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ANALYSE & KRITIK/401: Projekte statt Bewegungen


ak - analyse & kritik - Ausgabe 553, 17.09.2010

Projekte statt Bewegungen
Was uns der Protest gegen Stuttgart 21 über neue Formen des Politischen sagt

Interview von Ingo Stützle


Das Ländle ist im Aufruhr. Der Abriss eines alten, nicht sehr schönen Bahnhofs ruft die massivste Protestbewegung hervor, die es in den letzten Jahrzehnten in Stuttgart gegeben hat. Der Kulturwissenschaftler Klaus Schönberger vertritt die These, dass sich in diesen Protesten eine neue Form des Politischen zeigt: An die Stelle der Protest-Bewegung tritt das Protest-Projekt. Darüber, was das für linke Politikformen bedeutet, sprach Klaus Schönberger mit ak.

ak: Die aktuellen Proteste in Stuttgart werden von einem breiten Spektrum getragen, das bis zu den BewohnerInnen der sogenannten Halbhöhenlage, d.h. den etwas Betuchteren reicht. Diese Konstellation ist noch sehr fragil, die Akteure kennen sich bisher kaum. Was könnte das für die Zukunft dieser lokalen Bewegung bedeuten - vor allem vor dem Hintergrund, dass die politische Klasse versucht, den Protest zu delegitimieren?

Klaus Schönberger: Nicht zu vergessen die Stuttgarter Zeitungen versuchen permanent, die Gewaltfrage ins Spiel zu bringen, obwohl diese derzeit überhaupt nicht gestellt wird. Natürlich könnte diese Frage für die Proteste ein Problem werden, weil diese sich auf die Verhinderung von Stuttgart 21 (S21) fokussieren und sonst wenig Gemeinsamkeiten haben. Es gibt ja nicht einmal Einigkeit über das Alternativkonzept "Kopfbahnhof 21" (K21). Aber zumindest ist es Teilen der Protestbewegung mit der griffigen Parole "Oben bleiben!" gelungen, eine Alternative zu S21 zu formulieren - das ist ja bei derartigen Widerstandsbewegungen sehr selten. Für dieses Konzept gibt es inzwischen viele prominente FürsprecherInnen, die zeigen, dass K21 eine viel bessere verkehrspolitische Alternative ist.

ak: Können aus dem Widerstand gegen S21 Schlüsse über das gegenwärtige Protestpotenzial in Deutschland gezogen werden?

Klaus Schönberger: In den letzten Jahren ist Protest immer projektförmiger geworden - durchaus analog zu dem, was wir in der Arbeitswelt als Projekt bezeichnen. Das bedeutet auch, dass Politik kurzfristiger und unverbindlicher wird. Aber eben auch spontaner, aufbrausend und damit unkontrollierbarer. Wo demnächst etwas passiert, wer dabei sein wird und wie weit die jeweils Beteiligten gehen werden, bleibt unklar. Meine These wäre: Der Bewegungsmodus wird momentan von einem Projektmodus abgelöst.

Damit stellt sich zugleich die Frage nach dem Politischen. Was bedeutet es, wenn ein Bewegungsmodell ausläuft, das wesentlich durch Protest als Lebensstil geprägt war? Dieses Modell war für die 1970er und 1980er Jahre zentral. Damals wurde Protest wesentlich von "den üblichen Verdächtigen" getragen, die sich zugleich durch bestimmte Lebensstile auszeichneten. Diesen Gestus gibt es zwar noch, er ist aber in vielen Protesten nicht mehr hegemoniefähig. Keine Kraft in den Bewegungen ist derzeit in der Lage, den "richtigen" Protest für sich zu reklamieren.

Diese Entwicklung finde ich gut und interessant zugleich, da sie eine Neudefinition des Politischen einschließt. Es ist genau das Erfolgsrezept der Proteste gegen S21. Der Protest ist breit, die Rolle der klar benennbaren Akteure ist recht unklar und der Widerstand ist nicht steuerbar.

ak: Was bedeutet das für die Hoffnung auf eine Radikalisierung?

Klaus Schönberger: Der bereits angesprochene Spaltpilz "Gewaltfrage" kann gar nicht mehr in der bekannten Art wirken. Das war ja bereits in Heiligendamm faszinierend. Nach der Randale bei der großen Demonstration in Rostock wurden die Blockaden des Gipfels nahezu unbeeindruckt von der Gewaltdiskussion durchgezogen. Das wäre vor zehn Jahren in der Form völlig undenkbar gewesen. Damals wäre die Stimmung gekippt.

ak: Nach den G8-Protesten in Heiligendamm haben sich viele organisierte Linke gefragt, wo die Tausenden geblieben sind, mit denen sie gemeinsam blockiert haben ...

Klaus Schönberger: Der Projektcharakter der Proteste stellt für die klassische Linke ein Problem dar, weil er nicht zu ihrer Vorstellung des Politischen passt. Linke gehen stark von einem typischen Bewegungsmodus aus und wissen schon im Vorfeld, wie richtiger Protest auszusehen hat. Die Menschen, die sich für ein bestimmtes Ziel zusammenschließen, kümmern sich aber nicht groß um Widersprüche zu anderen. Es geht ihnen vor allem um "ihr" Projekt, für das sie bereit sind, sich zu bewegen. Das bedeutet auch, dass Proteste wie der gegen S21 nicht einfach von links besetzt werden können.

Die Konsequenz ist auch, dass nach einem solchen Projekt erstmal Schluss ist. Wenn S21 durch ist, wird in Stuttgart wieder Ruhe einkehren. Daraus wird keine Bewegung im klassischen Sinne entstehen. Bleiben werden historische und persönliche Erfahrungen, die durchaus an anderer Stelle, zu anderen Themen auch wieder abgerufen und "angereichert" werden. Aber es gibt keine identitären Projekte mehr. Viele Fragen, die sich die klassische Linke bis heute stellt, erscheinen vor diesem Hintergrund obsolet und teilweise auch lächerlich. Sie merkt erst langsam, dass sich etwas verändert.

ak: Dennoch geht es nach wie vor darum, Widerstand und Selbstermächtigung zu verbreitern, zu radikalisieren und zu verstetigen. Die klassische Perspektive ist, möglichst viele Menschen in seine Organisation einzubinden. Dass diese Option verschlossen ist, hat sich auch deutlich nach Heiligendamm gezeigt ...

Klaus Schönberger: Genau darüber werden wir in Zukunft diskutieren müssen. Was bedeutet die Veränderung für den von dir aufgemachten Punkt? Müssen wir einen anderen Begriff des Politischen entwickeln? Ich habe darauf keine Antwort. Ich denke, dass die skizzierte Veränderung nicht nur Auswirkungen auf die radikale Linke hat, sondern die gesamte Gesellschaft und die Organisationen der Zivilgesellschaft betrifft: Gewerkschaften, Kirchen, Parteien etc. Es macht deshalb überhaupt keinen Sinn, von Entpolitisierung oder Politikverdrossenheit zu sprechen. Es müsste vielmehr um ein Verständnis des Politischen gehen bzw. darum, wie sich die Auflehnung gegen die herrschenden Verhältnisse neu artikuliert.

Die radikale Linke wirkt bisher nur selten integrativ und pflegt lieber ihren Narzissmus der kleinsten Differenz, also was uns von "den anderen" unterscheidet. Das drückt sich z.B. im exzessiven Gebrauch von Seitentransparenten auf Demos aus, die geradezu bildlich ein "ihr" und "wir" markieren. Stellte sich die radikale Linke die aufgeworfenen Fragen, würde das auch eine Veränderung ihrer selbst bedeuten. Beim Euromayday sehe ich da Ansätze. Sie haben gelernt, mit anderen zu sprechen und sich nicht einfach nur abzugrenzen. In Deutschland gibt es noch eine Menge Nachhol- und Reflexionsbedarf. Stuttgart 21 oder ähnliche Anlässe bieten hierfür die Möglichkeit.

ak: Ich würde gerne noch einen vorher angesprochenen Punkt aufgreifen. Beim Protest gegen Stuttgart 21 geht es vielen wirklich nur um den denkmalgeschützten Bahnhof oder ein paar Bäume. Wo siehst du ein überschüssiges Moment, das Beziehungen zu anderen Protesten herstellen könnte?

Klaus Schönberger: Das führt nochmals zur Frage, um was es bei Stuttgart 21 eigentlich geht. Aus meiner Sicht sind zwei Punkte zentral. Zum einen wird dort die Machtfrage gestellt. Wer bestimmt eigentlich was mit welcher Legitimation? Das unterstreicht nochmals, dass die Gesellschaft alles andere als entpolitisiert ist. Zweitens ist der Protest auch als Chiffre für ein generelles Unbehagen zu verstehen. Das Unbehagen über das, was als "Globalisierung", "Prekarisierung" oder "Krise" abstrakt bleibt, wird in konkrete Auseinandersetzungen eingebracht. Stuttgart 21 ist somit einerseits Anlass, aber zugleich Projektionsfläche. Das würde auch erklären, warum die Mittelschichten bei den Protesten derart präsent sind. Sie bekommen eine Möglichkeit zu protestieren, ohne gleich das ganze Gesellschaftssystem in Frage stellen zu müssen. So weit wollen und können sie nicht gehen. Dennoch haben sie Gründe, gegen die Verhältnisse aufzumucken - in diesem allgemeinen und unbestimmten Sinne. Daran lässt sich aber die Frage anschließen, was das für Konsequenzen für die Linke hat. Kann man dieses diffuse Unbehagen - und wenn ja wie - von links politisieren und radikalisieren?

ak: Oft versucht die Linke, das Pferd anders herum aufzuzäumen: Sie stellt sich die Frage, wie sehr allgemeine Problemfelder wie die Finanzkrise "heruntergebrochen" werden können, um so "die Leute" zu politisieren. Deinen Ausführungen zufolge müsste die Linke stattdessen lernen, existierende Proteste wahrzunehmen und darin mitzumischen...

Klaus Schönberger: Ja, und sie sollte sich den Distanzierungsreflex verdrücken, der wieder nur feststellt, dass das alles Romantiker sind, es nur um Bäume geht oder die Kritik viel zu soft ist. Zunächst sind die Leute, die protestieren, ernst zu nehmen. Wenn ich mich in gesellschaftliche Prozesse verwickeln lassen will, politisch handeln möchte, damit sich etwas verändert, dann muss ich mich zu Wort melden, mitmischen, Erfahrungen einbringen. Die Form der Kommunikation, ja überhaupt die Kommunikationsfähigkeit ist hierfür zentral.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. September 2010