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INTERVIEW/019: Fluchträume und Grenzen - Frau noch nicht frei (SB)


Heike Friauf über unabgegoltene Ziele des Feminismus

Interview am 1. September 2012 in Kassel



In ihrem Vortrag auf einer Tagung der Marx-Engels-Stiftung anläßlich der dOCUMENTA (13) in Kassel [1] ging die Kultursoziologin Heike Friauf ausführlich auf die Herausforderungen und Widersprüche ein, vor die sich Frauen im Kunstbetrieb gestellt sehen. Im Anschluß daran beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen zur grundsätzlichen Problematik einer feministischen Bewegung, deren emanzipatorische Ideale drohen, unter dem Primat des Genderdiskurses und einer marktförmig gewendeten Gleichstellungsforderung in Vergessenheit zu geraten.

Im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Heike Friauf
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Der Begriff Feminismus ist im Grunde genommen von der Gendertheorie abgelöst worden. Was findest du ist an der längst in den Mainstream-Diskurs eingezogenen Gendertheorie kritikwürdig?

Heike Friauf: Teile der öffentlichen Gender-Debatte wie auch der Theoriearbeit haben sich sehr weit vom emanzipatorischen Ursprung entfernt. Der Feminismus war ursprünglich eine Widerstands- bzw. soziale Bewegung, die aus konkreten politischen Not- oder Ungerechtigkeitssituationen entstanden ist. Als sich der Begriff Gender durchzusetzen begann, konnte man in Publikationen und akademischen, aber auch öffentlichen Diskussionen eine Abkehr von dieser ursprünglichen politischen Bewegung feststellen. Inzwischen sind sich viele Beobachterinnen einig, dass eine Akademisierung stattgefunden hat: von der konkreten sozialen Frage nach den Geschlechterverhältnissen hin zu theoretischen Fragen von Diversity, Intersektionalität und wie die Konzepte alle heißen. Damit ist der Feminismus als soziale und politische Bewegung quasi entsorgt worden. Das ist jetzt etwas vereinfacht formuliert, aber im Grunde gibt das meine Hauptkritik an der Gender-Debatte wieder.

Ich habe keine Berührungsprobleme mit den verschiedenen Gender- Konzepten. Darum geht es auch gar nicht. Ich halte die Debatte für absolut legitim und notwendig. Daß wir nicht nur zwei Geschlechter haben, sondern eine Vielfalt, die immer schon existiert hat, muß endlich eingestanden und in eine öffentliche Debatte hineingetragen werden. Daß in den Ungleichheitsanalysen immer verschiedene Faktoren miteinander verknüpft werden müssen, also neben dem Geschlecht auch die Ethnie und die Klassenzugehörigkeit zu gewichten sind, ist selbstverständlich. In diesen und anderen Fragen gehe ich mit dem Gender-Diskurs natürlich konform. Ich finde es jedoch hochproblematisch, daß diese notwendige Debatte benutzt wird, um die ursprüngliche soziale und politische Emanzipationsbewegung nicht weiter erwähnen zu müssen. Wir tun dann so, als wären wir schon weiter, als wir sind.

Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Geschlechterforschungsstellen an den Universitäten, eine natürlich sehr positive Folge der Akademisierung. Die Gender-Professuren, die fast ausschließlich von Frauen besetzt sind und die dazu beitragen, daß endlich mehr Frauen höhere Stellen an den Universitäten einnehmen konnten, konkurrieren heute mit anderen Stellen und auch untereinander um die Drittmittel. Wir sind in einer Situation, in der die Hochschulen umstrukturiert und die Gelder knapper werden. In einer solchen Situation müssen einzelne Frauen gegen andere Frauen agieren. In der Konsequenz führen die Kürzungen, die Kämpfe um Drittmittel, diese elenden Exzellenzinitiativen, die verschärfte Konkurrenz also zu einer Entsolidarisierung. Das muß man alles mitbedenken. Die gesamte feministische Bewegung ist dabei quasi unter den Tisch gefallen, sie gilt als hoffnungslos veraltet, völlig unsexy. Jetzt geht es darum: Wer hat die schicksten Konzepte? Wer bewegt sich an der Spitze der internationalen Forschung? Wer findet den nächsten Leitbegriff für die Genderdebatte oder springt wenigstens rechtzeitig auf einen neu anfahrenden Debattenzug auf, um Fördergelder einzuwerben?

In dieser Situation habe ich natürlich Schwierigkeiten zu erklären, warum ich an einem eher traditionellen Feminismusbegriff festhalte.

Meiner Meinung nach gibt es auf diesem Feld sehr viel Augenwischerei. Manchmal geht es nur um Posten und Pfründe, die man festhalten will. Das verstehe ich auch. Wenn eine Frau es nach einem langen Weg geschafft hat, endlich im akademischen Feld Fuß zu fassen, will sie sich das nicht madig machen lassen. Aber ich kann die akademische Genderdebatte nicht als alleinseligmachende begriffliche Lösung der fundamentalen Geschlechterungerechtigkeit akzeptieren. Auch das politische Konzept des Gender Mainstreaming ist keine Lösung für die Ungleichbehandlung der Geschlechter. Dieses Gender Mainstreaming hat zwar viel verwaltungstechnischen Wirbel verursacht und auch etliche Frauen in einigermaßen gut bezahlte Positionen gebracht, doch quasi nebenbei die Fragen nach den Gründen für die Ungleichbehandlung der Geschlechter prima unter den Tisch gekehrt. Die Frauenfrage, Ausgangs- und Angelpunkt der ganzen Genderei, kommt hier überhaupt nicht mehr vor. Warum sind es die "Schlecker-Frauen", die nach Hause geschickt werden, während die "Opelaner" Besuch von der Kanzlerin kriegen? Die unterbezahlte teilzeitbeschäftigte Kassiererin bei Lidl, deren vollzeitbeschäftigter Chef mit nahezu 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit ein Mann ist, die lacht sich doch kaputt, wenn ihr einer was von Gender Mainstreaming erzählt.

Daher habe ich mir angewöhnt, den nicht mehr populären Begriff des Patriarchats wieder zu verwenden. Ich halte es weiterhin für notwendig, auf die weiterbestehenden patriarchalen Strukturen in unserer Gesellschaft hinzuweisen. Wenn man einen Begriff entsorgt, dann entsorgt man damit auch die dahinterstehenden Gedanken, die den tatsächlichen Gegebenheiten wie zum Beispiel der Geschlechterungleichgewichtung entstammen. Wenn ich "Patriarchat" nicht mehr sagen darf, weil ich mich damit altmodisch ausdrücke - und so ist das ja leider in der Gender-Debatte -, dann darf ich nicht mehr auf eine wesentliche Ungleichverteilung hinweisen, die sich auf Machtverhältnisse gründet. Deswegen bestehe ich auf diesem Begriff und arbeite damit.

SB: In der identitätspolitischen Debatte wird die Auflösung der Geschlechtervorstellung präferiert, die, wenn man die Idee des Konstrukts ernst nimmt, zur Folge haben müßte, daß es in letzter Konsequenz so viele Geschlechter wie Menschen gibt. Woher kommt es deiner Meinung nach, daß sich die Menschen selbstreflektiv mit ihren Identitäten beschäftigen, während es den Eindruck macht, daß materielle Herrschaftsverhältnisse auch zwischen den Geschlechtern nicht mehr in gleichem Ausmaß thematisiert werden?

HF: Ein Grund ist die Vermischung der Ebenen. Die eine ist die persönliche Ebene, auf der ich mich selber entwickle und herausfinde, welchem Geschlecht ich angehöre oder zugeordnet werde und welche Probleme sich daraus für mich ergeben. Auf dieser identitätspolitischen Ebene haben wir tatsächlich viele Fortschritte erreicht. Unsere Gesellschaft wirkt heute offener und toleranter gegenüber individuellen geschlechtlichen Orientierungen als etwa die direkte Nachkriegsgesellschaft. Die andere ist die strukturelle Ebene, die ich als Patriarchat bezeichne. Ich behaupte nicht, daß einzelne Frauen von einzelnen Männern unterdrückt sind. Das wäre Quatsch, denn mitunter ist es genau umgekehrt. Außerdem gibt es auch einzelne Frauen, die in dieser Gesellschaft durchaus in machtvollen Positionen sind. Damit wären wir aber wieder auf der rein persönlichen Ebene. Mit patriarchalen Strukturen meine ich, daß durch die äußere Geschlechtszugehörigkeit, die das einzelne Individuum gar nicht immer mitvollziehen muß - ein äußerlich als Frau erscheinender Mensch muß sich zum Beispiel nicht unbedingt als Frau fühlen -, von vornherein und ohne jedes eigene Verschulden ungleiche Chancen in dieser Gesellschaft gegeben sind. Die Überbetonung der individuellen Fortschritte lenkt wunderbar davon ab, dass sich in den Geschlechterverhältnissen substantiell kaum etwas geändert hat.

Ich halte es für einen Gewinn, daß wir darüber sprechen können und den einzelnen Menschen jetzt viel mehr ermöglichen, zu ihrer eigenen sexuellen Identität zu finden. Das Problem ist: Solange das in unserem kapitalistischen Wirtschaftssystem stattfindet, ist dies für ein Individuum fast unmöglich. Diese Behauptung verlangt natürlich nach einer Begründung. Meines Erachtens ist es für ein Individuum deswegen nahezu unmöglich, tatsächlich eigene Bedürfnisse, die eigene Sexualität und die eigenen Vorlieben festzustellen, da wir permanent von äußeren Anforderungen bombardiert werden. Im Grunde gilt das natürlich in jeder Gesellschaft: Die oder der Einzelne ist immer eingebunden in Normen und Werte der umgebenden sozialen Gruppe. Selbst wenn das Individuum opponiert und der Mehrheitsauffassung einmal nicht folgt, bezieht es sich auf seine Mitmenschen. Im heutigen krisendominierten Kapitalismus verschärft sich diese soziale Notwendigkeit jedoch auf geradezu übermenschliche Weise, und zwar durch den Zwang, sich selbst, die eigene Arbeitsfähigkeit, die eigene "performance", permanent zu optimieren.

Nehmen wir nur das Thema der Schönheitsoperationen. Schönheits-OPs sind in wenigen Jahren zu einem der großen Modethemen in allen Medien geworden; es gehört sozusagen zur Selbstdefinition vieler Frauen - und in England schon zu den Abiturgeschenken! -, sich die Brust vergrößern zu lassen. Wenn ich mich dazu kritisch äußere, lautet der typische Einwand gerade von jüngeren Frauen: Wieso, das ist doch meine freie Entscheidung, wenn ich das machen möchte, wenn ich das schön finde. Doch wenn wir von den Medien, in der Mode und auch in der Kunst ein bestimmtes Schönheitsbild vorgeführt bekommen, wie können wir dann wissen, was unsere eigenen, auch ästhetischen Vorstellungen sind? Wie können wir unsere eigenen geschlechtlichen Vorstellungen zum Beispiel in einer Metropole wie Berlin finden, in der Homosexualität als etwas unglaublich Schickes angesehen wird, während gleichzeitig die Homophobie merklich anwächst? Am Ende kann nur noch die privilegierte Großstadtschickeria ihre Homosexualität frei ausleben. Das ist jetzt etwas polemisch formuliert, aber solche Fragen kommen mir dann immer wieder in den Sinn. Womöglich werden mehr geschlechtsbezogene Operationen oder gar Geschlechtsumwandlungen vorgenommen, als in einer beruhigten, vielleicht sogar egalitären, nicht kommerziell gleichgeschalteten Welt passieren würden.

Heike Friauf - Foto: © 2012 by Schattenblick

Feministische Positionen in der Linken stark machen
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Was wäre deiner Ansicht nach für eine linke Partei oder Organisation erforderlich, um der Argumentation von Frauen, derzufolge sie, wenn sie sich keiner Schönheitsoperation unterziehen, schlechtere Chancen im Berufsleben haben oder im Bekanntenkreis nicht anerkannt werden, entgegenzutreten?

HF: Das ist sehr schwierig, weil in der Linken eine größere Toleranz, um nicht zu sagen eine besondere Aufnahmebereitschaft für die Gender- Debatte herrscht. Es gilt als politisch aufgeschlossen, in der Gender- Debatte mitzusprechen, auch wenn sich daraus eine merkwürdige Abkehr von der tatsächlichen sozialen Lage der Frauen ergibt. Es gilt geradezu als progressiv, gegenüber Andersgeschlechtlichen oder Transsexuellen tolerant zu sein. Unter jüngeren Linken treffe ich sogar auf das Mißverständnis, daß bestimmte sexuelle Vorlieben, die außerhalb des Mainstreams stehen, wie Spielarten von Bondage oder SM, als progressiv-links gelten, nur weil sie in früheren Zeiten von Konservativen oder der Kirche verteufelt wurden. Dabei sind es einfach persönliche sexuelle Vorlieben, keine politischen Statements. Hier werden leicht die Argumentationsebenen verwechselt.

Schönheitsoperationen, die Du ansprichst, gehören ja nicht zur Kernthematik der Gender-Debatte, aber sie sind für Feministinnen traditionell ein heißes Eisen. Während zu meiner Schulzeit in den 1970ern klar war, daß Frauen sich keinem Schönheitsdiktat unterwerfen sollen, gilt es heute als Ausdruck weiblichen Selbstbewußtseins, sich notfalls operativ "schön" zu machen. Diese Umwertung der Werte läßt sich in allen Gesellschaftsfeldern feststellen und hat mit zur Aufweichung, zur Aufsplitterung der feministischen Bewegung beigetragen.

Die Linke steckt da wirklich in einer Misere. Einerseits im Sinne einer offenen Genderdebatte den Toleranzgedanken bzw. den Freiheitsgedanken, der im Grunde hinter dem Wunsch nach individueller Glückserfüllung steckt, hochzuhalten, was jeder Wirtschaftsliberale auch tun würde, also im Zweifel auch den Wunsch einer Frau nach einer körperlichen Korrektur zu unterstützen, und andererseits auf der politischen Ebene ganz präzise zu analysieren, wie weit das einzelne Individuum hier in Verwertungsmechanismen hineingerät. Das gilt für Frauen wie für Männer wie für Angehörige jedweder anderen geschlechtlichen Zuordnung.

Mein Eindruck ist, daß die progressive Linke sich immer wieder von neuem darüber Klarheit verschaffen muß, wo sie frauenpolitisch steht. Nur Frauenrechte ins Parteiprogramm zu schreiben oder schlicht zu behaupten, eine frauenfreundliche Partei zu sein, reicht nie sehr weit, vor allem nicht, wenn die eigene Partei, und da kann man an mehrere denken, weiterhin männerdominiert ist.

Mit Frigga Haug hat die Partei DieLinke ja eine profilierte feministische Soziologin als Beraterin gewonnen. Deren programmatischer Sammelband "Die Vier-in-einem-Perspektive" wurde in der Frauenorganisation der Partei intensiv rezipiert, um dann doch kaum Niederschlag im Parteiprogramm zu finden.

Linke Feministinnen werden mindestens von zwei Seiten angegriffen: Von den eigenen Genossen und Weggefährten, die ihre eigene gesellschaftlich sanktionierte Dominanz nie in Frage gestellt haben oder die davon ausgehen, daß es sich bei der Geschlechterfrage um einen Nebenwiderspruch handelt, der dem Hauptwiderspruch, dem Klassenantagonismus untergeordnet ist und deswegen weniger wichtig sei, allenfalls eine Pflichtübung. Und obendrein von selbstbewußten linken Frauen, die die Gleichberechtigung für im wesentlichen verwirklicht halten und Feministinnen insgeheim als Nörglerinnen und Quertreiberinnen ansehen. Diese Frauen wollen auf keinen Fall mit so etwas wie einem "Opferfeminismus" in Verbindung gebracht werden. Bei diesen und anderen auch in der Linken üblichen Ablehnungsmechanismen wird deutlich, daß es überhaupt keine Klarheit über die Geschlechterverhältnisse bei uns gibt. Hier herrscht eine rein bürgerliche Herangehensweise: Wir haben alle das gleiche Wahlrecht, gehen auf die gleichen Schulen, sind nominell gleichberechtigt, also, Frauen, wenn ihr es jetzt nicht schafft, seid ihr selbst verantwortlich. Wir jedenfalls sind guten Willens, an uns liegt es nicht. Als ob es hier um Schuld oder persönliche Verantwortung ginge! Wie ich schon sagte: Ohne Anerkennung der zutiefst verwurzelten, jahrtausendealten patriarchalen Strukturen kommen wir nicht weiter.

Das ist das eine. Das andere ist, die besondere Benachteiligung, aber auch die besondere Rolle von Frauen im neoliberalen Wirtschaftsregime aufzuzeigen. Als der Vorschlag, mehr Frauen in die DAX-Vorstände zu bekommen, in der Öffentlichkeit debattiert wurde, hat mich das sehr geärgert. Stattdessen hätte man darüber diskutieren müssen, daß in börsennotierten Unternehmen, die im DAX vertreten sind, eine frauenverachtende Wirtschaftspolitik betrieben wird und Frauen reihenweise entlassen werden, wenn es dem Aktienkurs dient. Insofern ist es für mich als Frau nicht erstrebenswert, in DAX-Vorstände einzutreten.

Damit möchte ich nicht der Quotenregelung widersprechen. Es geht gar nicht ohne Quote. Selbst wenn eine Frauenquote in einzelnen Fällen Männer benachteiligen sollte, wäre das nur eine singuläre Benachteiligung gegenüber jahrtausendelanger Benachteiligung des gesamten weiblichen Geschlechts. Eine 40-Prozent-Frauenquote in den Führungsetagen der großen Unternehmen, na, die will ich mal erleben.

SB: Im Zusammenhang mit Frauen in Führungspositionen ist auffällig, daß erfolgreiche Geschäftsfrauen bisweilen maskuline Attribute in Form bestimmter Business-Suits adaptieren und aggressive Verhaltensweisen an den Tag legen. So müßte bei der Frage nach dem Patriarchat vielleicht gefragt werden, worum es sich dabei genau handelt, wenn man in den Kategorien von männlich und weiblich denkt. Wie könnte man damit anders umgehen als auf der bloßen Ebene der Gleichstellung, die am Ende dazu führt, daß mehr Frauen in die Bundeswehr sollen, was ja eine moderne gesellschaftliche Forderung ist?

HF: Auf diesem Feld wäre die Linke im Vorteil, sofern sie diesen nur nutzen würde. Denn die Machtverhältnisse, die wir als patriarchalisch bezeichnen, äußern sich immer ökonomisch. Die Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse über die Ökonomie führt ganz schnell dazu anzuerkennen, daß Frauen weniger Möglichkeiten haben. Zum Beispiel, wenn sie familienbedingt nicht zu den besser dotierten Jobs kommen. Der berüchtigte Gender-Pay-Gap wird ja auch von der Linken mit Recht immer wieder ins Feld geführt. Der Anpassungsdruck für Frauen, sich männlich zu verhalten, wenn sie in den entsprechenden Jobs sind, ist so groß, weil wir keine egalitäre, gleichgewichtig Männer wie Frauen berücksichtigende Wirtschaft und Kultur haben.

Grundlegend ist jedoch die Geld- und Vermögensverteilung zwischen Männern und Frauen. Wenn man auf einem Papier gegenüberstellt, wieviel ein Mann pro Monat und wieviel weniger eine Frau im selben Zeitraum ausgeben kann, nach verschiedenen Einkommensstufen gliedert, wird klar, warum die wenigen Frauen, die auf den herausgehobenen Positionen sind, sich wie Männer verhalten. Sie wollen, was sie errungen haben, nicht wieder aufgeben. Das ist eine relativ einfache Möglichkeit, die geschlechtsbedingte Hierarchie deutlich zu machen. Denn es geht nicht so sehr um die individuellen Machtverhältnisse. Es ist allerdings nicht zu leugnen, daß Frauen Opfer körperlicher Gewalt werden. Dann liest man in den Medien, daß auch Männer geschlagen werden. Das ist natürlich eine grauenvolle Situation, aber rein prozentual sind es immer noch Frauen, die in weitaus größerem Maße körperlicher Gewalt ausgesetzt sind. Aber das ist nur möglich, weil Männer in einer Gesellschaft leben, die ihnen suggeriert, daß sie damit durchkommen und daß sie die Stärkeren und Besseren seien.

Der harte Hintergrund ist tatsächlich, daß Männer größere Autos fahren, um es jetzt einmal ganz primitiv zu sagen, daß sie über die größeren ökonomischen Möglichkeiten verfügen. Das ist ganz einfach aufzuzeigen und gilt weltweit. Ich verstehe daher nicht, warum eine Linke, die sich feministisch nennt, diesen Punkt nicht aufgreift. Das hat nichts mit Neiddebatte zu tun. Vielleicht ist es so ähnlich, wie wenn Feministinnen gesagt wird, ihr seid Spielverderberinnen, verbohrt und verbiestert, wenn ihr euch immer so männerfeindlich äußert. Möglicherweise zensiert sich die Linke jetzt schon selbst, um ja keine Neiddebatte zu führen. Aber es hat nichts mit Neid zu tun, wenn man ein paar ganz brutale Fakten aufzählt.

Beim Interview - Foto: © 2012 by Schattenblick

Im Gespräch mit SB-Redakteur
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: So könnte man in deinem Sinne durchaus sagen, daß das, was der Feminismus in den 70er Jahren unter dem Begriff der Überwindung des Patriarchats gefordert hat, eigentlich eine unabgegoltene Aufgabe ist.

HF: Ja, vollkommen. Das Schlimme ist, daß teilweise so getan wird, als wären die Themen erledigt. Das ist genau das, was ich wieder hervorzuholen versuche, wenn ich an dem Begriff Feminismus festhalte. Es hat sich rein praktisch gesehen tatsächlich einiges geändert. Die Künstlerinnen dürfen jetzt Akademien besuchen. Das galt für Medizinerinnen und andere Fachrichtungen ebenfalls. Rein zahlenmäßig sind Frauen in bestimmten Berufen heute viel stärker vertreten. Aber deswegen haben sie den Männern nicht die ökonomische Vorrangstellung genommen oder auch nur mit ihnen gleichgezogen. Das ist das eine, was man festhalten muß.

Hinzu kommt ein anderes Phänomen, was in der Debatte viel zu wenig beachtet wird, nämlich daß Frauen bereit sind, für das, was sie errungen haben, einen so hohen Preis zu zahlen, wie Männer ihn nie zahlen mußten. Künstlerinnen, um noch einmal die soziale Gruppe zu erwähnen, an der ich gerade arbeite, Künstlerinnen verdingen sich reihenweise für Hungerlöhne oder um irgendwelchen Sparkassen die Wände zu verschönern, ohne daß ihnen hinterher ein einziges Bild abgekauft wird. Das hätte es vor 20, 30 Jahren noch nicht gegeben. Heutzutage ist das ein Zeichen für den Kunstbetrieb insgesamt, denn auch Künstler machen das inzwischen, weil sie unter den gleichen Druck kommen. Aber tatsächlich sind Frauen bereit, sich für die Errungenschaften, die es effektiv gibt und die man anerkennen muß, selbst komplett auszubeuten. Das passiert in anderen Wirtschaftsbereichen auch und trägt mit dazu bei, daß wir in Deutschland eine merkwürdige, geradezu gespenstische soziale Ruhe haben.

Diese Bereitschaft, sich anzupassen und flexibel zu sein, die der Neoliberalismus von uns allen fordert, ist meines Erachtens bei Frauen noch größer als bei Männern. Vielleicht hat das damit zu tun, daß Frauen endlich einen einigermaßen anerkannten Platz in der Gesellschaft bekommen haben. Dadurch sind sie bereit, sich dieser Gesellschaft zu unterwerfen. Das ist jetzt etwas thesenhaft formuliert, aber an dieser These würde ich arbeiten, auch wenn ich linke Politik machen würde.

SB: Es hat sich ja gezeigt, daß sich imperialistische Kriege, die angeblich zur Befreiung von Frauen und Schwulen geführt werden, dahingehend auswirken können, daß den Befreiten der Tod droht. Wie bewertest du die sogenannte Kopftuchdebatte und die Frage der Selbstbestimmung muslimischer Frauen, die unbestritten in einem orthodox-patriarchalischen System leben, während gleichzeitig einige von ihnen beanspruchen, sich aus persönlicher Entscheidung zu verhüllen?

HF: Die Kopftuchdebatte ist ein sehr gutes Beispiel, vor allen Dingen weil sie auf ein bestimmtes Thema begrenzt ist, um diese ambivalente Problematik durchzuspielen. Einerseits ist das Kopftuch natürlich ein Unterwerfungssymbol, das würde ich auf jeden Fall so sehen. Das zeigt sich auch in unserer Kultur. Wir können nicht immer so tun, als wäre das ein islamisches Problem, sondern es ist auch ganz tief in der christlichen Kultur verankert. Jede Krankenschwester, die noch in einer religiös geführten Einrichtung arbeitet, trägt ein Häubchen oder steht in gewisser Weise unter einem Schleier. Auch jede Kellnerin, die ein Häubchen trägt, weil sie in einem Nobelrestaurant kellnert, ist ein Symbol dafür, daß Frauen sich in vielen Berufen wegen ihres Geschlechts zu unterwerfen haben.

Die islamische Kultur ist diejenige, auf die wir uns konzentrieren und einschießen können, weil hier die Frauenfrage auch dazu dient, uns vom Islam zu distanzieren und so ein Feindbild aufrechtzuhalten oder sogar wieder zu stärken. Dabei lenken wir wunderbar von uns selbst ab und von den Unterwerfungsmechanismen, die bei uns etabliert sind und die auch ganz ohne Verschleierung funktionieren. Immer wenn eine Heidi Klum ihre "Mädels" schikaniert und zum Begaffen über den Laufsteg schickt, wird mir übel.

Gleichzeitig muß man natürlich die individuelle Frau respektieren, wenn sie ihren Schleier trägt, eventuell sogar aus eigenen religiösen Gründen. Wir kennen zum Beispiel sehr selbstbewußte Ägypterinnen, die akademisch gebildet sind und dennoch einen Schleier tragen. Da würde ich daran erinnern, daß wir in unserer Kultur vielleicht doch ein paar Errungenschaften haben, auf denen man bestehen kann. Die eine ist die Religionsfreiheit. Ich selber bin sehr religionskritisch, aber ich würde immer die Religionsfreiheit anderer verteidigen. Das ist wie die Meinungsfreiheit, die man verteidigen muß. Wenn jetzt eine einzelne Frau kommt und einen Schleier trägt, bin ich zwar betrübt, weil mich das als Feministin traurig macht. Es ist und bleibt ein Symbol der Unterwerfung, ob sie das selber so empfindet oder nicht. Sie kann die stolzeste Frau der Welt sein, aber sie hätte das für mein Empfinden nicht nötig. Aber ich muß ihre Entscheidung natürlich respektieren, weil sie damit etwas zum Ausdruck bringt, das mit ihrer Religion zu tun hat. Gleichzeitig sehe ich, daß Feministinnen das weiter kritisieren müssen. Beides ist wichtig.

Und noch ein Drittes. Der dritte Punkt berührt einen Teil der Debatte, der mir in Deutschland mitunter fehlt und den ich aus französischen feministischen Publikationen übernommen habe. In Frankreich wird die Schleierdebatte sehr viel aggressiver bis hin zur Kriminalisierung von Frauen geführt, was ich für absolut verwerflich halte. Frauen, die in der Öffentlichkeit einen Ganzkörperschleier tragen, werden plötzlich unter Strafe gestellt, müssen hohe Geldstrafen zahlen. Sie werden damit doppelt unterworfen, erst unter den Schleier und dann unter die kulturellen Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft. Im Ergebnis können sie gar nicht mehr aus dem Haus gehen. Was für ein absurder Akt der Frauenbefreiung! Das ist so absurd wie Dein Beispiel eben: Frauen in Afghanistan werden so intensiv befreit, daß sie mit ihren Kindern, wenn sie nur im falschen Moment übers Feld gehen, als "Kollateralschaden" von Nato-Soldaten umgebracht werden.

Einzelne französische Feministinnen vertreten mit vollem Ernst eine Art Verführungstheorie. Nach dieser Lesart wird das Verhältnis der Geschlechter dadurch austariert, daß die Frau gegenüber dem Mann im Vorteil ist, da sie im Mittelpunkt seiner Wünsche steht. Man muß diese Lesart nicht teilen. Aber sie weist doch darauf hin, daß Frauen, die sich verschleiern, sich dem Spiel von Anziehung und Verführung entziehen - oder entzogen werden. Genau genommen entziehen sie sich auch dem ökonomischen Verwertungsmechanismus, der permanent fitte, attraktive Marktteilnehmer fordert. Das ist jetzt wieder sehr thesenhaft formuliert, aber wir hatten das Thema schon bei den Schönheitsoperationen. Das heißt, die verschleierte Frau ist im Vorteil gegenüber den Frauen, die ihren Körper permanent optimieren müssen, um ansehnlich zu sein und zu zeigen, daß sie arbeitsfähig sind, um es einmal auf einen einfachen Punkt zu bringen. Sie müssen ewig jung und dynamisch bleiben. Das muß eine Frau, die unter dem Schleier, gerade unter dem Ganzkörperschleier läuft, alles nicht tun.

Bei der Kritik der Verschleierung wird eine Auseinandersetzung damit vermieden, daß sich die Frauen unter dem Schleier dem Diktat der körperlichen Dauerpräsenz, des Sich-exhibitionistisch-geben-müssens, um attraktiv zu sein, naturgemäß nicht unterwerfen. Sie fallen da heraus. Es gibt also westliche Frauen, die andere Frauen zwingen wollen, sich permanent zu zeigen. Das ist ein zutiefst verlogener, westlicher, wenn man so will, auch imperialistischer Standpunkt. Da würde ich jede Frau unter dem Schleier in Schutz nehmen, während ich gleichzeitig bedauere, daß sie diesen Schleier trägt. Diese Ambivalenz in der Argumentation finden wir in vielen Fällen, gerade wenn es um Feminismus oder überhaupt um die Geschlechterfrage geht, und die muß man leider aushalten.

SB: Heike, vielen Dank für das Gespräch.

Fußnote:
[1] http://www.schattenblick.de/infopool/kunst/report/kurb0031.html

Blick auf kleinen Turm und aus ihm heraus - Foto: © 2012 by  Schattenblick.    Blick auf kleinen Turm und aus ihm heraus - Foto: © 2012 by  Schattenblick

Mediterrane Atmosphäre im Hof des Veranstaltungsortes Café Buch-Oase
Foto: © 2012 by Schattenblick

16. Oktober 2012