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BERICHT/045: Traumteich - Ästhetik der Unbrauchbarkeiten ... (SB)


"Assemble | Standard | Minimal"

Besuch einer Ausstellung des Künstlerpaares Revital Cohen und Tuur van Balen zur Synthetischen Biologie, Automatisierung und Standardisierung in der Warenwelt am 19. März 2015 in der Schering Stiftung, Berlin


Weiße Welt, grellhell, verloren das Versteck. Anfangs bin ich geblendet, fast blind. Sehe verzerrte Schemen hinter verschleierten Wänden, flache Grundlinge, die ihrer Umgebung keinen Auftrieb abgewinnen können. Ein lautes Dröhnen im Hintergrund. Unverständliche Laute dringen an mein Gehör: "Schterile" ... "zenzaiischigoh" ... "revitalcohentuurvanbalen" ... Irgendwann kommt einer der Schemen auf mich zu, gewinnt an Kontur und hämmert mit seiner tonnenschweren Gliedmaße von Jenseits gegen die transparente Höhlenwand ... "dschonniwinter!" Und noch einmal: "dschonniwinter!" Instinktiv weiß ich, daß das Wesen mich meint.

Nach langer Zeit endlich lerne ich, meine roten Augen - das rechte doppelt so groß wie das linke - so zu bewegen, daß der Blick hinter die gläserne Höhlenwand und darüber hinaus führt - wohin auch immer ich will, sogar auf mich zurück!

Ich sah, lernte und begriff: Ein hell erleuchteter Raum, ein karges Becken mit einigen dschonniwinter: Das ist das Kunstobjekt sterile. Etwas entfernt eine merkwürdige Maschine mit einem gleichgroßen, indes leeren Becken, über dem ein kurzes Fließband endet, von oben beleuchtet. Da, an der Seite der Maschine, dicke Spritzen, von denen Schläuche abgehen und irgendwo in dem glänzend metallischen Objekt verschwinden. Auf der Rückseite verschiedengroße Plastikkanister, gleichfalls mit Schläuchen versehen. Ein Knopf, vermutlich zum Anschalten.


In Vollansicht - Foto: © 2015 by Schattenblick

Sensei Ichi-gō
Foto: © 2015 by Schattenblick

Mit diesem Apparat können aus Fischeiern dschonniwinter gemacht werden, erfahre ich, albinotische Goldfische, die nicht vermehrungsfähig sind. Was der Mensch - so nennen sich die Grundlinge - heute schon alles schaffen kann, heißt es. Selbst Leben kann am Fließband erzeugt werden. Das wollen die Erbauer der Maschine der Welt mitteilen. Es nennt sich Kunst, Sensei Ichi-gō. Die Maschine soll die Bewegungen und Handlungen meines Erschaffers, des Professors Etsuro Yamaha aus der japanischen Provinz Hokkaidō, in automatisierter Form wiederholen.

Werde nie erfahren, ob der Apparat wirklich funktioniert, denn die Künstler wollen nicht, daß er angeworfen oder im Detail erklärt wird. Denn das ganze soll nur die Frage aufwerfen, ob Grundlinge alles, was herstellbar ist, auch herstellen sollten.

Aber die dschonniwintereier, die werden nicht in der Maschine erzeugt, sondern man müßte dort immer wieder zuvor extrahierte, mikrobiologisch manipulierte Eizellen hineintun, geht mir auf. Ist wohl doch nicht so weit her mit der Fähigkeit der Grundlinge, Leben herzustellen.

Ein paar Flossenschläge weiter ist der Maschinenlärm fast unerträglich. Auf drei Quadern noch mehr Kunst: Drei gleiche Objekte, aufgereiht, entfernte Ähnlichkeit mit Laubsaugern ohne Rohr. Davor eine Wand als Projektionsfläche für einen Film: Grundlinge am Fließband führen nach einer Choreographie der Künstler repetitive Bewegungen aus, stellen jene "sinnlosen" Objekte her. Ich ahne, die Sinnlosigkeit bindet Künstler gleichermaßen wie Betrachter noch fester an das, dem eigentlich entflohen werden soll. Sinnlosigkeit ist der Sinn. Kein Entrinnen also.75 Watt, so der Name dieser Installation, lehnt sich an das Marks' Standard Handbook for Mechanical Engineers an, demzufolge ein Arbeiter im Laufe eines Achtstunden-Tages eine durchschnittliche Arbeitsleistung von ca. 75 Watt aufrechterhalten kann.


Fließband mit Objekten, daneben Arbeiterinnen und Arbeiter in blauen Kitteln - Foto: © 2015 by Schattenblick Drei Objekte vor Projektionsfläche - Foto: © 2015 by Schattenblick

75 Watt - Sinnlos-sinnhafte Fließbandarbeit
Fotos: © 2015 by Schattenblick

Wieviel Watt wohl die Künstler aufrechterhalten mußten, um diese Installation herzustellen? Egal, mein Rotaugenblick wandert weiter. Ein Bildschirm, noch ein Film: Eine Taube, deren Darm gentechnisch veränderte Bakterien enthalten könnte und dann Seife ausscheiden würde, wenn man das Projekt realisierte.Pigeon d'Or nennt sich das Kunstobjekt. Der Biochemiker James Chappell hat die Bakterien gezüchtet. Den BioBrick mit dem Gen-Code gibt es als Ausdruck gratis zum Mitnehmen. Parfümierte "Scheife" gibt es aber noch nicht. Verfüttern des Bakteriums ist verboten.


Bildschirm mit Taube, die gespiegelt wird - Foto: © 2015 by Schattenblick Bogen Papier, zur Hälfte beschrieben mit genetischem Buchstabencode für Bakterien - Foto: © 2015 by Schattenblick

links: Tauben im Spiegel der Kunst
rechts: Von Code zu Kot - Bakterien zum Selberbauen
Fotos: © 2015 by Schattenblick

Daneben ein zweiter Bildschirm. Ein anderer Film, Kingyo Kingdom, spielt in Japan. Markt, Grundlinge bewegen sich geschäftig hin und her. Schnitt. Grundlinge schauen auf ein Becken hinunter, in dem ein dschonniwinter schwimmt. Ach nein, er ist weder ein Albino noch ist er steril. Das "Objekt" ist ein Ranchu und so wie wir insgesamt 45 für die Kunst produzierten dschonniwinter einzig zu dem Zweck aus dem Ei entlassen, um von oben betrachtet zu werden. Seine eingeschränkt wirkenden Bewegungen werden mit einem Kimono assoziiert. Hätte er verschieden große Augen wie ich, würde er vermutlich weggeworfen.

So ein wertloses Leben sage ich zu mir, und kaum zu Ende gedacht wird mir ganz kalt ums kalte Herz, da ja der Ranchu in dem Film eigentlich mein Bruder ist. Auch dschonniwinter will leben, freut sich immer, wenn ein Grundling von oben Futter ins Becken streut.

Gehe weiter auf Wanderschaft in der weißen Jenseitshöhle, um mehr über mich und die Welt zu erfahren. "Die Ausstellung reflektiert unser Zeitalter der industrialisierten Prozesse und standardisierten Produktionstechnologien. Revital Cohen und Tuur van Balen übersetzen die Automatisierung von Produktion und Handel - sowohl von Lebewesen als auch von Handelswaren - in performative Installationen, provokative Objekte und subtil ästhetisierte Dokumentarfilme," lese ich und bin erstaunt, daß die Grundlinge so viel wert auf die Reflektion ihres Daseins legen.

Die Künstler wollen ihre Kunst nicht als Kritik an den unsäglichen Produktionsbedingungen verstanden wissen, sondern diese nur spiegeln. Verständlicherweise, denke ich bei mir, würde doch eine konsequent betriebene Kritik an den Produktionsbedingungen auch vor jener Kunst nicht haltmachen, die unter eben diesen Bedingungen entsteht und von ihnen abhängig ist - zumindest wenn sie sich erfolgreich vermarkten will.


Ranchu in Waschschüssel, drumherum Grundlinge, die Nummernkärtchen über den Beckenrand halten - Foto: © 2015 by Schattenblick

Wovon träumen Ranchu?
Foto: © 2015 by Schattenblick

Eines Tages kommen zwei Grundlinge in die Ausstellung, die inzwischen deutlich weniger besucht wird als zu Beginn, und stellen Fragen: Ist die Maschine wissenschaftlich so begutachtet, daß damit tatsächlich Fische aus befruchteten Eiern gezüchtet werden können oder handelt es sich eher um eine künstlerische Präsentation von Wissenschaft? Antwort: Es soll technisch möglich sein, diese Fische herzustellen, aber man wird es nie erfahren, weil die Maschine im Standby-Modus bleibt. Frage: Bei dem von Ihnen gezogenen Vergleich der sterilen Fische mit vermehrungsunfähigem Saatgut fällt auf, daß das Saatgut steril gemacht wurde, damit die Landwirte es jedes Jahr von neuem kaufen müssen. Gilt das auch für die Fische? Antwort: Nein, die Fische sind jedenfalls momentan nicht verkäuflich. Das ist ein reines Kunstprojekt, um Analogien aufzuzeigen. Frage: Es wird mit solchen Fischen keine spezielle Albinoforschung betrieben? Antwort: Nein, diese Züchtung ist einmalig, das wird der Professor auch nicht weiter betreiben.

Einer der beiden Grundlinge nähert sich meiner gläsernen Höhle und ruft aus: Der hat ja zwei verschieden große Augen! Erschrocken lasse ich eine Luftblase aus meinem Maul entweichen und ziehe unauffällig meine Kreise. Auch die anderen dschonniwinter tun so, als sei nichts geschehen. Der Darüberhinausblick soll unser Geheimnis bleiben.

Geschafft! Die beiden Grundlinge trollen sich, reden unentwegt weiter. Frage: Besteht eine Verbindung zwischen der Maschine und dem Exponat 75 Watt? Ja, die Verbindung ist, daß es die Möglichkeit gibt, etwas am Fließband zu produzieren. Sei es ein Objekt, das sinnlos ist, seien es Tiere. Daß der Mensch in der Lage ist, heutzutage alles zu produzieren und egal, welche Wünsche er hat, diese Wünsche in irgendeiner Form zu erfüllen. Wünsche sind standardisierbar.

Der Redefluß versiegt nach und nach. Die beiden Grundlinge verabschieden sich. Ich schwimme im Kreis und weiß: Erst im Auge des Betrachters werde ich zur Performance, zum Ausdruck von Gegenwartskunst, zur contemporary art ...


Stellwand mit Ausstellungsplakat vor dem Eingang der Schering Stiftung - Foto: © 2015 by Schattenblick

Zum Futter empor - dschonniwinter im Gleichfluß
Foto: © 2015 by Schattenblick

Revital Cohen & Tuur van Balen
"Assemble | Standard | Minimal"
Kurator: Jens Hauser
Ausstellungsdauer: 23. Januar - 3. Mai 2015
Schering Stiftung
Unter den Linden 32 - 34
10117 Berlin
Öffnungszeiten: täglich (außer dienstags und sonntags) 12 - 19 Uhr
Eintritt frei

Ein Projekt der Schering Stiftung in Kooperation mit The Arts Catalyst und transmediale 2015 CAPTURE ALL, unterstützt von der Daiwa Foundation und KiiCS-Projekt im FP7-Programm der Europäischen Kommission.

5. April 2015


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