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ANALYSE & KRITIK/303: Interview über das Residenzpflichtgesetz und seine Auswirkungen


ak - analyse & kritik - Ausgabe 540, 19.06.2009

Die Absicht ist, die Verfügbarkeit sicherzustellen
Interview über das Residenzpflichtgesetz und seine Auswirkungen

Von Jutta Blume und Jürgen Weber


In dem im Frühjahr 2009 veröffentlichten Bericht "Keine Bewegung!" werden anhand zahlreicher Fallbeispiele und Informationen aus erster Hand die alltäglichen Auswirkungen der sogenannten Residenzpflicht dargestellt. Im Interview erläutern die Autorin Beate Selders und Florence Sissako von der Organisation Women in Exil das System der Ausgrenzung und Stigmatisierung durch die Auferlegung der räumlichen Beschränkung des Aufenthalts.

ak: Zum Residenzpflichtgesetz wurde noch nie so zusammenhängend und umfangreich recherchiert wie in dem Report "Keine Bewegung!". Welche Absicht verfolgen die Herausgeber, der Flüchtlingsrat Brandenburg und die Humanistische Union, mit der Veröffentlichung?

Beate Selders: Zuerst einmal über das Gesetz und seine Auswirkungen zu informieren. Dabei geht es auch um die Auswirkungen auf die Gesellschaft, wie die Förderung von Rassismus durch die stigmatisierenden Gesetze. Konkreter Anlass war das Urteil des europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte aus dem Jahr 2007. Entgegen aller Erwartungen befand der mit einer völlig tautologischen Argumentation, das Gesetz sei mit der europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar. Der Flüchtlingsrat versucht außerdem aktuell zusammen mit den Flüchtlingsgruppen eine Kampagne in Brandenburg anzuschieben.

ak: Wie seit ihr persönlich zum ersten Mal mit dem Thema konfrontiert worden?

Florence Sissako: Ich bin als Flüchtling hierher gekommen und es ist wirklich die erste Information, die Flüchtlinge in einem Asyllager erhalten. Du kommst gerade ins Heim, kriegst deine Bettwäsche in die Hand gedrückt und dann hörst du sofort: Du darfst nicht von hier weggehen. Das sagt dir der Hausmeister, manchmal das Sicherheitspersonal, die Sozialarbeiterin und die Ausländerbehörde. Aber Details über die Bedingungen, einen Urlaubsschein zu beantragen, erfährst du nicht. Nach zwei Wochen denkst du: Ich bin hier im Gefängnis.

BS: Ich habe kurz nach dem Mauerfall davon erfahren, als die Flüchtlinge auf die neuen Bundesländer verteilt wurden und dort die Übergriffe von Neonazis drohten.

ak: Wie wirken sich die Zuweisung zu einem Landkreis und die räumliche Beschränkung auf den Alltag der Flüchtlinge aus?

BS: In erster Linie bedeutet es Isolation und Kontrolle. Manche müssen in Regionen leben, wo sie nicht einmal jemanden haben, mit dem sie in ihrer Muttersprache sprechen können, wo es keine Zeitungen gibt, um sich über ihr Herkunftsland zu informieren. Und wenn sie sich nicht an die Auflagen halten, leben sie ständig mit dem Gefühl, verfolgt zu werden. Tatsächlich laufen sie Gefahr, dauernd kontrolliert und dann sanktioniert zu werden, mit Folgen, die bis zur Ausweisung gehen.

FS: Und sie fühlen ihre Stigmatisierung: Die Flüchtlingsheime liegen oft außerhalb des Ortes, am Waldrand und weit weg von anderen Wohngegenden. Das verstärkt das Gefühl, nicht erwünscht zu sein, und erhöht nebenbei auch die Gefahr von rassistischen Angriffen. Ein Grund für die Isolation und Stigmatisierung liegt sicher darin, zu verhindern, dass Kontakte entstehen, die den Aufenthalt verfestigen, wie es im Amtsdeutsch heißt. Überall, wo Beziehungen entstehen, kann man Menschen nicht mehr widerstandslos hin- und herschieben.

ak: Erleben Frauen und Männer diese Situation unterschiedlich?

FS: In der Regel ergreifen Frauen weniger Initiative, das Heim zu verlassen. Sie werden viel weniger von der Polizei kontrolliert, sind aber trotzdem eingeschüchterter. Der Druck wirkt viel stärker. Aber es gibt einige Heime rund um Berlin, von wo aus Frauen nach Berlin fahren und abends zurückkommen. Das sind vor allem die Heime, wo die Frauen immer in Auseinandersetzungen mit den Männern geraten. Frauen müssen generell andere Strategien entwickeln, um etwas zu erledigen. Frauen die allein sind, haben große Probleme inner- und außerhalb der Heime.

BS: Was die Residenzpflicht für alle bedeutet, ist keine Privatsphäre zu haben. Ein Antrag auf Verlassenserlaubnis muss begründet, der Grund glaubhaft gemacht werden. Du willst jemand besuchen? Dann musst du in der Regel eine Meldebescheinigung oder die Kopie vom Personalausweis der Verwandten oder Freunde vorlegen. Mit der Zeit wird so das soziale Umfeld der Flüchtlinge durchleuchtet. Jedes Interesse muss gegenüber der Ausländerbehörde offengelegt werden, auch politisches. In vielen Bundesländern ist die Verlassenerlaubnis zudem noch gebührenpflichtig. Und weil es in den Heimen zu eng ist und die Gebäude oft völlig verwahrlost sind, ist es schwer, selbst Besuch einzuladen. Das heißt im Endeffekt, es gibt keine legalen Kontaktmöglichkeiten, wenn die Behörde dir die Erlaubnis nicht gibt. Es gibt keine Versammlungsfreiheit. In den Interviews habe ich immer wieder den Satz gehört: Ich muss mich entscheiden, entweder ich werde kriminell oder verrückt. Sehr viele setzen sich mit allen Risiken über das Gesetz hinweg. The Voice und andere Flüchtlingsorganisationen politisieren diesen individuellen Widerstand und führen eine Kampagne des Zivilen Ungehorsams.

ak: Flüchtlinge haben traumatische Erfahrungen machen müssen: Was machen diese Bedingungen nun mit ihnen?

FS: Flüchtlingen wird all das verweigert, was helfen könnte, die Traumatisierung vielleicht zu überwinden: sich von dem Erlebten abzulenken, positive Erfahrungen zu machen, wieder Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen, Vertrauen in ein soziales Umfeld zu bekommen. Im Gegenteil, ihnen wird die Souveränität über ihr Leben vollständig genommen, und es gibt Menschen, die erst durch diese Bedingungen traumatisiert werden.

ak: Wenn die Verweigerung einer Verlassenserlaubnis eine "unbillige Härte" darstellt, muss sie erteilt werden, so das Gesetz. Wer beurteilt, was eine unbillige Härte ist?

BS: Es ist ein Ermessensspielraum, der zwar juristisch überprüfbar, aber auf die individuelle Situation bezogen sein soll. Die Behörden gehen völlig unterschiedlich damit um. Den Flüchtlingen wird zum Beispiel eine Verlassenserlaubnis mit der Begründung verweigert, sie hätten schon drei in dem Monat gehabt. Es gibt oft solche internen Regelungen, die nicht transparent sind. Die Verweigerung wird auch als Bestrafung eingesetzt, wenn Flüchtlinge nach Meinung der Behörde nicht an ihrer Ausreise mitwirken oder wenn sie beim Verstoß gegen die Residenzpflicht erwischt worden sind.

ak: Aber es gibt auch Rechtsansprüche. Wie wird damit von den Ausländerbehörden umgegangen?

BS: Es gibt "zwingende Gründe", auf die sich AntragstellerInnen berufen können, aber es sind sehr wenige. Zum Beispiel die Fahrt zur Beerdigung eines nahen Verwandten, wichtige Familienfeiern wie Hochzeiten, der Besuch eines muttersprachlichen Gottesdienstes. Einfach mal zum Beispiel aus der brandenburgischen Provinz nach Berlin zu fahren, um der sozialen Enge zu entkommen oder Lebensmittel einzukaufen, die es bei Lidl nicht gibt, das geht nicht. Die Absicht des Gesetzes ist wirklich, dauernd die Verfügbarkeit zum Beispiel für eine Abschiebung sicherzustellen.

ak: Bei der Präsentation des Reports in Potsdam am 20. März wurde die Residenzpflicht als Teil eines Bündels von Abschreckungsmaßnahmen definiert. Mittlerweile schaffen es immer weniger Flüchtlinge, nach Europa und nach Deutschland zu kommen. Warum wird weiterhin an der restriktiven Auslegung festgehalten?

BS: Das Bild, das von Flüchtlingen gezeichnet wurde und wird, wird von vielen, die es politisch instrumentalisieren, tatsächlich für Realität gehalten. Birgit Rommelspacher spricht im Interview für "Keine Bewegung!" von der Inszenierung rassistischer Fantasien. Es gibt den starken politischen Willen, keine Flüchtlinge mehr im Land haben zu wollen, außer denen, die man ausgesucht "einlädt", wie jetzt die irakischen Flüchtlinge. Die Schikanen, zu denen die Residenzpflicht gehört, kann man in dem Kontext als Vertreibung betrachten. Die, die überhaupt noch ins Land kommen und nicht sofort in eines der Transitländer zurückgeschoben werden, sollen unter Bedingungen leben, die sie zur Ausreise oder in die Illegalität treiben. Einer meiner Interviewpartner, der sich lange über die Residenzpflicht hinweggesetzt hatte, bis er in den Knast kam, hat sich anschließend an die Regeln gehalten. Er ist dann durch die Isolation und die Perspektivlosigkeit psychisch krank geworden, hat nach einem Psychiatrieaufenthalt seinen Asylantrag zurückgezogen und ist in den Sudan zurückgegangen. Wir wissen, was im Sudan los ist!

ak: Das legt die Frage nahe, ob ein allgemeiner Konsens mit dieser Politik der rassistischen Inszenierung vorherrscht?

BS: Es gibt sicher viel Zustimmung, aber auch viel Unwissen und eine große Ignoranz. Ich war jetzt sehr verblüfft über eine Reportage in den tagesthemen über skandalöse Zustände in bayerischen Flüchtlingslagern. Da wurden alle Schikanen der deutschen Asylverhinderungspolitik als bayrische Spezialität dargestellt und skandalisiert. Tom Buhrow, schwer empört, hat anschließend die bayrische Sozialministerin dazu befragt und ihr sogar die geringe Anerkennungsquote von Asylgesuchen angelastet, sprich, er hatte überhaupt keine Ahnung. Ich fand das ein interessantes Dokument dafür, dass es keine öffentliche Auseinandersetzung mehr über Asylpolitik gibt, außer konjunkturell mal über einzelne Aspekte wie die Bleiberechtsregelung. Das verweist einerseits auf große Ignoranz, zum anderen wohl darauf, dass seit dem sogenannten Asylkompromiss 1993 das Thema innenpolitisch vom Tisch ist. Die Frage ist, wie man es da wieder hinkriegt.

ak: Lässt sich heute an die damalige Kampagne gegen die Residenzpflicht anknüpfen?

FS: Ich glaube, dass der Kampf auf politischer Ebene wirklich noch viel, viel Zeit in Anspruch nehmen wird. Mein Vorschlag ist, dass wir gleichzeitig Lobbyarbeit mit politischen Parteien machen, um dieses Gesetz abzuschaffen, und die Ausländerbehörden mit unserem Protest konfrontieren. Wir müssen auch der Bevölkerung sagen, dass Flüchtlinge oft nur wegen der Residenzpflicht kriminalisiert werden, sie haben sonst nichts verbrochen.


Beate Selders:
Keine Bewegung! Die "Residenzpflicht" für Flüchtlinge - Bestandsaufnahme und Kritik.
Hrsg: Flüchtlingsrat Brandenburg & Humanistische Union.
Eigenverlag, Berlin 2009. 5 EUR


Residenzpflicht

Die Aufenthaltsbeschränkung für Asylsuchende bzw. Geduldete ist im Asylverfahrensgesetz und Aufenthaltsgesetz festgeschrieben. Asylsuchende dürfen demnach ihren zugewiesenen Landkreis nicht verlassen. "Geduldete" sind per Gesetz in ihrem Aufenthaltrecht auf ein Bundesland beschränkt. Die zuständigen Ausländerbehörden können aber die Auflage erteilen, einen Landkreis oder sogar eine Kommune nicht zu verlassen.

Bei der Ausländerbehörde kann eine "Verlassensgestattung", auch "Urlaubsschein" genannt, beantragt werden. Diese gilt nur für ein bestimmtes, vorher festgesetztes Ziel. Ob und wie oft "Verlassensgestattungen" erteilt werden, ist Ermessenssache der jeweiligen Ausländerbehörde. "Urlaubsscheine" für die Teilnahme an politischen Veranstaltungen und Demonstrationen werden äußerst selten und in manchen Landkreisen generell nicht erteilt.

Ein einmaliger Verstoß gegen die Residenzpflicht gilt als Ordnungswidrigkeit, verstoßen Asylsuchende mehrfach dagegen, wird diese Ordnungswidrigkeit zum Straftatbestand - der einzige Fall im bundesdeutschen Recht, in dem eine Ordnungswidrigkeit zur Straftat werden kann.

1997 erklärte das Bundesverfassungsgericht die "Residenzpflicht" für verfassungskonform. 2004 bestätigte das Gericht sein Urteil, indem es eine Verfassungsbeschwerde mit dem Verweis auf das Urteil von 1997 abwies. 2007 verhandelte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Beschwerde gegen die Residenzpflicht. Ein Flüchtling hatte geklagt, dass die gesetzliche Aufenthaltsbeschränkung gegen das Recht auf Freizügigkeit verstoße. Das Gericht hielt die Beschwerde für unbegründet, das Recht auf Freizügigkeit gelte nur für diejenigen, die sich "rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Staates" aufhielten.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2009