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INTERVIEW/020: Fluchträume und Grenzen - Streiten, denken, Sprachkultur (SB)


Thomas Metscher über emanzipatorische Kunst

Interview am 1. September 2012 in Kassel



Der Literaturwissenschaftler und Philosoph Prof. Dr. Thomas Metscher war einer der drei Vortragenden auf einer Veranstaltung der Marx-Engels-Stiftung, die sich am 1. September in Kassel zum Anlaß der dOCUMENTA (13) kritisch mit zeitgenössischer Kunst und Kunstproduktion auseinandersetzte. In seinem Beitrag zum Thema "Die Künste in Zeiten der Krise" [1] brachte er den Gesamtzusammenhang dessen, was man ästhetische Moderne nennt, in ein begriffliches Raster und entwickelte davon ausgehend Kriterien, die in der Folge auch auf die Documenta anwendbar waren. Nach der Tagung beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.

Portrait - Foto: © 2012 by Schattenblick

Thomas Metscher
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Nach deinen eigenen Worten wärst du an und für sich nie zur Documenta gefahren. Warum nicht?

Thomas Metscher: Weil der Event-Charakter offenkundig ist und ich nicht der Ansicht bin, daß diese Institution mir Durchblicke verschaffen könnte, die eine Reise gelohnt hätten. Ich habe mich natürlich über die Presse vorab darüber informiert, und mir wurde völlig klar, daß die Spanne an Sehenswertem sicher sehr gering ist. Auch die überwältigende Ausgestaltung dieses Ereignisses, die einer großen Inszenierung dessen gleichkommt, was ich im Vortrag Institution Kunst genannt habe, bestätigten mich darin, daß die Kunst in gewisser Weise institutionalisiert wird. In Institutionen dieser Art sollen bestimmte Verhaltensweisen und Normen durchgesetzt werden. Natürlich erfolgt auch eine Selektion in dem Interesse, für das die Institution steht. Das ist das primäre Interesse der ideologischen Reproduktion der gegenwärtigen Verhältnisse. Allerdings können solche Institutionen auch Widerspruchsmomente enthalten, und nach diesen soll man, wenn man schon da ist, meines Erachtens auch suchen.

SB: Was wäre demgegenüber eine emanzipatorische Kunst und welche Forderungen müßte sie erfüllen?

TM: Zuallererst, und das hatte ich auch in meinem Vortrag verdeutlichen wollen, suche ich eine Kunst, die eine gute Kunst ist. Dafür gibt es formale Kriterien, die im Sinne der formalen Bewältigung von Problemen wirklich auf der Höhe der Zeit sind. Daher ist die kompositorische Form für mich ein Grundbegriff, und adäquat dazu geht es natürlich auch um bestimmte Inhalte, die dort vermittelt werden. Sie entsprechen Kriterien einer Emanzipation, wie sie etwa im Marxschen Konzept enthalten sind. Die Kritik der Religion endet im kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein entrechtetes, geknechtetes, verlorenes und verächtliches Wesen ist. Das dient jetzt nur als normativer Horizont, nicht daß die Kunst es verkünden soll, sondern daß sie es in ihren Formen vermittelt. Das kann sie auch als Scheitern darstellen, indem sie menschliche Potentiale sichtbar macht, die ansonsten in einer bestimmten Situation untergehen. Das wäre jetzt ganz grob gesehen ein Schema für emanzipatorische Kunst.

Aber meiner Ansicht nach gibt es auch gute Kunst, die durchaus konservativ ist. Ein Schriftsteller, den ich zu den Ersten des 20. Jahrhunderts zähle, ist Thomas Mann. In seiner Grundhaltung war er letzten Endes ein konservativer Bürger, der aber bestimmte humanistische, ethische Normen vertreten und wie kaum ein zweiter den ideologischen Mechanismus seines Zeitalters durchschaut und auch dargestellt hat, mitsamt der Rolle der Kunst darin. Da durchschreitet man ein sehr weites Feld und muß zwischen emanzipatorischer Kunst und auch guter, authentischer Kunst erst einmal unterscheiden. Zunächst einmal gibt es Kunstwerke, die in ihrer kompositorischen Form den Ansprüchen genügen, die man an zeitgenössische Kunst stellen kann.

SB: Ob eine Kunst emanzipatorisch ist oder nicht, wäre also eine Frage der eigenen Bewertung?

TM: Selbstverständlich. Das hängt natürlich vom eigenen Standpunkt ab. Für einen Rassisten ist Lessings "Nathan der Weise" ein schrecklicher Text. Das sind Kriterien und Normen, die auch der Rezipient an die Kunst heranträgt. Das Emanzipatorische ist eine zweite Ebene. Darüber, ob etwas eine kompositorisch gelungene Form besitzt, kann man sich über die ideologischen Differenzen hinaus wahrscheinlich auch mit Kennern verständigen. Leider Gottes gibt es durchaus Reaktionäre, die trotzdem bedeutende Kunstkenner sind. Aber darüber, was dann emanzipatorisch ist, wird man sich sicher nicht mehr mit ihnen verständigen können. Denn dann beginnen die Differenzen, und gegebenenfalls steht man auf der anderen Seite der Barrikade.

SB: Es gibt viele Formen von Kunst, beispielsweise die klassische Musik, die heute als absolut hochwertig gilt, jedoch in der Ära ihrer Entstehung vielleicht nur in Adelskreisen gehört wurde, so daß viele Zeitgenossen gar nichts von ihr wußten. Müßte man Kunst nicht auch dahingehend bewerten, ob sie von allen Menschen in einer bestimmten Epoche wahrgenommen werden konnte?

TM: Die Kunst ist in ihrer Geschichte immer in Klassenverhältnisse eingebunden worden. Und selbstverständlich war Kunst in der Geschichte der Klassengesellschaften zunächst einmal ein Privileg der herrschenden Aristokratie und später natürlich auch des Bürgertums. So gehört es zu den programmatischen Grundzielen der Arbeiterbewegung, vor allem des Marxismus, aber auch außerhalb des Marxismus, daß man den Gegnern dieses kulturelle Erbe der Menschheit entreißt. Das ist ein wichtiger Grund, warum die Ästhetik des Widerstands für mich einen Grundtext bildet, aber das Programm geht natürlich auf das 19. Jahrhundert zurück mit ihrer Losung, erstürmt die Burgen der Kultur. Das ist unser Boden. Natürlich geht das nicht bei jeder Kunst. Sie muß auch eine Qualität haben, die zu einer neuen Klasse oder einer neuen Gesellschaft paßt. Etwas kann Kunst sein, obwohl sie zunächst einmal in Adelskreisen gepflegt wurde. So sind jedenfalls die italienischen Opern von Mozart zuerst in höfischen Theatern für die engste herrschende Klasse gespielt worden. Die Zauberflöte hingegen gehört eigentlich zum Volkstheater, in das zumindest die Handwerker gingen. Shakespeare war ebenfalls weitgehend Volkstheater. Aber das sind fast schon Ausnahmeerscheinungen. Das meiste war restringiert auf bestimmte herrschende Klassen. Nach dem marxistischen Programm, aber das gilt auch weitgehend für den Frühsozialismus, sollte die Bildung, eigentlich das Eigentum der herrschenden Klasse, auch der neuen Klasse zugänglich gemacht werden.

Portrait in Seitenansicht - Foto: © 2012 by Schattenblick

Kunst in der Widerspruchslage der Klassengesellschaft Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Inwieweit müßte sich eine Kunst der Unterdrückten oder der Arbeiterklasse von der Kunst der herrschenden Klasse unterscheiden?

TM: Das ist eine sehr schwierige Frage, die abstrakt gar nicht zu beantworten ist. Um genaue Qualitätskriterien zu benennen, muß man vielleicht auch historisch zurückgehen. Auch in den unteren Schichten hat es immer so etwas wie Kunst gegeben. Was uns an großen Kunstwerken überliefert ist, war in der Regel eine Sache der herrschenden Klasse. Es gibt aber auch plebejische Traditionen. Das Volk hat immer Kunst gemacht, nur daß das meiste davon verlorengegangen ist. Eine dieser Traditionen ist zum Beispiel der sogenannte Mimos, ein Volkstheater, das aus der Antike stammt und über das Mittelalter ins Shakespearesche Drama eingegangen ist. Dann gab es natürlich auch die Lieder. Sie zu bewahren, war letzten Endes eine der großen Leistungen der so oft gescholtenen Romantik. Auch Herder und Goethe, aber vor allem die Romantiker haben die sogenannten Volkslieder gesammelt, die wirklich von Leuten gesungen wurden. Wenn sie es nicht getan hätten, wären die Volkslieder im Zuge der Industrialisierung, als die Menschen zu Proleten wurden, wohl völlig vergessen worden, als hätten sie nie existiert. Man kann diese Traditionen der plebejischen Kunst von Lenin herrührend auch mit dem Begriff der zweiten Kultur bezeichnen, die dann einen Traditionsstrang der proletarischen Kultur der neuen Klasse bildete.

Auf der zweiten Ebene stehen die hohen und komplexen Werke, die den anderen überlassen waren, aber da sie aus Sicht derer, die diese Programme entfalteten, doch so viel an menschlichen Potentialen und kulturellen Werten enthielten, mußte die neue Klasse sich auch diese aneignen. Das ist die von mir immer wieder zitierte Ästhetik des Widerstands. Das schildert Peter Weiss, als sie in der proletarischen Küche über Kunst sprechen und wie man da angefangen hat, sich die hohe Kunst anzueignen. Gerade am Anfang ist von der bürgerlichen Seite kritisiert worden, daß es so etwas wie eine proletarische Kunst gar nicht gegeben hat, aber das stimmt einfach nicht. Der verstorbene Hans Meier war Kommunist in Bremen und schrieb sehr bedeutende novellistische Erzählungen aus der Zeit der faschistischen Erfahrung. Er war ein Bremer Prolet und ist mit der großen Literatur erst im Knast vertraut geworden. Im sozialdemokratischen Bremen hat man den Gefangenen im Knast durchaus noch Literatur gegeben. Dort hat er unter anderem Hemingway gelesen. Als er später selber schrieb, verwendete er den knappen Stil Hemingways. Das ist nicht von Peter Weiss erfunden worden, sondern war in diesen proletarischen Zusammenhängen durchaus gängig. Natürlich hat Weiss seinen Schreibstil ausgearbeitet und stilisiert, aber das Grundmoment ist Teil der Kultur der Arbeiterklasse. Das darf man nicht unterschätzen.

Aus all diesen Elementen bildet sich jetzt idealiter eine zukünftige proletarische Kultur. Lenin hat in seiner berühmten Rede an die Jugendorganisation der Komsomolzen unterstrichen, daß die proletarisch-sozialistische Kultur sich aus dem Besten der gesamten Geschichte der Menschheit aufbaut. Damit hat er sich gegen die Proletkult-Tendenzen, die sehr stark von Intellektuellen geprägt waren, gewendet, denen zufolge das Bürgerliche erst einmal vollständig beseitigt werden müsse, um etwas Proletarisches hervorzubringen. In dieser programmatischen Rede erklärte er, daß nicht allein die europäische Kunst das Ideal für eine proletarische Kultur stellt, sondern sich aus dem Besten aller menschheitlichen Kulturen zusammensetzt. Das ist der normative Anspruch, der, mag er auch noch so schwer zu erfüllen sein, als Orientierungspunkt aufrechtzuerhalten ist.

SB: Wenn Kultur Geschichte bewahrt, man aber gegenwärtig erlebt, wie eine Verflachung und geradezu Beseitigung der Geschichte stattfindet, muß man da nicht befürchten, daß auch in der Kunst Tendenzen durchgesetzt werden, die Geschichte abzukoppeln?

TM: Ja. Das trifft genau das Thema, das wir heute auf dem Podium diskutiert haben. Werner Seppmann und Thomas Richter haben das zu Recht als Haupttendenz kritisiert. Daß ich heute einen kleinen Einwand dagegen erhoben habe, geschah nur, weil trotzdem noch etwas vorhanden ist, das wir auf keinen Fall verlieren dürfen. Das ist mein Ansatzpunkt. Die Grundtendenz im Verlust des gesamten kulturellen Gedächtnisses ist offensichtlich. Parallel dazu wird alles, was DDR und Sozialismus ausgemacht haben, schlicht und einfach delegitimiert. Gar keine Frage, daß da sehr viel Falsches war, aber nun soll alles wegretuschiert, am besten vergessen werden. Das gilt auch für Bücher, die Marksteine der Literaturwissenschaft sind und die man heute in Antiquariaten zusammensuchen muß. Die Studierenden kennen nicht einmal mehr die Titel. Soviel ist klar: Es ist eine inszenierte Vernichtung des kulturellen Gedächtnisses. Das sind die ideologischen Haupttendenzen, gegen die wir mit wenigen Leuten und unseren unerhört schwachen Mitteln so gut es geht ankämpfen müssen, um es zu bewahren.

Deswegen habe ich Klaus Stein auch zum Teil zugestimmt, daß man selbst in einer solchen Institution wie der Documenta, obwohl man um ihre grundlegende Tendenz weiß, in all dem Verschütteten nach irgend etwas suchen soll, an das man anknüpfen kann. Ernst Bloch hat in diesem Zusammenhang das Wort von der Spurensuche nach Potentialen geprägt. Das ist, wie ich finde, eine richtige Leitorientierung. Wenn man den Leuten von vornherein eintrichtert, daß das alles Schrott ist, dann vereitelt man jeden Kontakt. Die Menschen merken schließlich doch, daß das nicht nur Schrott ist, sondern auch Antifaschistisches enthält. Darum ist diese rigorose Vorgehensweise, so richtig sie in der Grundtendenz auch sein mag, bei bestimmten Dingen falsch und kontraproduktiv. Viele Leute suchen nach dem Verlorengegangenen und behalten es in Erinnerung. Da müssen wir ansetzen und das Bewußtsein dafür erweitern. Das ist, wie mir scheint, ganz wichtig.

Thomas Metscher mit Weinglas in der Hand - Foto: © 2012 by Schattenblick

Auf der Suche nach dem Verlorengegangenen
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Daraus entsteht der Stoff für eine kritische Weiterentwicklung. Denn wenn man Kunst kategorisch in gut und schlecht einteilt und eine bestimmte Kunstrichtung komplett als schlecht beurteilt, dann müßte man die Frage beantworten, was demgegenüber das Gute ist. So läßt sich keine kritische Auseinandersetzung betreiben.

TM: Das ist völlig richtig. Es ist im Grunde auch nicht marxistisch gedacht, denn Marx geht ja gerade davon aus, daß das, was er Ideologie nennt, Widerspruchsfelder sind, die auf dem Kopf stehen. Selbst die Religion enthält eine anthropologische Wahrheit. Ich sage nicht wie die Bürgerlichen, die heute auch in England im puren Atheismus reüssieren, daß dies nur eine Form der Verdummung sei, die man beseitigen müsse. Auch sie enthält eine Wahrheit, die wir aber menschlich einlösen müssen. Die methodische Herangehensweise an solche Phänomene kann natürlich nicht darin bestehen, daß überall und unbedingt etwas Gutes drin sein muß. Das wäre völlig falsch. Denn es gibt Sachen, wo man klar sagen kann, das ist von A bis Z alles Mist. Wie oft sind wir aus Theateraufführungen, die Shakespeare im Grunde auf der Ebene der Documenta inszeniert haben, in der Pause herausgegangen. Da war nichts mehr zu holen, nur noch Verramschung. Das wäre fast gegen die persönliche menschliche Würde gehandelt, dem weiter Aufmerksamkeit zu schenken, indem man bis zum Ende bleibt.

In Salzburg sind wir einmal aus einer Macbeth-Aufführung des berühmten Calixto Bieito, der ein ganz großer internationaler Regisseur ist, herausgegangen. Da wurde auf der Bühne eine Szene dargestellt, in der die Schergen des Macbeth Lady Macduff und ihren Sohn umbringen. Es war eine moderne Aufführung und sie zeigte auf der Bühne wirklich eine Frau, die bügelt. Dann kommt ein Scherge in Shorts ins Zimmer und erwürgt sie letzten Endes mit dem Kabel des Bügeleisens. Aber sie hat nicht ein, sondern vier Kinder, die alle ertränkt werden. Das ist alles zu sehen. Schließlich geht der Scherge zu dieser Frau und fängt an, an ihren Genitalien herumzuspielen. Bei Shakespeare gibt es nur eine ganz kurze Szene, in der die Schergen hereinkommen und sie umbringen. Das war vorher in der Presse zu lesen und wurde auch diskutiert. Bevor er begann, an ihren Genitalien herumzuspielen, sind wir - das ging wirklich ein bißchen zu weit - aufgestanden. Wir saßen, weil in Salzburg alles sehr teuer ist, ganz hinten. Bevor wir hinausgingen, habe ich noch in den Saal gerufen, ihr seid dumm, dumm, dumm. Das ist das Theater einer pathischen - das ist ein Begriff von Adorno, und ich dachte, die Leute verstehen das -, also kranken Gesellschaft. In dem Moment hörten die Schauspieler auf zu spielen. Ich bin dann hinausgegangen, und ungefähr 30 Leute sind mir gefolgt. Nur eine Stimme rief von oben auf gut Berlinerisch: Geh nach Hause, Opa! Das war ein Beispiel aus dem Theater, wo dieser großartige Humanismus von Shakespeare durch die völlig zynische Darstellung von Gewalt auf übelste Weise vermarktet wurde. Und so war auch die ganze Inszenierung. So etwas spielt sich also nicht nur wie jetzt auf der Documenta in der bildenden Kunst ab. Da muß man schlicht sagen, hier ist nichts mehr zu holen. Wenn ich dazu jetzt etwas Kritisches schreibe, muß ich sagen, daß es die Sache des Klassengegners ist.

SB: Könnte, Shakespeare zu verstehen, vielleicht bedeuten, daß ich die Aussage, die er vor langer Zeit gemacht hat, in meiner Lebenswirklichkeit wiederfinde, aber nicht mit irgendeiner völlig abseitigen Übersteigerung, sondern daß ich einen Moment so denke, wie Shakespeare gedacht hat?

TM: Ja. Das Kriterium für wirklich große Kunst besteht ja gerade darin, daß sie über die Jahrhunderte hinweg in unsere Lebenwirklichkeit hineinwirkt. Aber das mußt aus der Kunst herausgeholt werden. Es liegt auf der Hand, daß das bei Shakespeare gegeben ist, aber wie man das macht, ist dem Regisseur überlassen. Als historischer Materialist würde ich es vorziehen, daß man das durchaus in einem historischen Zusammenhang entwickelt und die Aktualität aus der Geschichte in die Gegenwart herüberholt. Es gibt aber auch ganz überzeugende Interpretationen von Shakespeare oder den Mozartopern Don Giovanni, Figaro und Cosi fan tutte. Peter Sellars hat zum Beispiel Mozarts Cosi fan tutte in einem Roadside-Café irgendwo in den USA spielen lassen. Don Giovanni spielt dagegen in der Bronx und Figaros Hochzeit in der Etage eines superreichen Managers. Trotzdem hat er den Geist Mozarts in der musikalischen Darbietung völlig überzeugend herübergebracht.

Es ist eigentlich nicht mein Stil, und wäre ich der Regisseur gewesen, würde ich es so nicht inszenieren, sondern immer aus einer historischen Distanz heraus. Es braucht nicht die Zeit Mozarts zu sein, das ist nicht der Punkt, aber es sollte den Leuten klargemacht werden, daß hier eine historische Distanz zu ihnen spricht. Es muß allerdings nicht so sein, solange es gut gemacht ist und der Geist und auch die Humanität dieser Oper vermittelt werden. Das zeigt sich an der Susanne, die vom Text her ein junges, gutaussehendes Mädchen ist, aber in Sellars Inszenierung eine ältere Frau mit Runzeln darstellt, die äußerlich gar nicht schön ist, und trotzdem hat sie durch ihre Musik und ihre Liebe eine innere Schönheit gewonnen, vor der man nur den Hut ziehen kann. Das ist ein Beispiel dafür, daß etwas wirkt, und dann kannst du es auch in eine Gegenwart überführen, solange du der Humanität Mozarts Rechnung trägst. Wenn es aber jetzt zynisch vermarktet wird, indem man Sexszenen einbaut, dann würde man alles ruinieren, obwohl Sexualität bei Mozart eine große Rolle spielt, aber als Teil einer umfassenden Liebesauffassung.

Seitenansicht auf dem Stuhl sitzend - Foto: © 2012 by Schattenblick

Geist klassischer Kunst in die Gegenwart überführen
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Ließe sich das vielleicht mit einer guten Übersetzung vergleichen, in der man im Original verwendete Bilder beim Übertrag ins Deutsche durch ein anderes Bild beschreibt, das aber dennoch genau das trifft, was in der Originalsprache gemeint ist?

TM: Das ist völlig richtig. Bei fremdsprachigen Texten fängt es schon mit der Übersetzung an, die den Leuten hier verständlich sein muß. Das ist zweifellos ein schweres Unterfangen. Um einmal Shakespeare als Beispiel zu nehmen: Die Texte sind für den heutigen englischen Zuschauer zwar noch verständlich. Es ist nicht wie im Mittelenglischen, das fast schon eine andere Sprache darstellt. Aber die Worte haben sich, sofern ihre Begrifflichkeit nicht verlorengegangen ist, oft in ihrer Bedeutung verschoben. Viele Wortspiele hauen nicht mehr hin, weil sie im viktorianischen Englisch etwas anderes bedeuteten als heutzutage. Man versucht daher, sie bestmöglichst in eine gegenwärtige Sprache zu übertragen. Darin besteht die Kunst der Übersetzung.

SB: Könnte man die Sprache vielleicht sogar als Kernkompetenz der Kunst bezeichnen? Das schließt keine Hierarchie unter den Künsten ein, aber daß parallel mit der Veränderung der Sprache und damit auch der Kunst sehr vieles verlorengeht. So daß der Versuch, eine original englische Sprache durch eine trivialisierte Mittelform in eine original deutsche zu übertragen, beiden Sprachen nicht gerecht wird.

TM: Ja unbedingt. Das ist ja gerade ein Phänomen heutiger Übersetzungen, daß sie teilweise ganz schrecklich sind. Beispielsweise hat der irische Dramatiker John Casey einen Dubliner Dialekt gesprochen. Das ist natürlich eine besondere Schwierigkeit, wenn man keinen äquivalenten Dialekt hat. Aber die bedeutende Literatur ist ja immer eine solche gewesen, die die Sprache gerettet und sogar weiterentwickelt hat. Das wäre ein wesentliches Kriterium für gegenwärtige Schriftsteller. Wie gehen sie mit Sprache um auch angesichts dieses allgemeinen Sprachzerfalls? Diese Probleme hat die bildende Kunst oder Musik nicht. Das ist ein spezifisches Problem der mit Sprache arbeitenden Kunst.

SB: Wird dabei nicht im besonderen deutlich, wie auch das Denken sich verändert oder verlorengeht, wenn bestimmte Dinge nicht mehr gesprochen und damit auch nicht mehr gedacht werden können, sei es in der Kunst oder im Alltag?

TM: Ja, ich sehe das genauso. Ich habe sogar, wenn ich das unbescheiden sagen darf, ein Buch über Logos und Wirklichkeit geschrieben. Darin habe ich in einem sehr ausführlichen Sprachkapitel den Verlust sprachlicher Kompetenz als ganz fundamentalen Kulturverlust, auch als Verlust menschlicher Erkenntnis und des Umgangs mit der Welt dargestellt. Die Sprache ist als kostbares Gut zu bewahren, aber das mißt sich nur daran, daß etwas verlorengeht, nicht an der einfachen Tatsache, daß eine Sprache fremdsprachliche Wörter integriert. Das gab es in der Sprachgeschichte schon immer und stellte auch eine Bereicherung dar. Das Englische ist auch deswegen so reich geworden, weil es das mittelalterliche Englisch mit dem Normannischen in sich aufnahm. Mit der normannischen Eroberung Englands vermischte sich das Mittelenglische mit dem Normannisch-Romanischen. Deswegen gibt es im Englischen viel mehr Ausdrücke und Wörter für eine Sache, die dann bestimmte Aspekte bezeichnen, als im Deutschen. Pig und swine oder pig und pork haben unterschiedliche Bedeutungen. Shakespeare konnte daher auf diesen Reichtum an Sprache in seinen Stücken zurückgreifen, die teilweise gar nicht ins Deutsche übersetzbar sind, weil das Deutsche nicht genügend verschiedene Ausdrücke hat, um das wiederzugeben. Das ist nur ein Beispiel dafür, daß die Verschmelzung mit oder Integration von einer fremden Sprache durchaus auch produktiv sein kann.

SB: Ließe sich das möglicherweise so verstehen, daß damit die Frage, was der andere meint, offenbleibt, statt das Fremde oder Nichtverstehen zugunsten einer übergeordneten scheinbaren Gemeinsamkeit überwinden zu wollen, so daß das Gespräch darüber, was der andere eigentlich sagen will, nicht abbricht?

TM: Ja, das berührt dann auch die Frage unterschiedlicher Sprachgemeinschaften oder sprachlicher Welten. Gerade Sprachkünstler wie Homer, Dante, Shakespeare und Goethe haben immer auf einer gesprochenen Sprache aufgebaut, die sie dann weiterentwickelt haben.

SB: Gab es in der DDR vielleicht eine Sprache, die sich von der westdeutschen unterschied?

TM: Da bin ich ein bißchen überfragt. Allerdings wurden zum Beispiel Hühner in der DDR anders bezeichnet. Teilweise führten sie neue Bezeichnungen ein, aber das war eher marginal und hat keine große Rolle gespielt. Soweit ich dazu die DDR-Literatur heranziehen kann, hat sich die Sprache eher in ideologischer und politischer Hinsicht vom Westen unterschieden. Außerdem darf man nicht vergessen, daß sprachliche Prozesse in der Regel sehr langwierig wirken. Erst in der neueren Zeit kam es vor allem durch die Computersprache zu raschen Veränderungen. Neulich erzählte mir eine Freundin, sie habe mit jemandem geskypt. Skypen? Das hatte ich zuvor noch nie gehört. Nun, sie hat Kinder im pubertierenden Alter, und daher weiß sie, was Skypen bedeutet. Wenn sich eine neue Technologie gesellschaftlich durchsetzt, wird die Sprache plötzlich mit diesen notwendigen oder nicht notwendigen fremden Wörtern aufgeladen. Aber normalerweise sind sprachliche Transformationsprozesse ziemlich langfristig.

SB: Kürzlich fand in Berlin ein Kongreß über Informationstechnologie statt, bei dem es insbesondere um Selbstvermarktung ging. Im Vorfeld war davon die Rede, daß wir den Quellcode der Gesellschaft neu schreiben müssen. Ist das nicht eine furchtbare Deformation des Denkens, daß jemand sagt, wenn wir einfach nur etwas neu programmieren, entstünde eine neue Gesellschaft?

TM: Das ist das Fürchterliche an dieser postmodernen Ideologie, daß alles nur Simulation sei und durch die Programmierung eine neue Gesellschaft geschaffen werden könne. Das ist in bestimmten, wie man heute so schön sagt, Diskursbereichen so weit durchgedrungen, daß es schon zum allgemeinen Bewußtsein gehört. Für mich kommt das einer kulturellen Katastrophe gleich.

SB: Ein anderes Beispiel ist der Begriff Update, der eigentlich ausschalten und etwas Neues aufladen bedeutet. Wenn sich das im Sprachgebrauch einschleift, denkt der Mensch tatsächlich: Schalte aus, schalte ein, und ich bin neu da. Es zeigt jedenfalls, wie solche Transfers aus der Technologie auch ganz kurzfristig in Denkweisen und Lebensstrategien eingreifen können.

TM: Ja, das ist genau der Punkt, auf den Werner Seppman heute zu sprechen kam. Gegen diese kulturellen Katastrophen müssen wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln ankämpfen. Und natürlich müssen wir dabei versuchen, selbst eine Sprache zu verwenden, die jeden Jargon vermeidet. Dagegen sind die Marxisten nicht immer gefeit.

SB: Ließe sich vielleicht sogar sagen, daß der Kampf gegen den Verlust der Sprache für ihre grundsätzliche Wiedergewinnung geführt wird?

TM: Natürlich, das wird immer damit verbunden sein. Es hat in der Geschichte der Literatur stets Perioden gegeben, die diesem Ziel gewidmet waren. Shakespeare zum Beispiel konnte auf einer sehr reichen gesprochenen Sprache aufbauen. Es hat immer im Bewußtsein großer Schriftsteller gelegen, dazu gehört auch die deutsche Klassik, die Grenzen der Sprache zu überwinden, nicht durch eine artifizielle, poetische Sprache, sondern indem die gesprochene und überlieferte Sprache weiterentwickelt wird. Ich bin kein Romanist, weiß aber aus der Literatur, daß Dante in der Göttlichen Komödie zu einem Gutteil das moderne Italienisch mitgeschaffen hat, und trotzdem baut er ganz und gar auf seinem Dialekt auf. Und genauso hat Luther mit der Bibelübersetzung - was immer man auch über Luthers Theologie und Glauben denken mag - eine große kulturelle Leistung vollbracht. Er hat das Deutsche weitgehend, nicht nur als Schriftsprache, sondern auch als gesprochene Sprache, mitgeformt. Das war eine produktive, schöpferische Leistung der Sprachgebung.

SB: Thomas, ich bedanke mich für dieses aufschlußreiche Gespräch.

Im lebhaften Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Thomas Metscher mit SB-Redakteur
Foto: © 2012 by Schattenblick


Fußnote:
[1] Siehe dazu:

BERICHT/028: Fluchträume und Grenzen - Krise als Signatur der Epoche (SB)
Thomas Metscher analysiert die ästhetische Moderne
https://www.schattenblick.de/infopool/kunst/report/kurb0028.html

5. November 2012