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DOCUMENTA/043: Zwischen Kassel und Kabul - Was bringt die 13. Documenta? (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 8/2012

Zwischen Kassel und Kabul
Was bringt die 13. Documenta?

Von Stefan Orth



Carolyn Christov-Bakargiev, die Kuratorin der 13. Documenta, hat im Vorfeld mit einem ganz offenen Kunstbegriff kokettiert. Doch ohne Konzept ist die Weltkunstausstellung in Kassel nicht: Die Kunstwerke selbst, weitgehend eigens für die alle fünf Jahre stattfindende Documenta gestaltet, thematisieren vielfach die Rolle des Menschen in der globalisierten Welt. Das Thema Religion ist dabei nur in Einzelfällen ausdrücklich von Belang.


Am Ende eines der beiden langen Wasserbassins, die auf die Orangerie zulaufen, ist eine großformatige Uhr zu sehen, die die Zeit anzeigt und doch verwirrt: Das Zifferblatt ist so gestaltet, dass das menschliche Gehirn aufgrund der Perspektivenverzerrung nicht recht weiß, in welche Himmelsrichtung die Uhr eigentlich aufgestellt ist.

Dieses Kunstwerk des Albaners Anri Sala ist nur ein markantes Beispiel dafür, was in Kassel auf der 13. Documenta mehr noch als auf früheren Ausgaben der Weltkunstschau zu sehen ist: Künstlerische Versuche neuer Blickwinkel auf diese Welt - einschließlich der Frage danach, was eigentlich Kunst ist.

Die Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev der diesjährigen Documenta, die vom 9. Juni bis zum 16. September wieder für genau 100 Tage zu sehen ist, hat im Vorfeld nur wenig von ihren Vorhaben preisgegeben und vor allem auf der Offenheit ihres Kunstbegriffs insistiert. Die Folge davon war die Frage, ob die diesjährige Documenta, die sich stets "dOCUMENTA (13)" schreibt, überhaupt ein Konzept habe. Die Italoamerikanerin Christov-Bakargiev, Tochter einer Archäologin und erklärte Feministin, war bereits Kuratorin am New Yorker Museum of Modern Art, Leiterin des Museums Castello di Rivoli in Turin und unmittelbar vor ihrer Berufung nach Kassel Kuratorin der Sydney-Biennale des Jahres 2008.

In einem phasenweise wirr anmutenden Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" hat sie schließlich erklärt, es komme darauf an, auch die Sicht der Tiere, der Pflanzen oder der Dinge als solche mit einzubeziehen (31. Mai 2012). Sie wolle "Tiere und Pflanzen nicht schützen, sondern emanzipieren". Und in einem Essay zu der von ihr verantworteten ästhetischen Leistungsschau schreibt sie, dass die Grenze zwischen dem, was Kunst sei und was nicht, immer unwichtiger werde. Die Documenta fühle sich jedenfalls "von einer ganzheitlichen und nichtlogozentrischen Vision angetrieben, die die Formen und Praktiken des Wissens aller belebten und unbelebten Produzenten der Welt teilt und respektiert".

Diese dezidierte Absage an jeden Anthropozentrismus wurde daraufhin medial rasch zum Selbstläufer, zumal Christov-Bakargiev immer wieder mit ihrem Malteserhündchen mit Namen Darsi aufkreuzte und einen Kalender produzierte, in dem Künstler ihre Hunde posieren lassen. Brian Jungen schließlich schuf für die Documenta einen Skulpturenpark "Dog Run", der ausdrücklich als Hunde-Parcours gestaltet ist - außer ihnen und ihren Frauchen und Herrchen müssen alle anderen draußen bleiben. Da lag es nahe, das ganze diesjährige Unternehmen als "Dogumenta" zu karikieren.


Weite des Kunstverständnisses

Richtig ist immerhin, dass auf der gesamten 13. Documenta die Natur im weitesten Sinne eine sehr prominente Rolle spielt, angefangen von den Räumen im Erdgeschoss des "Museum Fridericianum", in denen im Wesentlichen Luftbewegungen das Kunstwerk sind (Ryan Gander). Manches ließ sich auch nicht verwirklichen, wie das Ansinnen, den zweitgrößten Meteoriten der Welt mit immerhin 37 Tonnen Gewicht, "El Chaco" genannt, für 100 Tage von Nordargentinien auf den Kasseler Friedrichsplatz zu holen - was immerhin filmisch thematisiert wird. Auch der Versuch der US-Amerikanerin Amy Balkin, die Erdatmosphäre als Weltkulturerbe anerkennen zu lassen, ist gescheitert, dokumentiert werden die Schreiben an die 186 in der UNESCO organisierten Länder.

Hier bestätigt sich durchaus die Weite des Kunstverständnisses der Kuratorin, zumal Künstler in diesem Jahr keinesfalls nur Kunstschaffende sind. Allein den fünf Versuchsanordnungen des österreichischen Quantenphysikers Anton Zeilinger, mit denen dieser die Grundlagen dieses neuen Wissenschaftsparadigmas anschaulich machen will, sind auf viel Aufmerksamkeit gestoßen. Wie viele Welten gibt es eigentlich? Welche Rolle spielen dabei die Beobachter und welche der Zufall? All diese Fragen lassen sich an den Voraussetzungen für Laser- und Halbleitertechnik durchspielen.

Und trotz aller betonten Wirtschaftsskepsis gehört auch der Computererfinder Konrad Zuse zu jenen, deren Bedeutung für die diesjährige Documenta dadurch unterstrichen wird, dass sie zusätzlich in dem kleinen Kabinett im Herzen des Fridericianums, "The Brain" genannt, mit einem Exponat vertreten sind (in diesem Fall ein kleines Funktionsmodell). Vor allem aber zu sehen sind vom künstlerischen Autodidakten Zuse im Astronomisch-Physikalischen Kabinett in der Orangerie Zeichnungen, die eine interessante Kreuzung von mathematisch geschultem Denken und ästhetischem Empfinden des Ingenieurs zeigen. Das Vorbild Lyonel Feiniger ist deutlich erkennbar - sein Computer Z11 steht hier nicht nur zu Documenta-Zeiten.


Ob hier oder im Naturkundemuseum Ottoneum, wo die Documenta Künstlern mit einschlägig akzentuierten Exponaten Räume zur Verfügung gestellt hat: Es ist der Reiz dieser Documenta mit ihren fast 200 Künstlern und vor allem auch überdurchschnittlich vielen Künstlerinnen, dass sie in diesem Jahr neben den üblichen Spielstätten besonders viele über Kassel verstreute Ausstellungsorte hat.


Es geht nicht um einen Abgesang auf den Menschen

Der überwiegende Großteil der Werke der 13. Documenta ist eigens für diese entstanden. Insgesamt sind dabei vergleichsweise wenig Malerei, nur hier und da Fotografie und vereinzelt Videos, immerhin eine Reihe von Skulpturen und vor allem viele Rauminstallationen zu sehen (vgl. zu den beiden Vorgängerveranstaltungen auch: HK, September 2009, 467 ff.; September 2002, 437 f.). Dem seit Catherine Davids Documenta 10 im Jahr 1997 üblichen intellektuellen Metadiskurs als Teil der Weltkunstausstellung wird mit gleich drei Publikationen Rechnung getragen, von denen der erste Band 100 "Notizbücher" von Künstlern, Philosophen, Literaten und anderen enthält.


Den besten Eindruck des Faibles für die Natur der diesjährigen Documenta bekommt man, wenn man durch die Karlsaue, den großflächigen Landschaftspark an der Fulda, mit den rund 50 Pavillons flaniert, angefangen von Giuseppe Penones Publikumsmagneten "Idee di pietra": einem entlaubten und stark beschnittenem Baum aus Bronze, in dessen Ästen ein Findling thront. Das ist nicht ohne historische Reminiszenzen: Die erste Documenta 1955 war eine Art Anhängsel an die Bundesgartenschau im selben Jahr.

Nur kommen eben zur Landschaftsgestaltung (eine Welle in einem Becken, ein bepflanzter Müllhügel, eine mit Mangold begrünte Pontonbrücke, wandernde Zypressen und anderes mehr) die Tiere hinzu. Wo der Friedrichsplatz von einer vierspurigen Straße durchschnitten wird, schon nahe der Stufenanlage zur Karlsaue hinunter, findet man den "Schmetterlingsgarten" von Kristina Buch: ein größeres Hochbeet mit Brennnesseln und Disteln, in dem im Verlauf des Sommers Schmetterlinge ideale Lebens- und Fortpflanzungsbedingungen finden.


Aber ist nicht schon an dieser Freilichtinstallation auch abzulesen, dass es in Kassel nicht einfach um einen Abgesang auf den Menschen geht? "In Schmetterlingen mit ihrem Tanz von Blüte zu Blüte mag man eine Metapher der Freiheit erkennen", heißt es im Begleitbuch. Auf ein Interesse am Menschen verweist auch ein hingestrecktes Insektenpaar, das die Thailänderin Pratchaya Phintong auf einer weißen Marmorplatte, also faktisch einem Grabgelege, unter Glas präsentiert: zwei Tsetsefliegen, die die Schlafkrankheit übertragen, an der Tausende von Afrikanern nicht zuletzt wegen der Heimtücke der Erkrankung sterben.

Daneben ist ebenfalls alles andere als überraschend, dass auch die künstlerische Reflexion der ethnischen Verwerfungen weltweit wieder markante Exponate hervorbringt. Vertreibung beziehungsweise Traumatisierung durch den Kolonialismus wie heute auch die Globalisierung sind auf der Documenta mit ihren Künstlerinnen und Künstlern aus mehr als 50 Ländern immer wiederkehrende Themen. Ausdrücklich schreibt Christov-Bakargiev in ihrem Essay: "Die heutigen Probleme bestehen in erster Linie in einer ausgeprägten und weiterhin wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich in der Welt des frühen 21. Jahrhunderts, in der Unterwerfung von Wirtschaft, Gesellschaft und Natur unter die Finanzsysteme, verbunden mit Fortschritten in der Computertechnologie statt in der Herkunft materieller Güter". Dem entspricht dann durchaus, was das Kunstmagazin "Art" als "franziskanische" Ästhetik der Arte-Povera-Expertin identifiziert hat: Christov-Bakargiev misstraue "der visuellen Attraktion, schätzt das Karge, Archaische, Konzeptuelle" (Juni 2012).


Krieg und Wiederaufbau als Themen

Die sozialen Spannungen werden in einer ganzen Reihe von Kunstwerken mit einer historischen Tiefenschärfe präsentiert. Alle Künstler waren am Beginn ihres Aufenthalts im nahegelegenen ehemaligen Benediktinerkloster Breitenau, das nach der Reformation als Getreidelager, Besserungsanstalt für "Arbeitsscheue", dann als Konzentrationslager und später Mädchenerziehungsheim diente und bis heute in Teilen eine Psychiatrie beherbergt. Vor allem die Herausforderung des Nationalsozialismus ist dadurch auf der Documenta vielfältig präsent, einzelne Beiträge setzen sich auch direkt mit der Geschichte jenes Ortes auseinander.


Gleichzeitig geht es aber auch häufiger um die unmittelbare Zeit danach, den Wiederaufbau des zerstörten Landes und das Wirtschaftswunder einschließlich all seiner Schattenseiten - dies ist ja auch nicht zuletzt die Zeit, in der die Documenta selbst als Forum der Gegenwartskunst entstand. Aus diesem Grund zählen zu den vielen Orten der Documenta 2012 auch in den fünfziger Jahren wiedererstandene Gebäude wie Kinos, Kaufhäuser und Ballsäle. In diesen Kontext gehören auch einige amerikanische Beiträge: So hat der Kanadier Geoffrey Farmer tausendfach Ikonen der westlichen Gesellschaft aus Ausgaben der Wochenillustrierten "Life" von den fünfziger bis zu den achtziger Jahren ausgeschnitten, auf Holzspieße geklebt und in Augenhöhe zu einer - als Highlight in der Neuen Galerie - ganglangen Installation zusammengefügt.

Insgesamt allerdings geht der Anteil der nordamerikanischen Künstler genauso wie der der europäischen auf einer Documenta weiter zurück. Und wie schon die Documenta 11 im Jahr 2002 von Okwui Enwezor nicht nur Kassel als Ausstellungsort kannte, sind in diesem Jahr Kairo, Alexandria (beide Ägypten) und Banff, Kanada, genauso mit von der Partie wie Kabul - das auch in Kassel interessante Akzente setzt.


Die Wechselbeziehungen zwischen dem heute in Trümmern liegenden Kabul und dem Flair der wiederaufgebauten Stadt Kassel gehören geradezu zu den roten Fäden der diesjährigen Weltkunstausstellung, vorgeführt etwa vom Mexikaner Mario Carcia Torres. Dieser war länger schon auf den Spuren des "One Hotel" des italienischen Künstlers Alighiero Boetti, das in den siebziger Jahren in Kabul von ihm geführt wurde und zuletzt - wie ebenfalls filmisch dokumentiert wird - von Torres wiederbelebt wurde. In Kassel wird jetzt endlich auch Boettis Wandteppich "Mappa" aus dem Jahr 1971 gezeigt, eine wie ein Teppich gewebte Weltkarte, bei der die Länder aus ihren Flaggen gestaltet werden. Er war bereits für die Documenta 5 in jenem Jahr vorgesehen, wurde aber seinerzeit nicht rechtzeitig fertig.

Und die Halbrotunde im Fridericianum wird von einem mehr als 17 Meter langen Wandteppich der Polin Goshka Macuga ausgekleidet: Auf der Foto-Collage sind mehrere Dutzend Beteiligte am afghanischen Teil der Documenta vor dem Hintergrund des zerstörten Darul-Aman-Palastes zu sehen, getaucht in das gleißende Weiß der Oberlichter. Das Pendant, eine Fotocollage unter anderem mit Mitarbeitern der diesjährigen Documenta vor dem Fridericianum, dem klassizistischen Hauptgebäude der Ausstellung in Kassel, wird derzeit in Kabul gezeigt.


Immerhin gelegentliche Bezugnahme auf das Christentum

Das Thema Religion kommt hier und andernorts - wie schon bei den Vorgängerveranstaltungen, aber anders als bei der katholischen Begleitausstellung (vgl. HK, Juli 2012, 329) - weitgehend nur durch die Hintertüre ins Spiel. So fand etwa ein Workshop zur Steinbearbeitung in den Höhlen von Bamiyan statt, nicht weit entfernt von den Nischen, wo bis zu ihrer Zerstörung durch die Taliban 2001 die gigantischen Buddha-Statuen gestanden haben. Interessant ist auch ein kleines Landschaftsbild von Mohammad Yusuf Asefi, der während der Taliban-Herrschaft vorgab, Gemälde der Nationalgalerie von Kabul zu restaurieren: Er übermalte Tiere und Menschendarstellungen und rettete sie damit vor der kompletten Zerstörung aufgrund eines scharf interpretierten Bilderverbots. Demgegenüber zeigt der Ägypter Wael Shawky Teile seiner "Cabaret Crusades", Puppenanimationsfilme über die Zeit der Kreuzzüge - aus islamischer Sicht.

Im Vorschauheft der "Art" hieß es mit Blick auf die Geschichte der Documenta und der gelegentlichen Kritik an ihrer weltanschaulichen Ausrichtung in einer Art Nebenbemerkung zu den geschichtlichen Entwicklungen der Kassler Ausstellung lapidar: "Würde heute noch jemand ernsthaft zu wenig christliche Kunst bemängeln?". Das heißt jedoch nicht, dass es bei der aktuell laufenden Schau keinerlei Bezugnahme auf das Christentum gäbe.

Andrea Büttner etwa beschäftigt sich mit der Ordensgemeinschaft der Kleinen Schwestern Jesu und lässt sich von deren Armutsverpflichtung auch die Ästhetik der Raumgestaltung vorgeben. Die Künstlerin des "Schmetterlingsgarten" ist von Hause aus nicht nur Biologin, sondern auch Theologin, so dass auch ihre Freiluftinstallation noch einmal in einen anderen Kontext gestellt wird. Die auch religiös aufgeladenen Beiträge aus dem Bereich "Bewahrung der Schöpfung" werden schließlich mit dem politischen Impetus der Documenta in den besonders beindruckenden Apfelzeichnungen eines bayerischen Pfarrers gekreuzt.


Die Documenta drückt der Stadt Kassel ihren Stempel auf

Teil des Lebenswerkes von Korbinian Aigner war die Dokumentation von mehreren hundert Apfelsorten, im Fridericianum sind allein gut 350 seiner rund 900 verschiedenen Blätter im Postkartenformat zu sehen. Der Dorfpfarrer und Apfelzüchter blieb seinem Auftrag selbst noch treu, als er ins Konzentrationslager Dachau kam, weil er gegen die Nationalsozialisten gepredigt hatte. Dort entstanden die Apfelsorten mit ihren fast schon pervers erscheinenden Bezeichnungen KZ-1 bis KZ-4, von denen eine sich dann in der Nachkriegszeit als "Korbiniansapfel" durchsetzen konnte. "Ein poetischer Akt des Widerstands im Angesicht des Völkermordes", heißt es im Begleitbuch.

Es sind solche kleinen ästhetisch vermittelten Zeugnisse eines unerschütterlichen Glaubens an den Sinn von Gottes Schöpfung, die Jahrzehnte nach der nationalsozialistischen Herrschaft auch aus einer theologischen Perspektive von höchstem Interesse sind. Im Vorfeld der diesjährigen Documenta wurde jetzt nicht nur ein Baum dieser Sorte gepflanzt, an den Catering-Ständen wird jetzt auch ein schmackhafter "Documenta-Apfelsaft" aus diesen Früchten angeboten - naturtrüb, versteht sich.


Die mit Blick auf religiöse Tiefenschichten beeindruckendsten Beiträge finden sich in diesem Jahr in der Documenta-Halle. Im rückwärtigen Kabinett sind - in Anlehnung an buddhistische Gebetsmühlen - unter der Decke fünf große, figürlich bemalte Zylinder angebracht, die sich drehen und auf Videoprojektionen zusätzliche Schattenbilder werfen und auf diese Weise immer neue Geschichten erzählen (Nalini Malani). Im großen Saal davor, ganz Thomas Bayrle gewidmet, hat dieser mehrere seiner Motoreninstallationen aufgebaut, bei den jeweils das Rattern der Kolben und die gleichmäßigen Drehungen mit Gesängen und Gebeten katholischer Liturgie in verschiedenen Sprachen unterlegt werden. Höchst eindrücklich, aber nicht unkritisch werden damit die tiefere Bedeutung von Riten mit all ihrer vermeintlich-tatsächlichen Monotonie aufgegriffen.


Insgesamt ist die Documenta-Halle (wie im Übrigen auch der Nordflügel des Hauptbahnhofs) besonders hervorzuheben, allein schon wegen des "Limited Art Project" des Chinesen Yan Lei. Er hat ein Jahr lang jeden Tag ein im Internet verfügbares Bild gemalt. Die Gemälde hängen jetzt in einem eigenen Raum nicht nur an den Wänden und der Decke, sondern sind auch in herausfahrbaren Magazinschränken zu sehen. Jeden Tag während der Documenta wird nun ein Bild in einer Autolackiererei monochrom übermalt, so dass das Werden und Vergehen von Kunst anschaulich demonstriert wird.

Auch Beiträge wie diese werden gemeint sein, wenn das Sonderheft der "Art" zur diesjährigen Documenta schreibt: "Jetzt wissen wir, was uns bei den internationalen Großausstellungen zuletzt gefehlt hat: das Staunen, die Neugier, die Offenheit auch für das Versponnene und Verquere der Kunst." Die Documenta überzeugt insgesamt vor allem dort, wo es gelingt, vorgefundene Realität mit den Mitteln der Kunst aufzugreifen, zu verarbeiten und zu interpretieren, gerade indem man sich von den jeweiligen Orten anregen lässt.

Christov-Bakargiev hat im Vorfeld davon gesprochen, dass auch sie die rund 750.000 Besucher der letzten Documenta 12 von Roger M. Buergel und Ruth Noack im Jahr 2007 erreichen möchte. Schon jetzt ist es ihr in jedem Fall eindrucksvoll gelungen, dass die Documenta der Stadt Kassel ihren Stempel aufdrückt.


Stefan Orth, Dr. theol., geboren 1968 in Duisburg. Studium der Katholischen Theologie in Freiburg, Paris und Münster. 1998 Promotion. Seit 1998 Redakteur der Herder Korrespondenz.

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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
66. Jahrgang, Heft 8, August 2012, S. 417-421
Anschrift der Redaktion:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. November 2012