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INTERVIEW/017: Fluchträume und Grenzen - Seife, Schaum und abgewaschen (SB)


Werner Seppmann zur dOCUMENTA (13)  



Interview am 1. September 2012 in Kassel  

Der Autor, Soziologe und Sozialphilosoph Dr. Werner Seppmann gehört dem Vorstand der Marx-Engels-Stiftung an, die am 1. September 2012 anläßlich der dOCUMENTA (13) eine Tagung in Kassel abhielt. Auf ihr wurden der Charakter zeitgenössischer Kunst und Kunstproduktion wie das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft kritisch hinterfragt. Besondere Aufmerksamkeit kam der Untersuchung der ästhetischen Moderne in Hinsicht auf ihre ideologische Bedeutung für spätimperialistische Gesellschaften zu. Aus dieser Veranstaltung sollen, wie Seppmann, der zu den Referenten der Tagung zählte, ankündigte, eine Publikation mit den erweiterten Fassungen der dort gehaltenen Vorträge und eine von ihm verfaßte Monographie unter dem Titel "Rettet die Kultur! Wider eine Kunst der Anpassung" hervorgehen. Darin will sich der Kultursoziologe mit den Mechanismen ästhetischer Formierung und der daraus resultierenden intellektuellen Anpassung beschäftigen. Nach Abschluß der Tagung beantwortete Werner Seppmann dem Schattenblick einige Fragen.    

Im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Werner Seppmann
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Bei der Analyse von Kunst wird viel Wert gelegt auf die Metapher des Raumes, man spricht in den Kulturwissenschaften auch von einem "Spatial Turn". So werden meinem Verständnis nach Letztbegründungen geschaffen, die nicht mehr reflektiert werden und keinen Zugang zu irgendeiner Form von Handlungsfähigkeit ermöglichen. Wie beurteilst du diese Dominanz des Raumbegriffs?

Werner Seppmann: Diese Art der Metaphorik ist meistens inhaltsleer. Wenn auf einer Ausstellung in den 50er und 60er Jahren zum Beispiel Norbert Krickes gebogene Eisenstangen zu sehen waren - die nicht dekorativ waren und inhaltlich nichts bedeuteten -, dann hat der Schreiber für den Katalog-Kommentar in seiner Verzweiflung zur Formulierung "Diese Skulptur besticht durch ihre Wirkung im Raum" gegriffen. Da fragt man sich natürlich, wo sie wohl sonst wirken könnte.

Ich habe jetzt anläßlich der Beschäftigung mit der Documenta zu meiner Überraschung festgestellt, daß auch rein oberflächlichen Rückgriffe auf naturwissenschaftliche Metaphern bei der ästhetischen Moderne insgesamt eine große Rolle spielen. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse waren zwar bei der Entwicklung der Künste von großer Bedeutung. Die Renaissancekunst ist ohne den naturwissenschaftlichen Fortschritt undenkbar. So hat die (mathematisch abgesicherte) Entdeckung der Zentralperspektive den Künstlern eine ganz neue Welt eröffnet. Da dokumentiert sich eine wichtige Funktion von naturwissenschaftlich-mathematischer Erkenntnis für die Malerei und überhaupt für die Bildenden Künste, aber der heutige Flirt mit der Mathematik, wie er auch auf der Documenta praktiziert wurde, besitzt meiner Ansicht nach eher metaphorischen Charakter.

SB: Auf der dOCUMENTA (13) waren multimediale Installationen und sogenannte crossmediale Projekte sehr präsent. Insgesamt wird stark auf audiovisuelle Medien gesetzt. Wie beurteilst du diese Entwicklung?

WS: Kunst kann sich aller Mittel, ja muß sich sogar aller zur Verfügung stehenden Materialien und Darstellungsmodi bedienen. Die Frage ist nur, ob damit adäquat umgegangen wird, ob Form und Inhalt in einem produktiven Spannungsverhältnis zueinander gesetzt sind. Wenn wir uns heute gerade die Verwendung sogenannter neuer Medien anschauen, dann wird nicht ersichtlich, daß damit inhaltlich im künstlerischen Sinne kaum etwas sinnvolles geschaffen wird. Das war auch schon beim Siegeszug der sogenannten Videokunst der Fall: Selten wurden mehr als verwackelte Bilder oder "spektakuläre" Szenen (schreiende und kreischende Menschen etwa) präsentiert, die in keinen nachvollziehbaren Kontext angesiedelt waren.

 SB: In der Kunstkritik wird häufig mit modischen Sprachtrends gearbeitet. So findet das Bild des Netzes geradezu inflationäre Anwendung, oder man benutzt Naturmetaphern wie "Rhizom", das ursprünglich aus der Botanik stammt. Wie bewertest du diese Entwicklung für die Kunstkritik?

 WS: Die Kunstkritik ist ja keine Kunstkritik mehr. Je inhaltloser die Kunst geworden ist, umso größer und bedeutsamer wurde die Rolle der Kunstkritik. Wenn auf den Bildern nichts mehr zu sehen ist, was man intersubjektiv vermitteln kann, dann schlägt natürlich die große Stunde der Kunstkritik, die diese Leerstelle füllen muß.

Man könnte an vielen Beispielen auf der Documenta zeigen, daß die Interpretationen nichts mehr mit den präsentierten Werken zu tun haben und die Zuschreibungen oft willkürliche Wortspielereien sind. Von einem Schrotthaufen wurde beispielsweise im Documenta-Katalog gesagt, daß bei seiner Errichtung, "auf die Schaffung jeder ästhetischen Form ... zugunsten einer amorphen dramatischen Masse verzichtet wurde, die als Grundlage einer zweideutigen Erscheinung dient, einer instabilen Erfahrung, die zwischen Dauer und Vergänglichkeit, zwischen etwas und nichts oszilliert." Gut zu wissen, kann man da nur sagen!

Auch wurde ein Keramikteller eines türkischen Künstlers gezeigt, der mit Strichen unterteilt ist. Im Kommentar heißt es dazu, hier würden Raum und Zeit segmentiert. Aber das kann ich zum Beispiel über jeden banalen Zollstock sagen.

Das ist ganz typisch für die Verfahrensweise einer Kunstkritik, die es durchgängig mit ästhetischen Hervorbringungen zu tun hat, die nicht aus sich selbst heraus sprechen. Es werden heute Dinge im Museum präsentiert, die ohne Zuschreibungen überhaupt nichts mehr bedeuten. Die Badewanne, die im Museum steht, ist einfach eine Badewanne und nichts anderes, und die vielen Betonteile, die heute bei einer Moderne-Ausstellung die Museumsräume füllen, sind eben auch nur reine Betonteile. Wenn sie nicht im Museum wären, würde man nicht einmal die Idee haben, daß es sich um ästhetisch motivierte Hervorbringungen handelt. Diese Besonderheit entsteht nur durch die museale Präsentation in Kombination mit den willkürlichen Zuschreibungen. Wenn man sich das genauer anschaut, werden immer die gleichen Begriffe verwendet. Sie werden hin und her geschoben, immer mal wieder ausgetauscht, jedoch eine Inhaltlichkeit ist dadurch kaum zu gewinnen oder zu erarbeiten.

SB: Auf der anderen Seite unterwerfen sich viele Kunstprojekte einer gewissen Zweckdienlichkeit. Zum Beispiel werden heute gerne ökologische Anliegen artikuliert, etwa auf der Ausstellung "zur Nachahmung empfohlen!" [1] im letzten Jahr, so daß das Kunstwerk eine Art Doppelnutzen bekommt. Bei manchen Exponaten politischer Kunst oder solcher, die diesen Anspruch erhebt, fragt man sich am Schluß: Worin besteht der Unterschied zur ganz normalen politischen Manifestation oder Botschaft?

WS: Ja, das ist das Problem. Oft handelt es sich um den krampfhaften Versuch, um jeden Preis etwas Neues zu machen (denn die Novität ist das Überlebensprinzip des ästhetischen Modernismus). Weil neo-avantgardistische Kunst oft inhaltsleer ist, ist man auf eine sogenannte Innovation der Form angewiesen. Dann wird am grünen Tisch oder in der Vorstellung des Künstlers etwas konstruiert, das sich von dem schon Gegebenen unterscheiden muß.

So entstehen dann solche Beispiele postmoderner Kunst, wo auf den Toaster bunte Birnen geschraubt werden oder neben drei Winkeleisen eine Glasflasche gestellt wird. Solche Dinge präsentieren sich unendlich variabel. Aber wirklich ernst nehmen kann man sie nicht, wenn man einen reflektierten Kunstbegriff hat.

Die Hinweise auf die reklamierte Problematik (beispielsweise die Ökologiefrage) haben meist nur einen "symbolischen" Charakter, etwa durch die museale Präsentation von Giftfässern oder die Schaustellung von Tierexkrementen in Glasbehältnissen.

 SB: Könnte dies auch daran liegen, daß Künstler meinen, nicht mehr ohne Botschaft auskommen zu können?

 WS: Vielen dieser ästhetischen Nichtigkeiten sieht man schon auf den ersten Blick an, daß sich ihre Schöpfer den jeweiligen Trends verpflichtet haben. Was sie präsentieren ist oft nichts anderes als eine Manifestation künstlerischer Selbstaufgabe. Inhaltlich bedeuten diese Hervorbringungen nichts.

Jede gelungene Kunst hat dagegen einen gestalteten Inhalt und eine Botschaft. Die klassische Stilleben-Malerei will zum Beispiel auf die Vergänglichkeit der menschlichen Existenz hinweisen. Die Symbolik innerhalb des modernistischen Feldes hat jedoch eine andere Funktion. Dort wird die Aussage der Kunst oft auf eine abstrakte politische oder gesellschaftliche Botschaft reduziert. Das kann dazu führen, daß sich die Kunst nicht mehr von einer politischen Parole oder einem politischen Flugblatt unterscheidet.

So wurde während einer "künstlerischen" Straßenaktion ein Arbeitsloser in einen Müllcontainer gestellt um zu demonstrieren, daß die Erwerbslosen wie Abfall behandelt werden. Bei anderer Gelegenheit wurde das mit seinen armseligen Utensilien beladene Fahrrad eines Obdachlosen museal präsentiert.

Es dominierte also eine Vorgehensweise, wie sie auch innerhalb der Medienwelt an der Tagesordnung ist: Die Aufmerksamkeit wird auf etwas "spektakuläres", aber auch isoliertes, oft auch zufälliges konzentriert, Zusammenhänge werden nicht heraus gearbeitet, nur ein naturalistisches "Abbild" präsentiert.

Die Frage ist natürlich: Können solche "Installationen" die Menschen wirklich ansprechen und ergreifen? Wenn wir das oft Präsentierte mit dem politischen Plakat "Hunger" von Käthe Kollwitz vergleichen, wird die Differenz zwischen einer gestaltenden Kunst und einer ästhetisierenden Aktivität, die bloß auf etwas verweist, deutlich.

SB: Du hattest in deinem Vortrag auf die Disqualifizierung von Künstlern wie Georg Grosz, Lovis Corinth, Renato Guttuso und Käthe Kollwitz auf der zweiten Documenta hingewiesen. Gibt es hinsichtlich dieser Kunst mit ihrem häufig ausdruckstarken zeitkritischen Bezug eine Kontinuität der Mißachtung?

WS: Mit vielen Ausnahmen, die man sich konkret anschauen müßte, hat die Documenta seit ihren Anfängen immer eine Kunst der Belanglosigkeit in den Vordergrund geschoben. Es ist eine rein subjektivistische Kunst gewesen. Gerade die abstrakte Kunst, die sehr große Qualitätsunterschiede aufweist, zeichnet sich dadurch aus, daß sie den ungefilterten Subjektivismus des Künstlers dokumentiert. Weltabgewandtheit und subjektivistische Selbstgenügsamkeit reichen sich die Hand.

Der Künstler mag sich bei seinem Schaffensakt etwas gedacht haben, aber seine Intention ist nicht objektivierbar und intersubjektiv vermittelbar. Dann kommt natürlich die große Stunde der Kunstinterpretation. Seitdem die Kunst subjektivistisch geworden ist, hat sie sich zu einem florierenden Gewerbezweig entwickelt. Der Kunstkritiker spricht für die sprachlos gewordene Kunst.

Ich will damit nicht sagen, daß sie komplett inhaltsleer ist. Abstrakte Kunst, die nur mit schwarzen Farben bzw. starken Akzentuierungen arbeitet - das wissen wir aus der Farbpsychologie -, spricht andere Tiefenschichten der Menschen an, als es helle Farben tun. Diese schwarze Töne verstärken zum Beispiel vorhandene Resignation, während man Kunst, die mit roten Farben arbeitet, wie es die russischen Konstruktivisten gemacht haben, auch schon als eine Art politische Botschaft erleben kann, aber wirklich objektivieren läßt sich das nicht. Hinzu kommt, daß die meisten der abstrakten Künstler nicht mit lebensbejahenden Farben arbeiten. Sie bedienen sich vielmehr, wie man in der Fachterminologie sagt, einer repressiven Allegorik. Kunstpsychologisch betrachtet sprechen sie repressive Bewußtseinsschichten an.

Im Interview - Foto: © 2012 by Schattenblick

Werner Seppmann mit SB-Redakteur
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Du hast in deinem Vortrag über Kunst als historisches Gedächtnis der Menschheit gesprochen und auf die Gefahr hingewiesen, daß diese Art von künstlerischer Entwicklung eine Art allgemeiner Amnesie fördern könnte. Könntest du dazu noch etwas sagen?

WS: Zunächst einmal will ich ein Lob für den kulturbürokratischen Komplex in der Bundesrepublik aussprechen. Es gibt eine fast unübersehbare Museumslandschaft und viele Häuser, in denen große traditionelle oder auch frühmodernistische Kunst gezeigt wird, aber die wirkungsvollsten Ausstellungsaktivitäten drehen sich um das relativ kleine Segment des weltlosen Modernismus. Daraus entsteht die Bereitschaft, auf Kosten dieses Modernismus die historische Kunst zurückzudrängen. Es gibt eine ganze Reihe von Beispielen, wo Mittelalter-Abteilungen weggeräumt wurden und dann Joseph Beuys seine obligatorischen Steinquader oder Filzplatten ausgebreitet hat. Erfahrungsgemäß werden die alten Bestände nie mehr rekonstruiert. Da besitzt diese Art des Modernismus einen raumgreifenden Anspruch und eine kulturell zerstörerische Wirkung.

Wir können sogar als Faustformel sagen: Je ausdrucksloser das Kunstwerk ist, umso größer wird es heute gestaltet. Im Extremfall, wie eben auch hier auf der Documenta, führt das dazu, daß ganze Räume leer bleiben und dann ein Luftzug erzeugt wird. Übrigens ist das überhaupt keine originelle Idee. Es zeigt nur, wie gering das historische Gedächtnis der Autoren ist, die heute professionell über Kunst schreiben. Vor vier, fünf Jahren habe ich in Basel eine ähnliche Installation gesehen. Dort ist ein polnischer Künstler mit der Erarbeitung einer Ausstellung betraut worden. Auch er hat die Räume leer gelassen. Zwar hat er keinen Luftzug inszeniert, dafür aber in die Wände der frisch renovierten Kunsthalle Löcher stemmen lassen. Schon in den 50er Jahren hat Yves Klein eine Pariser Galerie mit weißer Farbe anstreichen lassen und diese Renovierung der Galerie dann als seine Ausstellung und Kunstaktion deklariert.

Obwohl die Moderne davon lebt, daß man permanent etwas Neues macht, sehen wir schon an diesen wenigen Beispielen - und das ist eines ihrer Hauptprobleme -, daß sie sich mittlerweile nur noch selbst zitiert. Wir haben auch hier in Kassel, gerade bei ansprechenden Kunstwerken erlebt, daß es doch nur Zitate des schon dutzendmal Gesehenen waren.

SB: Noch eine Frage an dich als Autor: Die deutsche Sprache befindet sich im Wandel, unter anderem weil sie unter dem Einfluß technikinduzierter Begriffe größtenteils anglizistischer Art steht, wodurch der Satzbau und der Sprachkorpus Veränderungen unterworfen sind. Gibt es deiner Meinung nach Hinweise auf einen Niedergang der Sprache?

WS: Wir können einen Verlust der sprachlichen Artikulationsfähigkeit feststellen, und zwar nicht erst seit es Computer gibt. Das hat sich in einem enormen Maße verstärkt, seitdem der Computer eine alltagstaugliche Maschine geworden ist. Es gibt neue Untersuchungen von Neurobiologen, denen zufolge bei Sechs- bis Achtjährigen, die einen Computer zur Verfügung gestellt bekommen, bereits nach vier Monaten die Denk- und sprachlichen Artikulationsfähigkeiten im Verhältnis zur Vergleichsgruppe ohne Computer deutlich abnehmen. Ich würde das nicht aus der Technik ableiten, aber die Technik unterstützt gesellschaftliche Entwicklungen.

Reduzierte Artikulationsfähigkeit hat in der Hauptsache damit zu tun, daß die Eltern nicht mehr mit ihren Kindern sprechen. Einschlägige Untersuchungen zeigen, daß sich die Redezeit innerhalb von Familien mittlerweile auf wenige Minuten reduziert. Die Kinder flüchten dann in diese technische Apparatur, die eben nicht der Ausbildung der sprachlichen Artikulationsfähigkeit förderlich ist, sondern tatsächlich zu Regressionsprozessen führt, auch hinsichtlich der sprachlichen Kompetenz und Fantasieentwicklung und so weiter.

SB: Du bist als Kritiker der Postmoderne bekannt. Wie bewertest du die spezifische Entwicklung des Jargons der Kulturwissenschaften?

WS: Der postmoderne Jargon war auch auf der Documenta allgegenwärtig. Auch wenn die Ausstellungsmanagerin die symbolischen Begriffe des Postmodernismus vermieden hat, hat sie in seinem Geiste gesprochen. Die Behauptung, daß Mensch und Hund im Prinzip gleichrangig wären, nennt man in der postmodernen Terminologie eine posthumanistische Denkweise.

SB: Ist es richtig, daß du an einer Kritik der Philosophie Foucaults arbeitest?

WS: Ja. Es ist ein Thema, das mich schon seit Jahren begleitet, aber ich hoffe, daß Ende nächsten Jahres endlich das schon lange angekündigte Buch "Strategien der Wissenschaftszerstörung" erscheint.

Darin beschäftige ich mich nach entsprechenden Vorstudien schwerpunktmäßig mit Michel Foucault und Jacques Derrida. Das Bezeichnende an der geistigen Situation unserer Zeit ist, daß beide, ihres Zeichen letztlich Zerstörer von Vernunft und Rationalität, als kritische Denker gehandelt werden, obwohl sie im Kern ihrer Systeme jeden Ansatz des kritischen Denkens konterkarieren. Die Grundformel bei Derrida lautet, daß ein Signifikant nicht durch ein Signifikat bestimmt ist, was einfach nur bedeutet, daß das Denken, der Diskurs, die Lektüre von Texten ein eigener Kosmos ist, der mit keiner objektiven Realität korrespondiert. Das ist ein Rückfall selbst hinter die Großmeister des subjektiven Idealismus.

Bei Foucault, der als Kritiker von Machtverhältnissen gehandelt wird, besteht die Crux darin, daß er einen von Nietzsche herkommenden Machtbegriff hat, der so universal ist, daß der Mensch den Machtverstrickungen nicht entkommen kann: Macht legt sich wie ein Mehltau über alle Verhältnisse. Wenn ich aber den Macht-Verhältnissen nicht entkommen kann, dann kann ich sie auch nicht kritisieren. Ich kann auch den Regen nicht kritisieren, sondern mich nur über ihn beklagen. Wenn man das in einen etwas populäreren Begriff kleidet, kann man sagen, es ist eine Haltung des Fatalismus. Es bleibt natürlich erklärungsbedürftig, warum Foucault trotzdem Furore macht. So wie er diese Machtproblematik thematisiert hat, fühlen sich viele Menschen angesprochen, die sich selbst als ohnmächtig erleben. Aber durch die Art und Weise, wie diese Sache von Foucault problematisiert wurde, wird dieser Fatalismus letztlich nur bestätigt.

Die Documenta-Managerin ist ja durch etliche bizarre Bemerkungen aufgefallen. Beispielsweise hat sie von der Gleichheit von Frauen und Hunden gesprochen, und das Wahlrecht für Bienen gefordert. Sie sei von einer "nichtlogozentristischen Vision" angetrieben, ergänzte sie erläuternd.

Man muß konzedieren, daß Frau Christov-Bakargiev zweifellos ungeschickter und ungeschützter als die meisten der diskursphilosophischen "Großmeister" argumentiert. Dennoch sollte nicht übersehen werden, daß der von ihr demonstrierte Obskurantismus zum Repertoire des Dekonstruktivismus und anderer Spielarten des "Postmodernen Denkens" gehört: Die theoretischen Wortführer und Stichwort-Fabrikanten nennen es "Dezentrierung des Subjekt" und "Überwindung des Logozentrismus" oder "Posthumanistische Perspektive", wenn sie nicht sogar explizit die Rehabilitierung des Vorrationalen oder des "Wahnsinns" (so wie das bei Foucault der Fall ist) fordern.

Die neuen Erzählungen von den Hunden und den Bienen als den Menschen ebenbürtigen "Subjekten" können Raum greifen, nachdem der Postmodernismus Vernunft und Humanismus destruiert, die theoretischen Voraussetzungen kritischer Selbstreflexion und intersubjektiver Wissensüberprüfung als anmaßend denunziert hat.

Letztlich hat Thomas J. Richter das Problem auf den Punkt gebracht: "Da sie eine Vertreterin der bürgerlichen Hochkultur ist, heißt das: Die ist am Ende" (Th. J. Richter): Esoterik wird zum Symbol der zivilisatorischen und kulturellen Selbstauflösung der bürgerlichen Welt.

SB: Werner, vielen Dank für das Gespräch.

Fußnote:
[1] http://www.schattenblick.de/infopool/kunst/report/kurb0002.html    

Sitzecke mit Bildern und Musikinstrument - Foto: © 2012 by Schattenblick

Veranstaltungsort Café Buch-Oase - Der Name ist Programm Foto: © 2012 by Schattenblick

4. Oktober 2012