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BERICHT/055: documenta, Fragen und Kritik - Untiefen rechts ... (2) (SB)


Jugoslawien-Nostalgie sei nicht im Spiel, erklärt die Künstlerin Irena Haiduk zu ihrem Projekt, in Jugoslawien entwickelte Gesundheitsschuhe und dazu passende Kleider auf Kassels Straßen zu präsentieren. Die obere Etage der Neuen Neuen Galerie wird neben einer Cafeteria von einem Verkaufsraum und einem Laufsteg belegt, deren Hochglanzästhetik sich in nichts von den Showrooms der Modeindustrie unterscheiden. Die von Haiduk gegründete Firma Yugoexport ist dem im Niedergang Jugoslawiens untergegangenen Textilhersteller und Waffenexporteur YugoExport nachempfunden. Sie vertreibt ein damals entwickeltes Schuhmodell, dessen ergonomische Form Arbeiterinnen ein größeres Durchhaltevermögen bei stehenden Beschäftigungen verleihen soll.

Haiduks an beiden documenta-Orten Athen und Kassel präsentierte Arbeiten kreisen um ein Arbeitsregime, das an der Unterwerfung der Frauen unter das Diktat der Lohnarbeit nichts auszusetzen hat, sondern es durch ästhetische Formalisierung unterstützt. So dienen die in Kassel verkauften Schuhe angeblich einer besseren Trennung von Arbeit und Freizeit, als könne das Ablegen der Arbeitskleidung aus schwarzen hochgeschnürten Schuhen und uniform geschnittenem Kleid etwas gegen die Durchdringung der digitalisierten Lebenswelt mit Verwertungsimperativen aller Art ausrichten. Tragen die Models in der "Armee der schönen Frauen" bei ihren regemäßig stattfindenden Paraden auch noch ein Buch auf dem Kopf, das sie zu gemessenem Schreiten mit besonders geradem Rücken zwingt, dann nimmt Haiduks "Spinal Discipline" den gänzlich unironischen Ausdruck einer Zwangs- und Erziehungsmaßnahme an.



d14 Irena Haiduk Spinal Discipline Performance Neue Neue Galerie - © Mathias Voelzke

Spazier-Performance "Spinal Discipline" von Irena Haiduk
Foto: © 2017 by Mathias Voelzke

Dem durch Straßenperformances besonders sichtbaren und in den Medien häufig vorgestellten Projekt mangelt es an jedwedem Einwand gegen eine Arbeitsgesellschaft, deren Hauptzweck, den Mehrwert des eingesetzten Kapitals durch Kommodifizierung von allem und jedem zu marktgängigen Objekten zu steigern, hier durch die glamouröse Reinszenierung einer längst begrabenen Arbeitskultur warenästhetisch legitimiert wird. Haiduk hätte anläßlich ihrer Referenz auf das Modell der Arbeiterselbstverwaltung auch die Frage danach stellen können, was vom jugoslawischen Sozialismus sinnvollerweise hätte gerettet und verbessert werden können. Mehr als das rückstandslose Verheizen seines ästhetischen Fundus scheint jedoch nicht möglich zu sein, und so bleibt als sinnstiftendes Kondensat lediglich die Optimierung weiblicher Arbeitswelten.


Bildschirm, Zuschauerin und Fotowand - Foto: © 2017 by Schattenblick

Videodokumentation der Demonstration "Kein 10. Opfer" in Kassel am 6. Mai 2006 von Sefa Defterli
Foto: © 2017 by Schattenblick

NSU-Komplex auf der documenta 14

Auf nicht minder konkrete, dafür aber streitbarere Weise präsentieren mehrere Initiativen das Ergebnis einer neueren Untersuchung des 2006 vom Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) in Kassel vollzogenen Mordes an Halit Yozgat auf der documenta 14. Es war der neunte Fall jener rassistisch motivierten Mordserie, die sich hauptsächlich gegen migrantische Kleinunternehmer richtete, über die seit über vier Jahren am Münchner Oberlandesgericht verhandelt wird. In der Neuen Neuen Galerie präsentiert die Kasseler Gesellschaft der Freund_innen von Halit die Beiträge mehrere Initiativen, die gegen den Versuch der Bundesanwaltschaft anarbeiten, den aus zehn Morden, mehreren Mordversuchen, zwei angeklagten Sprengstoffanschlägen, einem weiteren mutmaßlich vom NSU begangenen Anschlag sowie 15 Bank- und Raubüberfällen bestehenden Tatenkomplex auf die drei bekannten NSU-Mitglieder zu beschränken. So hat die staatliche Anklagebehörde während des gesamten Prozesses und im aktuellen Schlußplädoyer die Strategie verfolgt, die Urheberschaft des NSU auf seine verstorbenen Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt wie die einzige Überlebende, Beate Zschäpe sowie vier als Unterstützer mitangeklagte Personen zu beschränken. Die zahlreichen Indizien für eine passive oder gar aktive Beteiligung staatlicher Stellen sowie der Existenz einer umfassenden, an allen Tatorten präsenten Szene von Unterstützern oder weiteren NSU-Mitgliedern werden entschieden ausgeblendet.

Da es an Belegen dafür, daß die von 1999 bis 2007 währende Anschlagserie von sehr viel mehr Tatbeteiligten zu verantworten ist als den in München angeklagten Personen, nicht mangelt, wirft die Argumentation der Bundesanwaltschaft weit mehr Fragen auf, als in dem Verfahren beantwortet werden. Die Anwesenheit des hessischen Verfassungsschutzbeamten Andreas Temme in dem von Halit Yozgat betriebenen Internetcafé zum Zeitpunkt von dessen Ermordung ist bei weitem nicht der einzige Grund, die Rolle des Staates im NSU-Komplex zu hinterfragen. Neben der umfangreichen Vernichtung ermittlungsrelevanter Akten, der Obstruktion von Ermittlungen durch übergeordnete staatliche Stellen, der Präsenz von Informanten und V-Leuten der Landesverfassungsschutzämter in der Unterstützerszene wie in der Nähe von Tatorten und diversen unaufgeklärten Widersprüchen in den Tathergängen wie bei dem angeblichen Suizid von Mundlos und Böhnhardt 2011 liegt die besondere Bedeutung dieser Tat jedoch darin, daß die Rolle des Staates aufgrund der Anwesenheit Temmes, der Versuche staatlicher Stellen, die gegen ihn gerichteten Ermittlungen zu behindern, der widersprüchlichen Aussagen bei seinen Vernehmungen und der sich aus seinem abgehörten Telefonverkehr ergebenden Verdachtsmomente auf besonders anrüchige Weise hervortritt.

Dem entspricht etwa Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier, 2006 als Innenminister für den Landesverfassungsschutz zuständig, dadurch, daß er auch heute noch beteuert, korrekt gehandelt zu haben, als er die Vernehmung von V-Leuten des Geheimdienstes durch die Polizei nach dem Mord verhinderte, obwohl ein rechtsradikaler V-Mann von Temme geführt wurde. Mit diesem sprach der Agent eine Stunde vor der Ermordung Halit Yozgats und traf sich zudem drei Tage später in Kassel mit ihm. Diese Gespräche fielen den Ermittlern erst nach dem Bekanntwerden der Taten des NSU fünf Jahre später auf, Temme hatte sie ihnen ebenso verschwiegen wie die Telefongespräche, die er an eben den Tagen im Jahr 2005 mit seinem V-Mann führte, als die Morde des NSU in Nürnberg und München begangen wurden. In beiden Fällen hielt sich Temmes V-Mann zum Zeitpunkt der Taten in den jeweiligen Städten auf. Der hessische Verfassungsschutz hat derweil einen Untersuchungsbericht, der Hinweise auf die Verbindungen hessischer Neonazis zum NSU enthält, für 120 Jahre unter Geheimhaltung gestellt.


Diagramme mit Silhouetten von Köpfen des Publikums - Foto: 2017 by Schattenblick

Präsentation des Videos "77sqm_9:26min" in der Neuen Neuen Galerie
Foto: 2017 by Schattenblick

Akribische Intervention durch Forensic Architecture

Kernstück der dem Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006 gewidmeten Ausstellung in der Neuen Neuen Galerie ist die vom Tribunal "NSU-Komplex auflösen" in Auftrag gegebene aufwendige und minutiöse Untersuchung des Tathergangs durch die an der Londoner Goldsmiths University angesiedelte Forschergruppe Forensic Architecture. Im März 2017 errichteten mehrere Aktivistinnen und Aktivisten das maßstabsgerechte Modell der Innenräume des Internetcafés im Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW). Sie untersuchten den Tathergang anhand der Aussagen anwesender Zeugen und eines von der Polizei am Originalschauplatz angefertigten Videos, in dem Temme vorführt, wie er sich im fraglichen Zeitraum verhalten haben will.

Das Ergebnis der Untersuchung ist auf der documenta 14 anhand eines Videos [1] zu sehen, das dem untersuchten Zeitraum von 9 Minuten 26 Sekunden auf den 77 Quadratmetern des Tatortes mit dem Titel "77sqm_9:26min" Rechnung trägt. Das nach allen Regeln forensischer Wissenschaft ausgeführte, mit Hilfe äußerer Experten für Gebäudeakustik, Schußwaffen und des Nachweises von Pulverdampf zustandegekommene Reenactment der Situation hatte vor allem die Frage zum Gegenstand, wie glaubwürdig Temmes Aussage ist, nichts von der Mordtat mitbekommen zu haben. Diese Aussage wird anhand dreier in Frage kommender Szenarios überzeugend widerlegt [2], doch wurde die Untersuchung im Münchner Prozeß nicht mehr als Beweismaterial zugelassen.

In der Neuen Neuen Galerie ist der Raum, in dem das Video von Forensic Architecture zu sehen ist, stets gut gefüllt. Geteilt in drei separate Screens, auf denen die Chronik des Tathergangs oder die jeweiligen Untersuchungen der Lautstärke des Schusses, der Verbreitung des Pulverdampfes und Temmes Sichtwinkel auf die Leiche Yozgats von Zeitgraphen, Diagrammen und anderen Informationen komplettiert werden, erfährt das Publikum hier etwas, das in krassem Widerspruch zur Einstellung der Ermittlungen gegen den weiterhin im Staatsdienst befindlichen Temme steht. Was das mit Kunst zu tun habe, könnte sich mancher fragen, der künstlerisches Schaffen eher im abstrakt Verfremdeten oder gegenständlich Gebrochenen ansiedelt. Anläßlich der Eröffnung der Installation zum NSU-Komplex auf der documenta 14, bei der auch Ayse Gülec für die Gesellschaft der Freund_innen von Halit und die wissenschaftliche Leiterin von Forensic Architecture, Christina Varvia, zugegen waren, erklärte der Begründer der Forschungsgruppe und langjährige Verfechter einer Dekolonisierung der Architektur, der israelische Architekt Eyal Weizman, Forensic Architecture verfolge ein anderes Konzept von Kunst. Dabei gehe es nicht darum, wie so oft in der Kunst die Vorstellung von Wahrheit zu problematisieren, die Komplexität von Narrativen hervorzuheben und das Zweifeln zum Ziel der Kunst zu machen. Er bevorzuge eine Kunst, die dem Zweifel entgegentritt und ästhetische Techniken zur Befragung der Wirklichkeit einsetzt [3].


Szenerien an der Holländischen Straße - Fotos: © 2017 by Schattenblick Szenerien an der Holländischen Straße - Fotos: © 2017 by Schattenblick Szenerien an der Holländischen Straße - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Nordhessische Tristesse
Fotos: © 2017 by Schattenblick

Für Ayse Gülec ist wichtig, daß die Erkenntnisse von Forensic Architecture, auch wenn sie nicht in den Prozeß einfließen, damit eine breitere Öffentlichkeit erreichen: "Die Schüsse waren nicht zu überhören. Jetzt hören wir sie hier in der Ausstellung. Und damit sind wir alle Zeugen geworden. Und es ist sozusagen nicht nur eine Frage des Prozesses, etwas zu klären oder etwas einzufordern, sondern wir als Gesellschaft - wir - sind alle betroffen davon. Und wir müssen diese Fragen weiter stellen und darauf drängen, dass wir diese Frage beantwortet haben möchten" [4]. Diese auf der documenta 14 erzeugte Zeugenschaft, die sich durch die Anklageschrift des NSU-Tribunals [5] wirksam vertiefen läßt, ist gerade jetzt, da es zum Abschluß des Münchner Mammutprozesses kommt, nicht nur dafür bedeutsam, daß das Interesse an der Aufklärung der NSU-Mordserie nicht erlahmt. In einer Zeit, in der der Fortbestand bürgerlicher Grundrechte massiv bedroht ist, die Menschen durch Konkurrenzdruck, Entfremdung und Armut systematisch isoliert und atomisiert werden, in der die Rechte marschiert und die Linke für überholt erklärt wird, ist die aktive Erkenntnis der Widersprüchlichkeit herrschender Verhältnisse die Mindestvoraussetzung für die Formierung sozialen Widerstandes und gesellschaftlicher Gegenmacht.

Wo sich Kunst an der Wirklichkeit bricht, indem sie unerwünschte Einsichten ermöglicht oder die Menschen auf eine Weise anrührt, die mehr mit ihnen zu tun hat als jegliche Form verlangter Zustimmung und suggerierter Affirmation, kommt ihr eine genuine Aufgabe zu, die sich durch Agitation und Propaganda, durch Aufklärung und Mobilisierung nicht ersetzen läßt. Ein so schwieriges Vorhaben wie das der gesellschaftlichen Überwindung rassistischer Gewalt ist durch wohlmeinende Appelle allein nicht zu leisten. Die bereits bei der Aufklärung von Kriegsverbrechen in Syrien, im Irak und Palästina, aber auch dem Ökozid an den Urwäldern und Orang-Utans Indonesiens verwendete Methode von Forensic Architecture bedient sich eines notwendig erweiterten Kunstbegriffes, der zum Beispiel in die gebaute Umwelt eingelassene Gewaltverhältnisse sichtbar oder die technologische Übermacht moderner Waffen greifbar machen kann. Er setzt ein aktives Interesse daran voraus, die Suggestionen zu durchdringen und einer mitunter höchst unangenehmen Wirklichkeit auf die Spur zu kommen. Dies kann denn auch eine Subjektivität freisetzen, die nicht ohne weiteres von den Agenturen programmatischer Irreführung wieder einzufangen ist.


Gedenkstein für Halit Yozgat am Halitplatz - Foto: © 2017 by Schattenblick Gedenkstein für Halit Yozgat am Halitplatz - Foto: © 2017 by Schattenblick Gedenkstein für Halit Yozgat am Halitplatz - Foto: © 2017 by Schattenblick

Orte des Gedenkens und des Aufbruchs
Foto: © 2017 by Schattenblick

Seit 11 Jahren unaufgeklärt und unabgeschlossen

Eine auf der documenta-Karte nicht vorgesehene, aber nach dem Besuch des Alten Hauptpostamtes naheliegende Route führt weiter in die Nordstadt. Vorbei an einer typischen Armutsökonomie mit Pfandleihern, Ein-Euro-Shops und Second-Hand-Läden geht es etwa 1500 Meter die Holländische Straße hinauf bis zu dem nach dem Mordopfer benannten Halitplatz. Ein kleiner Gedenkstein gegenüber der Straßenbahnhaltestelle erinnert an das NSU-Opfer, dessen Tod die Angehörigen schon kurz nach der Tat 2006 einer rassistischen Mordserie zuordneten. Unter dem Motto "Kein 10. Opfer!" demonstrierten sie am 6. Mai 2006 auch gegen die Ignoranz der Behörden, die von einem in rechtsradikaler Ideologie verankerten Motiv nichts wissen wollten und die Mordserie unter dem seinerseits rassistischen Titel "Döner-Morde" abhefteten. Es sollte noch über fünf Jahre, bis zum spektakulären Ende von Mundlos und Böhnhardt in Eisenach am 4. November 2011, dauern, bis sich auch die staatlichen Ermittlungsbehörden bequemten, einen rechtsterroristischen Hintergrund der Taten anzunehmen.


Häuserzeile an der Holländischen Straße - Foto: © 2017 by Schattenblick

Der Ort des Geschehens 11 Jahre später
Foto: © 2017 by Schattenblick

Steht man schließlich vor dem ehemaligen Internetcafé, in dem sich heute eine Bar befindet, und vernimmt von Nachbarn, daß dort mitunter von ihrer Aufmachung her als Neonazis zu erkennende Personen für Erinnerungsfotos posieren, dann wundert es schon, daß die jüngere Vergangenheit dieses Ortes im Straßenbild unsichtbar ist. Diese Geschichte ist längst nicht ausgestanden, wie Ismail Yozgat im Frühjahr bei einer Gedenkveranstaltung erklärte. Der Vater Halits, der seinen Sohn als erster tot auffand, sagte, er werde das abschließende Urteil im NSU-Prozeß nicht akzeptieren, wenn die Ermittlungen nicht auf die Verstrickung der Verfassungsschutzämter in den Tod seines Sohnes ausgeweitet werden. Daß deren Agent Temme ihn entweder getötet habe oder seinen Mördern begegnet sei, steht für ihn fest.

Direkt nebenan hat der vegane Imbiß Zum glücklichen Bergschweinchen aufgemacht. Das namensgebende Tier gibt es nicht, wird aber laut der Inhaberin in Millionen von Jahren das letzte Säugetier der Erde sein. So entlegen diese unblutige Vision ist, viel phantastischer als der Glaube an die Gerechtigkeit eines von einflußreichen Interessen dominierten Rechtstaates wirkt sie nicht.


Fußnoten:

[1] https://vimeo.com/220840144

[2] http://www.forensic-architecture.org/wp-content/uploads/2017/06/77sqm_9.26min_Report_2017.07.18.pdf

[3] https://news.artnet.com/exhibitions/documenta-14-kassel-forensic-nsu-trial-984701

[4 ] http://www.deutschlandfunkkultur.de/documenta-projekt-ueber-nsu-morde-die-gesellschaft-muss.1013.de.html?dram:article_id=388263

[5] http://www.nsu-tribunal.de/wp-content/uploads/2017/05/NSU-Tribunal_Anklageschrift.pdf


27. Juli 2017


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