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BERICHT/050: Die Physik des Wartens - mit doppeltem Boden ... (SB)


Die Physik des Wartens
Warten - Zwischen Macht und Möglichkeit

Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle


Es gibt eine Vielzahl immer gegenwärtiger Phänomene, denen wir kaum Beachtung schenken, die jedoch einen sehr großen Einfluss auf unser Leben haben. Ein konkretes Beispiel wäre die Gravitationskraft, die uns ununterbrochen mit 9,81 m/s2 in Richtung der Erde beschleunigt. Obwohl sich hinter dieser Grundkraft des Universums eine unfassbare Fülle von Zusammenhängen und Wechselwirkungen verbirgt und wir in jedem Moment unseres Lebens mit ihr konfrontiert sind, ist sie in unserem Alltagsbewusstsein kaum vorhanden. Ihre Existenz wird für uns nur dann relevant, wenn wir die Zutaten für einen leckeren Kuchen abwiegen wollen oder beim Schlittschuhlaufen auf den Hintern fallen. Genauso verhält es sich mit dem Warten. Allgegenwärtig ist auch das Warten, denn wir warten immer auf irgendetwas. Sei es auf den Bus, auf einen Arzt, auf Weihnachten oder auf die Erleuchtung. Es begleitet uns auf Schritt und Tritt und während es das tut, fungiert das Warten als Katalysator für eine Vielzahl gesellschaftlicher Komplexe. Die Macht des Phänomens wird dennoch erst dann deutlich, wenn die Kollision mit der Weigerung zu Warten unausweichlich wird. So massiv, dass man sich nicht mehr entziehen kann. Dies geschieht etwa, wenn der Zeitraum des Wartens eine bestimmte Halbwertzeit überschreitet und Gefühle von Langeweile, Wut oder Verzweiflung entstehen.

Seit dem 17. Februar versucht die Hamburger Kunsthalle mit der Ausstellung "Warten - zwischen Macht und Möglichkeit" ein Bewusstsein für das Warten zu schaffen und das Phänomen sichtbar zu machen. In Kooperation mit dem Abaton- und dem Metropolis-Kino, dem Warburg-Haus, sowie vielen anderen kulturellen Einrichtungen aus Hamburg, wird die Ausstellung von einem weit gefächerten Rahmenprogramm aus Filmvorführungen, Performances, Lesungen und Künstlerdiskussionen begleitet und ergänzt. Die Dokumentation dieser bis zum 18. Juni wachsenden Ausstellung kann unter www.warten-kunsthalle.de nachvollzogen werden.

Das Hauptaugenmerk soll dabei auf dem Diskurs der gesellschaftlichen Ungleichheiten liegen, die man anhand des Wartens deutlich erleben und erforschen kann. Die gesellschaftliche Stellung einer Person beeinflusst maßgeblich das Ausmaß und die Verhältnisse, unter denen ein Mensch auf Zuwendung, Einreise, Versorgung oder andere elementare Dinge zu warten hat. Besonders klar ist dieser Zusammenhang in der Fotoreihe "Beyond Caring" des englischen Künstlers Paul Graham zu erkennen. Auf den im Jahr 1984 entstandenen Bildern zeigt er seine Sicht auf das aktuelle Großbritannien durch Aufnahmen der Wartesäle in englischen Sozial- und Arbeitsämtern. Dabei gelingt es ihm, die beklemmende Atmosphäre der schmucklosen Räume und die Hoffnungslosigkeit der wartenden Personen sehr eindrucksvoll zu dokumentieren. Hier wird deutlich, wie gering die Wertschätzung für die Lebenszeit der Wartenden selbst an den untersten Schaltstellen der Macht ist.


Menschen im tristen Wartesaal, auf dem Fußboden vor der vordersten Reihe Müll und Glasscherben - © Courtesy of the artist and carlier | gebauer

Paul Graham (*1956)
Waiting Room, Highgate DHSS, North London, 1984
Aus der Serie Beyond Caring
Fotografie, 87 x 104 cm
© Courtesy of the artist and carlier | gebauer

Die Bilder von Graham bleiben jedoch leider die einprägsamsten Dokumente im bildhaften Diskurs über das Warten als Werkzeug der Macht. Obwohl sich auch andere Künstler mit der Thematik beschäftigen - so zum Beispiel die Reihe "Land ohne Eltern" der deutschen Künstlerin Andrea Diefenbach, in der sie die Lebensumstände von Moldawischen Arbeitermigranten dokumentierte, bleibt die gesamte Ausstellung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner stecken. Der Konsens lautet: Wer arm ist, muss viel warten - und das ist doch ein bisschen zu wenig. Es ist schade, dass die Ausstellung hier nicht deutlich offensiver in Konfrontation mit den aktuellen Gesellschaftsstrukturen und dem Eigenanteil der Besucher geht.

Dennoch sind einige interessante Werke zu sehen, die in ihrer eigenen Weise wirken, sofern man sie unabhängig vom Leitfaden der Ausstellung betrachten mag. Besonders der Titel "Bushaltestellen, Armenien" von Ursula Schulz-Dornburg ist eine handwerklich hervorragend gestaltete Fotoreihe: Die wartenden Personen scheinen hier mit der abstrakten, postmodernen Architektur der mitten im Nichts stehenden Bushaltestellen zu verschmelzen. Der Kontrast zwischen Umgebung, Bauwerk und Wartenden ist dabei so geschickt konzipiert, dass sich ein Besuch allein für diese Reihe lohnt.


Frau und Kind stehen unter einem gußeisernen, verzierten Tor mitten im steinigen Ödland - © Ursula Schulz-Dornburg

Ursula Schulz-Dornburg (*1938)
Erevan-Parakar, 2004
Aus der Serie Bushaltestellen, Armenien
Fotografie, Barytabzug, 30 x 40 cm
© Ursula Schulz-Dornburg

Auch die diversen subtilen und unkommentierten Installationen sind geschickt eingesetzt, das Warten auf vielschichtige Weise zu pointieren. So etwa die Aufnahme eines Künstler-Ateliers bei Nacht in der nichts zu passieren scheint, bis nach einigen Minuten eine kleine Maus durch das Bild huscht, oder eine Endlosschleife von sich drehenden Daumen die man leicht übersieht und die aufgrund ihrer Beiläufigkeit zum Schmunzeln anregt. Dem gegenüber stehen jedoch auch Werke wie die Skulptur "The Wait". Hier sitzt die Puppe eines Jungen auf einem Baugerüst, unter ihm liegt ein Paar Converse Schuhe, neben ihm steht eine Coca-Cola Dose. Es hätte wohl auch niemanden gewundert, wenn der Künstler die Skulptur mit den Worten "Amerikanischer Turbo Kapitalismus" betitelt hätte, so plakativ und klischeehaft und gleichzeitig so nichtssagend wirkt die Symbolik.


Puppe eines Jungen auf einem Baugerüst, unter ihm ein Paar Converse Schuhe, neben ihm eine Coca-Cola Dose - © Foto: Anders Sune Berg

© Foto: Anders Sune Berg

Es ist ein mutiges Unterfangen, sich abseits ausgetretener Pfade zu bewegen und dem Warten eine groß angelegte Ausstellung zu widmen. Obwohl es mit dem Eröffnungsinventar noch nicht gelungen ist, den Diskurs über die Machtfrage des Wartens unausweichlich zu machen, bleibt zu hoffen, dass diese Wirkung durch die diversen Veranstaltungen der folgenden Monate erzielt wird. Es wäre zu wünschen, dass die Künstler in ihren Performances und Diskussionen verstärkt die Chance nutzen und die Konfrontation suchen. Mindestens jedoch hat die Hamburger Kunsthalle es mit "Warten - zwischen Macht und Möglichkeit" geschafft, eine Ausstellung zu konzipieren, die den Besucher zum Nachdenken anregt und zeigt, wie wenig selbstverständlich ein so alltägliches Phänomen bei näherer Betrachtung ist.

Die Ausstellung ist noch bis zum 18. Juni 2017 in der Hamburger Kunsthalle zu sehen.

24. Februar 2017


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