, S. 5
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
Nöthnitzer Str. 43, 01187 Dresden
Telefon: 0351/463-328 82
Telefax: 0351/463-371 65
E-Mail: uj@tu-dresden.de
Internet: www.dresdner-universitaetsjournal.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. März 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang