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ARBEITERSTIMME/274: Der Angriff auf Syrien... ist vorübergehend gestoppt. Aber der Bürgerkrieg geht weiter


Arbeiterstimme Nr. 181 - Herbst 2013
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Der Angriff auf Syrien...

...ist vorübergehend gestoppt. Aber der Bürgerkrieg geht unvermindert weiter.



Auch wenn in den Medien viel über einen angeblichen Versprecher von US-Außenminister Kerry spekuliert wurde, spricht mehr für einen Plan B, der bereits auf dem G-20-Gipfeltreffen von St. Petersburg und dem gleichzeitigen Außenministertreffen Gegenstand der Erörterungen gewesen sein soll. Kerrys Äußerung, die beinhaltete, Assad müsse innerhalb einer Woche seine Chemiewaffen herausrücken, wenn er den Angriff auf Syrien verhindern wolle, kam just zu dem Zeitpunkt, als sich immer deutlicher abzeichnete, Obama würde für einen Angriff nicht das erwünschte Plazet im Kongress erhalten. Schon vorher war der britischen Regierung die Beteiligung vom Parlament untersagt worden. Da die US-amerikanischen Geheimdienste dafür bekannt sind, Kriegsanlässe nach Bedarf zu konstruieren, nützte in diesem aktuellen Fall die Behauptung, man habe sichere Beweise dafür, dass die Assad Regierung für einen Giftgaseinsatz am 21. August in der Nähe von Damaskus mit 1429(?) Toten verantwortlich sei, nicht viel. Die angeblich sicheren Beweise waren nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sollten aber geglaubt werden. Und da die UN-Inspektoren bei ihren Untersuchungen vor Ort nur feststellen konnten, ob und wenn ja, welches Giftgas zum Einsatz gekommen ist, war es für die US-Regierung nicht zwingend, abzuwarten, bis die Ergebnisse ausgewertet waren. Für den Friedensnobelpreisträger Obama, gestaltete sich die Situation von Tag zu Tag komplizierter. Zum einen hatte er sich mit seiner roten Linie, die er im Fall eines Chemiewaffeneinsatzes in Syrien als überschritten erklärt hatte, in Zugzwang gesetzt. Andererseits wusste er, dass jeder Angriff auf Syrien als Reaktion auf das Überschreiten der roten Linie vom UN-Sicherheitsrat abgesegnet werden muss. Ein zustimmendes Votum war in diesem Gremium nicht zu haben, weil Russland und die VR China aus mehreren nachvollziehbaren Gründen ihre Zustimmung (bzw. Enthaltung) verweigern würden. Also wäre nur ein völkerrechtswidriger Angriff durch US-Streitkräfte zur Debatte gestanden. Aus diesem Dilemma wurde Obama - zumindest vorerst - durch einen diplomatischen Schachzug der russischen Regierung befreit. Präsident Putin und sein Außenminister Lawrow hatten die Äußerung Kerrys unmittelbar aufgegriffen, sich in Damaskus rückversichert und ein uneingeschränktes Ja zur Vernichtung der syrischen Chemiewaffen verkündet. Inzwischen hat die syrische Regierung bei der UNO den Beitritt zur internationalen Chemiewaffenkonvention beantragt. So weit, so gut. Stefan Ulrich kommentiert in der Süddeutschen Zeitung vom 11. September: "Immerhin ist die Tür zu einer Lösung nun einen Spalt aufgegangen. Amerikaner und Russen sondieren eine Verständigung in der Chemiewaffenfrage. Einigen sie sich, so könnten sie das Momentum nutzen, um den gesamten Fall Syrien neu mit dem Sicherheitsrat auszudiskutieren. Womöglich setzt sich ja die ganz pragmatische Erkenntnis durch, dass ein in Stücke zerrissenes, von Warlords umkämpftes Syrien niemandem nutzt." Könnte man meinen, doch spricht einiges dagegen. Zumindest gehen die Kämpfe in Syrien mit unverminderter Härte weiter. Um diese Härte zu verstehen und Erfolgsaussichten einer Verhandlungslösung einschätzen zu können, ist ein Blick auf die Entstehung des Konflikts, auf verschiedene Aspekte seines gesellschaftlichen Hintergrundes und auf die beteiligten Akteure erforderlich.



Über Massendemonstrationen zum Bürgerkrieg

In der Ausgabe 176 der Arbeiterstimme wurde der sog. Arabische Frühling einer ersten Einschätzung unterzogen. U.a. wurde auch auf die Entwicklung in Syrien bis Anfang Juni 2012 eingegangen. Schon damals zeichnete sich eine weitere Zuspitzung der innersyrischen Auseinandersetzungen ab. Das Scheitern des Sondergesandten Annan und die Geldzuweisungen des Golf-Kooperationsrats an die aufständischen Gruppen sollten sich als Wegweiser für die zu erwartende Ausweitung und Verschärfung des Konfliktes erweisen: Weg von massenhaften Protestaktionen und der Einbeziehung der Diplomatie, hin zur Militarisierung der Auseinandersetzungen. Schon damals waren die Fronten durch die Positionierung von NATO und EU-Staaten gegen Assad, dessen Rücktritt zur Voraussetzung für eine friedliche Lösung erklärt wurde, verfestigt worden. Damit stärkte man den Teilen der Aufständischen den Rücken, die von Haus aus einer Verhandlungslösung abgeneigt sind. Vor einem Jahr war von 3000 Toten die Rede. Heute wird allgemein von über 100.000 ausgegangen. Der Bürgerkrieg hat weite Teile des Landes erreicht. Millionen Menschen haben ihre Wohngebiete verlassen. Schon jede/r vierte Bewohner/in soll auf der Flucht sein. Einigermaßen zuverlässige Angaben über das bestehende Kräfteverhältnis zwischen den Konfliktparteien sind kaum zu erhalten. Zu unübersichtlich ist die Lage im Land. Die regierungstreuen Staatsorgane haben sich aus der Fläche zurückgezogen. Aufständische sind nachgerückt. Teilweise sind sie bis in die Städte vorgestoßen und haben sich in verschiedenen Stadtteilen festgesetzt, wobei sich die Fronten im Häuserkampf Verlieren. Über die Stärke der Rebellengruppen gibt es nur vage Schätzungen. Die sich als "Freie Syrische Armee (FSA)" bezeichnenden Aufständischen sollen aus etwa 80.000 Kämpfern bestehen, deren Kern desertierte Soldaten und Offiziere der Regierungstruppen bilden. Da es in Syrien eine Wehrpflicht gibt, ist es verständlich, wenn sich Wehrpflichtige in großer Zahl weigern, gegen die eigenen Bevölkerung zu kämpfen. Im Umfeld der FSA kommt es zunehmend zu Spannungen zwischen den radikal fundamentalistischen Gruppen al-Nusra und der "Islamic State of Iraq and Syria (ISIS)". Die sich vorwiegend aus dem Irak rekrutierende ISIS strebt ein länderübergreifendes Kalifat an. Die Differenzen werden auch bewaffnet ausgetragen. Jürgen Todenhöfer rechnet Al Nusra, dem syrischen Ableger von Al Kaida, 15.000 Kämpfer zu. Ein Drittel davon seien "ausländische Dschihadisten". Al Nusra sei inzwischen "die führende Kraft unter den Rebellen und weltweit die größte Al Kaida-Konzentration"(Tagesspiegel, 1.7.13) In der IMI-Studie 5-2013 erwähnt Jürgen Wagner einen Zusammenhang zwischen der Stärke von Al-Kaida nahen Kräften und einer zunehmenden Unterstützung der Regierungsseite durch die Bevölkerung: "Glaubt man (...) Berichten über eine im. Auftrag der NATO von internationalen Hilfsorganisationen durchgeführte Umfrage, ist die Unterstützung der Assad-Regierung in der Bevölkerung in jüngster Zeit (...) erheblich gestiegen. Der Grund dafür liege vor allem in der weit verbreiteten Sorge, Al-Kaida-nahe Kräfte könnten sich am Ende durchsetzen, was große Teile der Bevölkerung extrem besorge. Die von der NATO nicht veröffentlichten Daten würden zeigen, dass 70 Prozent der Bevölkerung hinter Assad stünden, weitere 20 Prozent verhielten sich neutral und lediglich 10 Prozent unterstützten die Aufständischen." Zu den weiteren Akteuren im syrischen Konflikt sind die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) in den Grenzgebieten zur Türkei zu nennen. Für sie ist der Rückzug der syrischen Regierungstruppen eine Gelegenheit, ein autonomes Gebiet zu realisieren und dieses gegen alle zu verteidigen, die einen Autonomieanspruch der Kurden ablehnen. Deshalb herrscht zwischen den YPG und den Dschihadisten von al Nusra und ISIS ein sehr gespanntes Verhältnis, weil sich die Kurden den politischen Vorstellungen der religiösen Spinner nicht unterordnen wollen und in einem autonomen Status innerhalb eines säkularen syrischen Staates ihre Perspektive sehen. Über die türkische Grenze werden gezielt Dschihadisten in die kurdischen Gebiete eingeschleust um die Verteidigungsstrukturen der Kurden anzugreifen. Auch verdeckt agierende Milizen aus der Türkei sollen die kurdischen Dörfer belästigen. Die türkische Regierung hat sich frühzeitig zugunsten der Aufständischen positioniert und leistet ihnen in erheblichem Maße logistische Hilfe. Meldungen über westliche Spezialeinheiten in Syrien wurden zwar regelmäßig dementiert. "Mittlerweile ist auch nachgewiesen, dass westliche Spezialeinheiten innerhalb Syriens operieren, um die 'Freie Syrische Armee' aufzurüsten und Sabotageakte durchzuführen." (J. Wagner, IMI-Studie 5-2013) In Jordanien werden syrische Freiwillige seit längerem von westlichen Ausbildern für den Einsatz in Syrien trainiert. Auf Regierungsseite wird der Kampf gegen die Aufständischen vor allem von der Armee geführt. Über die aktuelle personelle Stärke des Militärs ist wegen der Desertionen wenig bekannt. Der Luftwaffe können die Aufständischen bisher kaum etwas entgegensetzen. Neben dem Militär stützt sich die Assad-Regierung auf Sondertruppen, die Polizei und diverse Geheimdienste. Gefürchtet sind bei den Rebellen die sog. Schabiha-Milizen, irreguläre Gruppen, die von Cousins des Präsidenten geführt werden. Seit einigen Monaten beteiligen sich auch Kämpfer der libanesischen Hisbollah auf Regierungsseite. Ihre Zahl wird von der Süddeutschen Zeitung auf 2000 geschätzt. Das Eingreifen der Hisbollah-Verbände soll mit dazu beigetragen haben, den Vormarsch der Aufständischen zu stoppen und in zentralen Gebieten zum Rückzug zu zwingen.


Der Krieg in und gegen Syrien als Warnung an den Iran

Nicht von der Hand zu weisen ist die Vermutung von Werner Ruf, die US-Administration würde im Zusammenhang mit Syrien eine Strategie verfolgen, die schon einmal in Afghanistan gegen die Sowjetunion erfolgreich eingesetzt worden war, "Ein Bündnis mit dem Teufel". Das empfehle auch der nicht unbedeutende Think tank Council on Foreign Relations: "Die syrischen Rebellen wären heute ohne al-Qaida in ihren Reihen unermesslich schwächer. Die Einheiten der Freien Syrischen Armee sind weitgehend erschöpft, zerstritten, chaotisch und ineffektiv (...) al-Qaidas Kämpfer können jedoch helfen, die Moral zu steigern. Der Zustrom von Dschihadisten bringt Disziplin, religiöse Leidenschaft, Kampferfahrung aus dem Irak, Finanzmittel von sunnitischen Sympathisanten aus den Golfstaaten und am wichtigsten, tödliche Resultate, mit sich. Kurz gesagt, die FSA braucht al-Qaida - jetzt." Dass sich die USA keinen neuen Kriegsschauplatz mit Bodentruppen leisten wollen bzw. können, ist bei den meisten Beobachtern Konsens. Der Staatshaushalt der USA hat nicht zuletzt durch die große Wirtschafts- und Finanzkrise und die diversen Kriege längst die Grenze der Belastbarkeit überschritten. Was bisher die USA selbst bzw. in Arbeitsteilung mit anderen imperialistischen Ländern im Nahen Osten erledigten, wird nunmehr Saudi-Arabien, Qatar und den Staaten des Golf-Kooperationsrats überlassen. Diesen reaktionären sunnitischen Staaten ist der schiitische Gürtel von Teheran, Bagdad, Damaskus bis zur libanesischen Hisbollah schon lange ein Dorn im Auge. Mit der Schwächung der Assad-Regierung hofft man, dem Iran, dem eigentlichen Gegner des fundamentalistisch-sunnitischen Lagers, einen empfindlichen Schlag zu versetzen. Womit können die Feudalstaaten der arabischen Halbinsel punkten? Sie haben sich bisher als verlässliche Lieferanten von Öl und Gas erwiesen, treten uneingeschränkt für marktwirtschaftliche Prinzipien ein und verfügen über schier endlose Geldreserven. Damit können sie ziemlich unbegrenzt in den noch zu destabilisierenden Ländern die bestehenden Konflikte anheizen. Auf die sozialen und ökonomischen Herausforderungen in diesen Ländern haben sie noch weniger als die Moslembrüder Antworten. Schon jetzt weist das sunnitische Bündnis innere Widersprüche auf, die eine nicht unerhebliche Sprengkraft beinhalten. Den wahabitischen Saudis sind nämlich die Muslimbrüder mit ihrer Betonung des Sozialen nicht geheuer. Deshalb unterstützen sie vorwiegend salafistische Bestrebungen in der islamischen Welt. Die Muslimbrüder können sich eher auf Qatar verlassen. So sind schon jetzt die Konfliktlinien in sunnitisch dominierten Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas spürbar. Für den Historiker Götz Aly heißt das: " Wer solche politischen Kräfte mit Worten oder Taten unterstützt, hat den Verstand verloren." (BZ, 27.8.13) Das alles hält Obamas Administration nicht davon ab, die Strategie einer Verschärfung des syrischen Konfliktes vehement weiter zu verfolgen. Nun ist die Destabilisierung der syrischen Regierung keine Erfindung Obamas. Schon 1957 hatten der US-Präsident Eisenhower und der britische Regierungschef Macmillan einen Plan abgesegnet, der unter Mithilfe der Muslimbruderschaft u.a. die Ermordung des syrischen Präsidenten Schukri Al-Quatli zum Ziel hatte. Und lt. US-General Wesley Clark hatte er bereits wenige Tag nach dem Anschlag auf das Welthandelszentrum in New York er von Plänen erfahren, folgende fünf Staaten anzugreifen: Irak, Syrien, Libanon, Libyen, Somalia, Sudan und Iran. Es ging dabei um "die Kontrolle der Öl- und Gasressourcen der Region" für die USA. Wenn man sich die Liste anschaut, war die US-Administration in den folgenden Jahren nicht untätig.

Auf einen besonders "perfiden Plan" verweist J. Wagner. Er hält eine gezielte US-Strategie für denkbar, die auf einen fortdauernden Bürgerkrieg in Syrien setzt, der als "Abnutzungskrieg zu einem idealen Instrument zur Schwächung der anti-amerikanischen sog. Schiitischen Achse (Hisbollah, Syrien zunehmend auch Irak und vor allem aber der Iran)" dienen könnte. Da inzwischen die Hisbollah auf syrischer Regierungsseite mitkämpft und auf Rebellenseite Dschihadisten und Al-Kaida beteiligt sind, würden durch einen weiterhin andauernden Abnützungskrieg gleich auch diese beiden, den USA feindlich gesinnten Akteure geschwächt. Vor diesem Hintergrund ergäbe ein kurzer, gezielter Militärschlag, angesichts der zugunsten der syrischen Regierungstruppen verbesserten Lage einen "Sinn".


Die Widersprüche in der syrischen Gesellschaft als Auslöser des Konflikts

Der schnelle Übergang der syrischen Oppositionsbewegung von friedlichen Protesten zu bewaffneten Formen ist u.a. nur erklärbar, wenn die soziale Lage eines Großteils der Bevölkerung, vor allem die von Jugendlichen zur Kenntnis genommen wird. Schon in den 90er Jahren - die Unterstützung durch das sozialistische Lager war in Gefolge der Ereignisse in der Sowjetunion weggebrochen - hatte die Regierung unter Hafez al-Assad eine Abkehr von planwirtschaftlichen Strukturen eingeleitet. Als sein Sohn Baschar im Jahr 2000 die Präsidentschaft übertragen bekam, setzte dieser die Politik der ökonomischen Liberalisierung in raschem Tempo fort, unterstützt von Beratern internationaler Organisationen. Ein EU-Assoziierungsabkommen beschleunigte die Hinwendung zu neoliberalen Konzepten. Präsident Baschar al-Assad wurde in westlichen Wirtschaftskreisen als Reformer und Hoffnungsträger hofiert. Die mit den Wirtschaftsreformen einhergehende Marktöffnung für transnationale Konzerne und der Abbau der Schutzzölle für einheimische Produkte brachte für viele kleine und mittlere Betriebe das Aus. Die Beschäftigten vergrößerten das Heer der Arbeitslosen. Ein Vorgang, wie er in dieser Form in vielen peripheren Staaten stattfand und immer noch stattfindet. Die Liberalisierung des syrischen Marktes hatte für die Masse der Lohnabhängigen äußerst negative Auswirkungen und verschlechterte insgesamt die Lage der Mittel- und Kleinbourgeoisie; sie kannte aber auch Gewinner, vor allem Personen aus dem Verwandtschaftlichen Umfeld der Assads wie etwa die Cousins des Präsidenten aus der Familie Machluf: "Machluf kontrolliert den syrischen Mobilfunkanbieter SyriaTel.... Analysten zufolge kann ohne sein Einverständnis kein ausländisches Unternehmen Geschäfte in Syrien machen. Das Privatvermögen von Rami Machluf und dessen Bruder Ihab wurde 2006 auf etwa drei Milliarden US-Dollar geschätzt, die Familie Machluf gilt als reichste Familie Syriens. Außer Syria-Tel ist Rami im Rahmen der Familiengeschäfte auch an Immobilien- und Bankgeschäften, Freihandelszonen entlang der Grenze zum Libanon, Duty-free-Shops und Luxuskaufhäusern beteiligt; Außerdem ist er Eigentümer der syrischen Tageszeitung al-Watan." (Wikipedia) Der Wirtschaftswissenschaftler Nabi al-Salmann beschrieb die Situation: "Die neue vermögende Klasse Syriens raffte mit illegalen Mitteln Milliarden von Dollar zusammen, die syrische Regierung ist aber nicht willens, dies zu verändern. Es gibt nachweislich riesige Unterschiede in den Einkommen und Vermögen zwischen der Generation der extrem vermögenden Neureichen, die sich aus hohen Regierungsbeamten und traditionellen Geschäftsleuten zusammensetzt, einerseits und der unteren Klasse andererseits. Die herrschende Baath-Partei hat dieser nichts mehr anzubieten." Und das sollte sich für sie, die die Brisanz unterschätzte, als fatal erweisen. Wenn die Masse der Bevölkerung immer mehr marginalisiert wird, wendet sie sich von den bestehenden Herrschaftsstrukturen ab und sucht nach Alternativen. Diese - wenn auch nur scheinbare - können in vielen arabischen Ländern seit längerem nur Kräfte aus dem politischen Islam anbieten, die wiederum von Saudi Arabien, Qatar und anderen reichen Golfstaaten finanziert werden.

Neben dem neuen Wirtschaftskurs trugen drei weitere Faktoren zur Verschärfung der sozialen Lage bei: Ein explosionsartiges Bevölkerungswachstum: Allein zwischen 1998 und 2004 wuchs die Bevölkerung von 15,3 auf 18,6 Millionen Einwohner an. Dazu kamen etwa 1,5 Millionen irakische Flüchtlinge, die der Irakkrieg ins Land schwemmte, und schließlich eine langjährige Dürre, die viele Bauern veranlasste, ihr Land aufzugeben und in die Städte zu ziehen, die wiederum auf die vielen Zuwanderer nicht vorbereitet waren. Schon 2007 soll etwa ein Drittel der Bevölkerung in Armut gelebt haben. Und das war noch vor der Weltwirtschaftskrise. Bei einem ökonomischen Modell, das immer mehr Verlierer produziert und den Gegensatz von arm und reich verschärft, bleibt den Regierenden nur die Möglichkeit, die Unzufriedenheit und daraus entstehende Proteste mit den "bewährten" Mitteln der Repression einzudämmen. Wer immer glaubt, die Konflikte in Syrien seien hauptsächlich von außen ins Land hineingetragen worden, greift zu kurz. Primäre Ursache für den aktuellen Konflikt ist die desolate soziale Lage einer immer größeren Zahl von vorwiegend jugendlichen Syrerinnen und Syrern, die für sich und ihre Familien keine Perspektive sehen und sich bisher auch nicht adäquat politisch einbringen konnten.



Deutschland mit und gegen Syrien

Noch kurz vor und zu Beginn des Übergreifens des sog. arabischen Frühlings auf Syrien, gaben sich Wirtschaftsdelegationen aus der EU, und da wiederum vor allem aus Deutschland, in Damaskus die Klinke in die Hand. Im Unterschied zu den Kolonialmächten Frankreich und England hatte Deutschland zudem in der Gegend keine Erblasten. Auch wenn Syrien in den 70er/80er Jahren in den Zeiten des Kalten Krieges den Ost-West-Gegensatz im Eigeninteresse zu nutzen wusste, und die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion suchte, ließ man in Bonn und später auch in Berlin die guten Kontakte nie abreißen. Vor allem der Bundesnachrichtendienst leistete dabei brauchbare Dienste, was sich an der Personalie Brunner gut aufzeigen lässt.

Alois Brunner, Spitzname Bluthund, hatte als rechte Hand Eichmanns über 128.000 Menschen in die Konzentrationslager deportieren und noch im Juli 1944 in Paris für einen letzten Transport 250 Mädchen und Jungen zusammentreiben lassen. In Frankreich wurde er in Abwesenheit zweimal zum Tode verurteilt. Durch Mithilfe Gehlens, des späteren Chefs des Bundesnachrichtendienstes, gelang es Brunner, in den Nahen Osten zu entkommen und als Dr. Georg Fischer Jahrzehnte unbehelligt in Damaskus seinen Geschäften nachzugehen. Er war dort nicht der einzige prominente Naziverbrecher. In diesem Netzwerk betätigte er sich als Waffenhändler, verkehrte in syrischen Geheimdienstkreisen und lieferte Informationen an den Bundesnachrichtendienst. So merkte die Bild am Sonntag unlängst an, kein westlicher Geheimdienst habe "so gute Quellen in Syrien wie der BND". Um dann fortzufahren: "Wir können stolz darauf sein, welchen wichtigen Beitrag wir(!) zum Sturz des Assad-Regimes leisten." Während Brunner in den neunziger Jahren in einem Gästehaus von Hafiz-al-Assad, dem Vater des jetzigen Präsidenten gelebt haben soll, hat der BND seine Akte gezielt vernichtet. Dass in syrischen Gefängnissen gefoltert und von den diversen Sicherheitsorganen oppositionelle Regungen mit brachialer Gewalt unterdrückt wurden, war jahrzehntelang kein Thema, das die Beziehungen zwischen der BRD und Syrien beeinträchtigt hätte. Auch die US-Geheimdienste hatten so viel Vertrauen in syrische Partnerdienste und in das Gefängnisregime des Landes, dass man Gefangene aus Afghanistan zum Zwecke der Folterung vorbeibrachte. Man liest und sieht in deutschen Medien derzeit kaum etwas über diese Zusammenhänge. Im Gegensatz dazu mangelt es nicht an Journalisten und Fernsehkommentatoren, die einer bewaffneten Intervention durch westliche Staaten das Wort reden und selbst Politiker aus konservativen Parteien ins Abseits stellen, wenn die wie etwa die Bundeskanzlerin oder der Außenminister zur Vorsicht raten. Dass dabei die Nähe zur Bundestagswahl und eine Bevölkerung, die mehrheitlich ein militärisches Abenteuer ablehnt, eine Rolle spielen dürften, soll nicht unerwähnt bleiben. Natürlich fällt es Vertretern des politischen Christentums in Deutschland nicht unbedingt leicht, Sympathien für syrische "Freiheitskämpfer" zu empfinden, die sich mehrheitlich an Werten des politischen Islams orientieren So ist auch die Äußerung des stellv. CDU-Bundesvorsitzenden Armin Laschet einzuordnen, der kritisch anmerkte: "Geradezu bizarr ist eine europäische Außenpolitik, die die Rebellen in Syrien als 'Freiheitskämpfer' glorifiziert und die gleichen Kämpfer mit den gleichen Zielen... in Mali als Terroristen bekämpft." (FAZ, 22.3.13) Nun sind Worte das eine. Wenn es aber darum geht, die Verlässlichkeit der "deutschen Seite" unter Beweis zu stellen, ist auf die Bundesregierung auch bei militärischen Interventionen wie etwa im Fall Libyen, wo man sich nicht an den Angriffen beteiligte, Verlass. Seit Monaten ist die Bundeswehr mit der Stationierung der Patriot-Luftabwehr-Systeme an der syrischen Grenze zur Türkei präsent. Was immer die Medien am Verhalten der deutschen Delegation beim G-20-Treffen in St. Petersburg auszusetzen hatten, die Merkel-Regierung weiß sich der westlichen "Werte"gemeinschaft verpflichtet. Was Syrien betrifft, stellt sich die Bundesregierung aber nicht an die Seite der Scharfmacher à la Hollande. Angela Merkel betonte: "Die Dinge sind sehr schwierig." Die Oppositionsparteien - mit Ausnahme der Linkspartei - lehnen Kriegseinsätze der Bundeswehr im Ausland nicht ab. Die Sozialdemokraten haben vielfach bewiesen, keine vaterlandslosen Gesellen mehr zu sein. Einen von der Sache her längeren, aber zeitlich recht kurzen Weg hatten die grünen Pazifisten zurückzulegen. Der grüne Co-Fraktionsvorsitzende im EU-Parlament, Cohn-Bendit, ist immer einer der ersten und vehementesten, wenn es gilt, ein militärisches Eingreifen anzumahnen. So auch bei Syrien: "]a, die Bundesregierung müsste sich zusammen mit anderen EU-Ländern an der Vorbereitung einer militärischen Aktion beteiligen." (Spiegel Online, 30.8.13)


Chancen für eine Beendigung des Konflikts: Gibt es die?

Der Strafrechtler und Rechtsphilosoph an der Universität Hamburg, Reinhard Merkel, macht denen hierzulande, die ihre Hoffnung auf die syrischen Rebellen setzen, wenig Hoffnung: "Nichts von all den romantischen Erwartungen einer demokratischen, rechtsstaatlichen Zukunft, mit denen eine gutgläubige öffentliche Meinung hierzulande die Ambitionen der syrischen Rebellen verklärt hat, wird sich in absehbarer Zeit erfüllen." Die Journalistin der Süddeutschen Zeitung, Sonja Zekri, verweist auf die Erfahrungen mit dem Irak und befürchtet für Syrien eine ähnlich fatale Entwicklung: "Seit Beginn des Jahres fielen im Irak 4000 Menschen dem Terror zum Opfer. Das Land ist zerrissen zwischen Sunniten und Schiiten, die Sicherheitskräfte sind nach dem Abzug der Amerikaner nicht in der Lage, die Bevölkerung zu schützen. Falls Syrien zerfällt, würde auch dieser Staat infrage stehen. Es hätte der neuen Opfer nicht bedurft, nicht der 800 Toten im August und nicht der 1000 im Juli, nicht der insgesamt 4000 seit Beginn des Jahres, die dem Terror zum Opfer fielen. Der Irak wäre auch ohne sie das beste Argument gegen jede Einmischung des Westens in Syrien. S0 aber ist er mehr als nur ein abschreckendes Beispiel." (SZ 4.9.13) Leider ist zu befürchten, dass der zum Bürgerkrieg ausgeartete Konflikt in den kommenden Wochen und Monaten unvermindert anhält und weitere Opfer fordert. Der Schlüssel zur Lösung des Konflikts liegt in erster Linie bei den ausländischen Mächten, die die Weiterführung des Krieges durch Geld, Waffen und Munition erst ermöglichen. Um den Konflikt einer Lösung näher zu bringen sind deshalb ein Stopp aller Waffenlieferungen und eine sofortige Waffenruhe unumgänglich. Außerdem müssen auf beiden Seiten die ausländischen Kämpfer abgezogen werden. Die Aufnahme von Verhandlungen könnte zu einer von Regierung und Opposition paritätisch besetzten Übergangsregierung führen. Diese hätte die Aufgabe, eine neue Verfassung, die den multikulturellen Charakter Syriens zum Ausdruck bringt, ausarbeiten zu lassen und freie Wahlen vorzubereiten. Eine Illusion angesichts der realen Lage im Land? Vielleicht. Aber gibt es dazu eine Alternative?

hd
Stand: 13.9.13


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Frauen der kurdischen Volksverteidigungseinheiten

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 181 - Herbst 2013, Seite 1 bis 7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Oktober 2013