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ARBEITERSTIMME/281: Mindestlohn - ein historisches Ereignis?


Arbeiterstimme Nr. 183 - Frühjahr 2014
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Mindestlohn - ein historisches Ereignis?



Nun soll es ihn also geben, den Mindestlohn. Unter großem medialem Tamtam wurde er im Koalitionsvertrag zwischen SPD und CDU/CSU vereinbart. Als ein "Richtiger Schritt in die richtige Richtung" wird das von den Gewerkschaften gewertet. Das sei, so der neue IG Metall-Vorsitzende Detlef Wetzel, ein "erster Schritt für eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt". Neben dem Mindestlohn von Euro 8,50 sieht Wetzel, die Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen und den Verbesserungen bei der Rente als wichtige Punkte an, nach vier Jahren Stillstand unter der schwarz-gelben Koalition.

Steht also ein neuer politischer Aufbruch auf der Tagesordnung? In den Gewerkschaftsspitzen, scheint man dieser Meinung zu sein. Praktisch von allen Einzelgewerkschaften und von Seiten des DGB hörte man nur positive Äußerungen bei der Bewertung der Koalitionsvereinbarung. Als "ausgesprochen positiv" wird vom DGB-Vorsitzenden Sommer die Vereinbarung genannt. Kritik gibt es wenig und wenn, nur am Rande. In der Verdi-Einschätzung wird immerhin angemerkt, dass das geplante Einfrieren des Mindestlohns bis 2018 "den Erfordernissen im Niedriglohnsektor und den Bedürfnissen der Betroffenen nicht gerecht" wird (jW 03.12.2013).

Und in der Januar-Ausgabe der metallzeitung berichtet Armin Schild fast euphorisch von den zurückliegenden Koalitionsvertrags-Verhandlungen. Schild ist Bezirksleiter des IG Metall-Bezirkes Mitte und Mitglied im Parteivorstand der SPD. In dieser Funktion hat er den Koalitionsvertrag mitverhandelt. Im Interview mit der Gewerkschaftszeitung sagt Schild: "Der gesetzliche Mindestlohn ist ein historisches Ereignis, das den ausufernden Niedriglohnsektor endlich nach unten begrenzt. Die Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen und Verbesserungen beim Entsendegesetz hätten wir ohne die Koalitionsverhandlungen nie und nimmer erreicht. Das wird nicht nur die Tarifautonomie, sondern auch die Gewerkschaften stärken Bei der Gesamtbewertung des Koalitionsvertrags kommt Schild schließlich zu der Auffassung, die auch in die Überschrift des metallzeitung-Interviews einfließt: "Wir hatten noch nie so viel Einfluss"!

Große Koalition für Arbeitnehmerfragen

Diese Meinung wird offensichtlich von der IG Metall-Spitze geteilt, sonst hätte man in der Mitgliederzeitung eine andere Überschrift gewählt. Zwar kündigt Wetzel an, dass in den nächsten Jahren Druck für eine "gute Politik" gemacht (und damit der Einfluss ausgeübt) werden soll, aber er sieht sich ebenso, wie sein Vorgänger Huber, nicht in der Rolle des Klassenkämpfers, sondern eher in der des "Krisenmanagers". Huber war Protagonist einer solchen Politik. Nach der Bundestagswahl hat er in zahlreichen Interviews seine Erwartungen zu einer zukünftigen großen Koalition geäußert und damit auch die zukünftige politische Orientierung seiner Gewerkschaft dargelegt. Dabei griff er immer wieder auf seine Erfahrungen, die er mit Merkel während der Krise 2008 gemacht hat zurück. Nach seiner Meinung habe sich die Kanzlerin von Argumenten (eigentlich von ihm) überzeugen lassen, dass die industrielle Wertschöpfung und Beschäftigung in Deutschland erhalten bleibt. Diese "große Leistung" habe bewirkt, dass es keine Entlassungen in der Krise gegeben habe. Die Bewältigung der großen Krise 2008 sei deshalb der beste Beweis, dass der Sozialstaat handlungsfähig ist. Das sei ein Erfolg der Mitbestimmung gewesen und Frau Merkel sei ja auch eine Protagonistin der Mitbestimmung. Und alles zusammen war deshalb nach Hubers Meinung "ein großer Sieg gegenüber der Theorie und der Politik der Neoliberalen".

In der Stuttgarter Zeitung (18.10.2013) merkt Huber schließlich noch an: "Wenn nun 32 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder die Union gewählt haben, ist das auch eine Herausforderung für Frau Merkel". Und er meint dass es deshalb "eine Große Koalition für Arbeitnehmerfragen geben (muss) - vor allem mit einem gesetzlichen Mindestlohn und mehr Rechten für Betriebsräte bei Leiharbeit und Werkverträgen".

Ein historisches Ereignis

Betrachten wir uns nun einmal, wie sich inzwischen die "Große Koalition für Arbeitnehmerfragen" darstellt. Im Koalitionsvertrag ist vereinbart, dass es einen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro flächendeckend geben soll. Allerdings er erst in drei Jahren, ab dem Januar 2017. In der Zeit davor sind viele Ausnahmen möglich. Denkbare Ausnahmen von der Neuregelung könnten das Gastgewerbe oder die ostdeutschen Bundesländer sein. Weitere sind möglich, wenn man die bereits laufende, kontrovers geführte Diskussion betrachtet. Auch sind regionale oder Branchentarife zulässig, die weniger als 8,50 Euro Stundenlohn beinhalten, sofern der dort geltende Tarifvertrag niedrigere Mindestsätze vorsieht. Beginnen soll die Einführung erst in einem Jahr zum 1. Januar 2015. Vorher ist Funkstille und für die Niedrig- und Hungerlöhner heißt das - geduldig warten. Wie das "historische Ereignis" des Armin Schild dann letztendlich aussieht bleibt abzuwarten. Schließlich ist ein Koalitionsvertrag kein verbindlicher, einklagbarer Notarvertrag, sondern letztlich nur eine Absichtserklärung. Die darin niedergeschriebenen Absichten können durch viele Faktoren beeinflusst und verändert werden.

Und diese werden von der Interessenslage der Kapitalisten und ihrer politischen Handlanger gesetzt. Zur Aufweichung des Vorhabens, einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn einzuführen dient das Arbeitsplatzargument. So tönt es von konservativer und liberaler Seite, von Wirtschaftsverbänden und -instituten: "wenn mindestens 8,50 Eure in der Stunde bezahlt werden muss, werden massenhaft Arbeitsplätze gefährdet". Die aktuelle Speerspitze bei der Kritik an dem Vorhaben Mindestlohn bildet die CSU. Der Koalitionsvertrag war noch nicht unterzeichnet, da wurden von ihr bereits weitgehende Ausnahmeregelungen gefordert. So sollen auch nach 2017 Schüler, Studenten und Rentner, die stunden- und tageweise arbeiten, keinen Mindestlohn erhalten. So sagte Bayerns Wirtschaftsministerin Ilse Aigner in der Passauer Neuen Presse "... Schüler, Studenten und Rentner, die einen Zuverdienst haben, (sind) anders zu behandeln als Arbeitnehmer, die mit einer Vollzeittätigkeit ihren Lebensunterhalt verdienen." Die Dame tut so, als würde diese Personengruppe aus Jux und Tollerei zu Minilöhnen jobben. Vielmehr sind sehr viele aus dieser Gruppe schlichtweg darauf angewiesen, nebenher zu arbeiten, um eben diesen Lebensunterhalt bestreiten zu können.

Auch der Wirtschaftsflügel der Union will keinen flächendeckenden Mindestlohn, und schon gar keinen, den der Bundestag festlegt. Von ihm wird beklagt, dass man es jetzt nicht mehr mit der marktwirtschaftlichen FDP, sondern der staatswirtschaftlichen SPD zu tun habe. Man wolle verhindern, dass "die Agenda 2010 zurückgedreht wird", sagt der Vorsitzende der Mittelstandvereinigung der CDU, Carsten Linnemann zu dem Thema. Damit befindet er sich im Einklang mit den meisten anderen Unternehmer- und Wirtschaftsverbänden. So hat die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände angekündigt, zu erwägen vor dem Bundesverfassungsgericht gegen einen gesetzlichen Mindestlohn zu klagen. Deren Präsident Dieter Hundt erklärte in der Stuttgarter Zeitung im Oktober des letzten Jahres, dass durch einen Mindestlohn die Tarifautonomie beschädigt würde und erweiterte Mitspracherechte bei Werkverträgen für Betriebsräte verfassungsrechtlich bedenklich wären. Diese führten zu Einschränkung der unternehmerischen Freiheit.

Dass den Herrschenden im Lande, wenn es um die Durchsetzung ihrer Interessen geht, kein Argument zu primitiv und dumm ist zeigt in diesem Zusammenhang eine "Studie" des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). In dem stellen deren "Wissenschaftler" fest: "Der Mindestlohn macht die meisten Haushalte ärmer! Höhere Stundenlöhne würden sich laut der Studie nicht in höhere Realeinkommen umsetzen. Gerade für Haushalte der Mittelschicht könnte der Mindestlohn mit Einkommensverlusten einhergehen" (FAZ 4.11.13).

...das ist nicht so ganz schlecht

Bei dieser konservativ-kapital-orientierten Ablehnungsfront könnte fast der Eindruck entstehen, dass die neue große Koalition kapitalfeindliche Zielstellungen verfolgt. Das tut sie natürlich nicht. Im Gegenteil! Auch bei der SPD ist die plötzlich neu entdeckte "Gerechtigkeitslücke" und "Arbeitnehmerorientierung" reine Taktik. Das zeigt nichts deutlicher als der Auftritt des damaligen Fraktionsvorsitzenden und heutigen Außenministers Frank-Walter Steinmeier auf dem Deutschen Arbeitgebertag am 19. November in Berlin des vergangenen Jahres. Auf dieser, von den Kapitalisten als "die wichtigste Tagung der gesamten deutschen Wirtschaft" bezeichneten Veranstaltung, führte Steinmeier vor 1.500 Teilnehmern in einem Grußwort unter Anderem folgendes aus: "Wenn Sie sich in gerechter Weise zurückerinnern, dann hat es eigentlich die entscheidenden Steuersenkungen, und zwar in einem Volumen von mehr als 60 Milliarden Euro, unter einer sozialdemokratischen Regierung gegeben. Mit der Senkung des Spitzensteuersatzes, mit der Senkung des Eingangsteuersatzes, mit der Senkung der Unternehmenssteuern. Sie haben bis dahin ihre Kapitalsteuern, ihre Kapitalzinsen nach dem Einkommenssteuergesetz bezahlt, und seit der Zeit nur noch für die Hälfte ungefähr nach dem Abgeltungssteuergesetz, das war damals immerhin sozialdemokratische Steuerpolitik. Und ich finde bis heute, das ist das nicht so ganz schlecht" (Applaus! Nachseh- und hörbar ist das bei You-Tube "Minute 17"). Das Kapital hat also nichts zu befürchten. Staat und Bundesregierung werden sich auch in Zukunft um die Durchsetzung des kapitalistischen Gesamtinteresses kümmern. Und die Einführung eines Mindestlohns, gleich wie er dann auch schlussendlich aussieht, dient durchaus diesem kapitalistischen Gesamtinteresse. Die Gründe dafür liegen sowohl in der Innenpolitik, als auch in der Außenpolitik.

Schon in ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl rückte die CDU von der totalen Verweigerung eines Mindestlohnes ab. Offiziell wurde zwar ein gesetzlicher Mindestlohn weiterhin abgelehnt, doch wurde festgestellt, es sei Sache der Politik, die Voraussetzungen zu schaffen, dass alle Menschen die Chance auf einen ordentlichen Lohn haben. Deshalb sollen in Bereichen, in denen es keine Tarifverträge gibt, Arbeitgeber und Gewerkschaften gesetzlich verpflichtet werden, einen tariflichen Mindestlohn festzulegen. Die Richtung war damit vorgegeben und es war schließlich auch klar, dass die Union über das SPD-Stöckchen "flächendeckender Mindestlohn", springen würde. Für die SPD gab es an diesem Punkt in den Verhandlungen auch nur wenige Kompromissmöglichkeiten. Ihr Ziel ist, bei ihrer traditionellen Klientel wieder an Boden zu gewinnen. Mit der Forderung nach einem Mindestlohn soll der anhaltende Niedergang gestoppt werden. Der flächendeckende Mindestlohn musste daher im Koalitionsvertrag festgeschrieben werden, gleichgültig, was in den kommenden Jahren dann auch tatsächlich sein wird.

Der ideelle Gesamtkapitalist

Friedrich Engels bezeichnete den Staat treffend als "ideellen Gesamtkapitalisten". Er ist ein Mittel der herrschenden Klasse, was aber trotzdem bedeuten kann, dass seine Maßnahmen und Gesetze durchaus in Widerspruch zum Interesse einzelner Kapitalisten stehen können. Mit dem Vorhaben einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, nimmt die neue Bundesregierung diese Rolle des ideellen Gesamtkapitalisten wahr. Da sich innenpolitisch die sozialen Verwerfungen drastisch zuspitzen, muss sie etwas tun um den "sozialen Frieden" nicht zu gefährden.

Deutschland hat inzwischen den größten Niedriglohnsektor in Europa. Rund 20 Prozent der abhängig Beschäftigten sind davon betroffen. Der Anteil der Vollzeitbeschäftigten, die in diesem Sektor arbeiten, liegt inzwischen bei rund fünf Millionen Menschen. Mehr als dreieinhalb Millionen Beschäftigte arbeiten für weniger als sieben Euro brutto pro Stunde. Und über 1,2 Millionen wurden sogar mit einem Stundenlohn von weniger als fünf Euro abgespeist. Selbst bei einer Vollzeitbeschäftigung liegt das monatliche Erwerbseinkommen bei solchen Stundenlöhnen höchstens bei rund 800 Euro, eher noch darunter. Nicht einmal Alleinstehende können von solchen Hungerlöhnen leben. Es ist deshalb kein Wunder, dass immer mehr Menschen zwei oder mehr Stellen haben. Fast drei Millionen "Multi-Jobber" gibt es inzwischen in Deutschland. Da kann eine Angel Merkel natürlich leicht sagen: "Es gibt in Deutschland so viele Arbeitsplätze, wie wir nie hatten". (Süddeutsche Zeitung 2.9.13) Diese Negativ-Entwicklung ist das Ergebnis der ganz großen Koalition, gebildet aus CDU/CSU/FDP/SPD/Grüne/Unternehmerverbänden, sowie der Flucht der Kapitalisten aus den Tarifverträgen. Nur noch ungefähr 50 Prozent der Beschäftigten unterliegen inzwischen einem Branchen- bzw. Flächentarifvertrag. Hinzu kommt, dass durch die Schröder'sche Agendapolitik und die so genannten Hartz-Reformen das gesamte Lohngefüge unter Druck kam. Explosionsartig breiteten sich prekäre Jobs, Leiharbeit und Werksverträge aus. Diese Wirtschaftsbereiche und die tariflosen Betriebe sind heute quasi gewerkschaftsfreie Zonen. Eine Besserung der Lage ist daher nicht in Sicht.

Deutschland geht es gut...

Die einzelnen Kapitalisten können natürlich mit dieser Situation gut leben. Sie wollen deshalb auch keine Veränderungen und zetern entsprechend laut. Doch auf die Dauer kann der momentane Zustand aber zum Problem werden, insbesondere dann wenn die Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Ökonomie wieder deutlicher sichtbar werden. Zwar scheint im Moment in der BRD die Welt in Ordnung zu sein. Die Wirtschaft wächst, wenn auch langsam. "Deutschland hat sich vom kranken Mann Europas zur wirtschaftlichen Lokomotive hochgearbeitet", meint das Wall Street Journal Deutschland im August des letzten Jahres. Die Arbeitslosenquote ist mit rund 6,5 Prozent (Oktober 2013) so niedrig wie schon lange nicht mehr. Gleichzeitig bewegt sich die Zahl der Erwerbstätigen auf dem höchsten Niveau in der Geschichte der BRD. Im Juli 2013 waren nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 41,8 Millionen erwerbstätig. "Deutschland geht es gut", sagte deshalb die Kanzlerin im Wahlkampf. Von der Bevölkerungsmehrheit wird das - und das zeigt auch das Bundestagswahl-Ergebnis - offensichtlich ebenfalls so wahrgenommen. Dabei spielt es keine Rolle, dass es sich bei genauerem Betrachten dabei um mehr Schein als Sein handelt. Diejenigen, die in prekären Verhältnissen leben, die zu Hungerlöhnen arbeiten müssen, werden in der öffentlichen Wahrnehmung einfach ausgeblendet. Doch ist die Zahl derer inzwischen so groß, dass sie von der Politik nicht mehr einfach übersehen werden können. Sie bilden, trotz ihrer aktuellen Passivität und des "geduldigen" Hinnehmens ihrer Situation ein potentielles Risiko für die bürgerliche Klasse, insbesondere dann, wenn diese Schicht weiter anwachsen sollte.

Die Verhältnisse in der Bundesrepublik werden aber in Zukunft nur stabil bleiben, wenn es auch weiterhin ein Programm sozialstaatlicher Sicherungen zum Abbau der sozialen Ungleichheit gibt, wenn die schlimmsten Verwerfungen einigermaßen ausgeglichen werden.

Zwar besteht aktuell keine Aussicht, dass sich eine breite soziale Bewegung gegen die neoliberale Politik der Bundesregierung und die kapitalistischen Verhältnisse im Lande entwickelt. Eine Mehrheit der Menschen im Lande ist zweifellos mit den politischen und ökonomischen Verhältnissen einverstanden. Das gilt nicht nur in Deutschland, sondern selbst in jenen europäischen Ländern, die aktuell tief in der Krise stecken. Doch die Zustimmung wird brüchiger.

Anfang des letzten Jahres stellte die Universität Jena Ergebnisse einer soziologischen Studie zum Arbeiterbewusstsein vor. Danach finden 80 Prozent der Befragten im Osten und 74 Prozent im Westen, dass der gesellschaftliche Wohlstand gerechter verteilt werden müsse und mehr als die Hälfte ist der Meinung, dass die heutige Wirtschaftsweise auf "Dauer nicht überlebensfähig" sei. Allerdings zeigt sich auch die Tendenz einer schleichenden Entsolidarisierung. Vor allem westdeutsche Arbeiter finden: Es reicht nicht mehr für alle und nicht jeder - zum Beispiel Leiharbeiter - könne noch mitgenommen werden. In der Krise 2008/2009 gelang es den Betriebsräten und Gewerkschaften die Stammbelegschaften vieler Betriebe zu sichern. Vor allem in den Großbetrieben entwickelte sich aber aus dieser Erfahrung eine Art Wagenburgmentalität. Man setzt alles daran, als Stammarbeiter, nicht aus dem scheinbar gesicherten Sektor "Großbetrieb" herauszufallen. Das Beispiel der entlassenen Leiharbeiter und Befristeten ist noch zu gut in der Erinnerung. Es machte den Beschäftigten deutlich, was passiert, wenn man nicht zu der privilegierten Stammbelegschaft gehört.

Das Risiko sozialer Unruhen

Doch diese scheinbare Sicherheit kann schnell vorbei sein. Die Weltwirtschaft zeigt sich aktuell alles andere als stabil. Die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise sind weltweit noch immer nicht überwunden. Deutschland kam in den Jahren 2010 und 2011 nur dank der boomenden Nachfrage aus China und anderer Schwellenländer, sowie milliardenschwerer Konjunkturpakete aus der Krise heraus. Darin liegt die große Schwachstelle der bundesdeutschen Wirtschaft. Einer starken deutschen Exportorientierung steht ein schwach ausgeprägter Binnenmarkt gegenüber. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die kommenden vier Jahre, nicht wie die vergangenen drei Jahre von einer weitere wirtschaftlichen Erholung geprägt sind, sondern, dass es erneut zum Ausbruch der Krise kommt. Sollte das der Fall ein, hat das sofort umfassende Auswirkungen auf die Exportindustrie. Die Krise 2008/2009 hat gezeigt, wie schnell die Automobil- und Zulieferindustrie, sowie der Maschinenbau in große, teilweise existenzielle Schwierigkeiten kommen können. Sollte sich eine vergleichbare Entwicklung in naher Zukunft wiederholen, wird alles um einen Zacken schwieriger werden. Aufgrund der weltweiten drastischen Staatsverschuldungen` werden Konjunkturprogramme so wie gehabt, kaum wieder auflegbar sein. Auch nicht in Deutschland mit einer Staatsverschuldung von mehr als 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und einer, in das Grundgesetz aufgenommenen, Schuldenbremse. Die wahrscheinliche Folge: Firmenzusammenbrüche und eine noch nicht gekannte Massenarbeitslosigkeit.

Natürlich weiß heute niemand, was in einem solchen Fall tatsächlich geschieht. Aber sicherlich würde bei den Lohnabhängigen das Vertrauen in das kapitalistische Wirtschaftssystem deutlich erschüttert, denn es wären wieder sie, auf die die Krisenlasten abgewälzt würden. Die Zahl der bereits Ausgegrenzten würde drastisch steigen und ein Widerstandspotential bilden, das weit über dem liegt, was wir bei den Montagsdemonstrationen anlässlich der Hartz IV-Gesetzgebung vor einigen Jahren erlebt haben. In welche politische Richtung eine solche Bewegung liefe, ist allerdings offen. Die andauernde Krise in Europa begünstigt die Entwicklungsbedingungen autoritärer, nationalistischer, faschistischer und populistischer Parteien, wie zum Beispiel der AfD in Deutschland.

Und schon gibt es Stimmen aus dem bürgerlichen Lager die vor möglichen Gefahren warnen. So sieht Peter Bofinger, Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, demokratiegefährdende Tendenzen in den südeuropäischen Krisenländern, analog der Entwicklung in der Weimarer Republik. Und die ILO prognostiziert drohende Krawalle durch die Arbeitslosigkeit. Danach nimmt das Risiko sozialer Unruhen in vielen Industriestaaten zu. Natürlich ist das auch den Herrschenden und Regierenden hierzulande bewusst. Ihnen liegt daran, solche Entwicklungen möglichst zu verhindern. Denn nur so können sie sichere Bedingungen für die Kapitalverwertung garantieren.

Darin liegt auch der tiefere innenpolitische Grund für die jetzige Bereitschaft einen Mindestlohn zu gewähren. Es gilt den Sprengsatz "soziale Ungerechtigkeit" zumindest teilweise zu entschärfen um die Massenloyalität der abhängig Beschäftigten zum bürgerlichen Staat und den herrschenden Produktionsverhältnissen zu erhalten.

Außenpolitische Gesichtspunkte

Am 2. April 2013 schreibt die Süddeutsche Zeitung: "(Es entsteht...) das Bild vom hässlichen Deutschen, der dem übrigen Europa sein Wirtschaftsmodell aufzwingt: In vielen Nachbarländern droht die Wut der Straße zur offiziellen Politik mit antideutschen Zügen zu werden". Die Wut ist nicht unbegründet. Die deutsche Wirtschaft ist dabei andere Euro-Länder auf doppelte Weise zu erdrosseln. So wird seit Jahren in den anderen EU-Ländern Kaufkraft abgeschöpft. Das geschieht, weil durch die erdrückende Wettbewerbskraft maßgebender deutscher Industriezweige die anderen nur noch schwer mithalten können. Gleichzeitig wird in Deutschland selbst die Nachfrage gedrosselt, weil die Binnenkaufkraft nicht im notwendigen Maße da ist. Das hat zur Folge, dass die anderen europäischen Länder an der hiesigen Nachfrage kaum partizipieren können.

Die Hauptursache für die Abschottung des deutschen Inlandsmarktes liegt in der politisch gewollten Ausbreitung von Niedriglöhnen und, an einer insgesamt seit mehreren Jahren rückläufigen Reallohnentwicklung. So hat im vergangenen Jahr Belgiens Regierung Deutschland bei der EU-Kommission angezeigt, weil sich das Land mit niedrigen Löhnen unfaire Wettbewerbsvorteile in der EU verschafft. Den Vorwurf, die Deutschen halten ihre europäischen Partner mit Dumpinglöhnen nieder, hört man inzwischen nicht nur in Europa. Die Kritik kommt inzwischen von allen Seiten. So forderte jüngst der Vize-Chef des Internationalen Währungsfonds nach Informationen des Spiegel eine konkrete Obergrenze für die Überschüsse der Bundesrepublik. Im November letzten Jahres hatte das US-Finanzministerium in seinem halbjährlichen Bericht an den Kongress erklärt, dass die starke deutsche Exportorientierung eine weitere Entspannung der Euroschuldenkrise behindere und in Europa wie auch der Welt deflationäre Tendenzen auslöse. Um die Anpassungsprozesse zu unterstützen, sollten Überschussländer wie Deutschland ihre Binnennachfrage stärken und Handelsbilanzüberschüsse zurückfahren (ND 4.11.2013).

Die Einigung auf einen Mindestlohn im Koalitionsvertrag, dient deshalb außenpolitisch auch dazu, der wachsenden Kritik an der deutschen Wirtschaftspolitik, den Wind aus den Segeln zu nehmen. So äußerte sich Frankreichs Präsident Francois Hollande erfreut im Tagesspiegel (2.12.13) zum vereinbarten Mindestlohn "Dies war eine Forderung, die wir seit langem an Deutschland hatten". Doch es ist kaum anzunehmen, dass sich das Problem der deutschen Handelsbilanzüberschüsse verringert. Nicht nur wegen der langen Zeitschiene bis zur Einführung des flächendeckenden Mindestlohnes. Es gibt zu viele Möglichkeiten einer Aufweichung der angekündigten Maßnahme. Ganz abgesehen von der Beeinflussung durch eine negative konjunkturelle Entwicklung.

Druck für eine "gute Politik"

Erinnern wir uns: Detlef Wetzel von der IG Metall hat angekündigt, dass in den nächsten Jahren Druck für eine "gute Politik" gemacht würde. Wie ein solcher Druck aber aussehen soll damit ein wirklich flächendeckender Mindestlohn durchgesetzt wird, sagt er nicht. Mit den Betroffenen wird das wohl nicht gehen. Sie sind nur wenig organisiert, in den Betrieben meist isoliert und oft auch eingeschüchtert. Die Gewerkschaften sind in den Niedriglohnbereichen nicht in der Lage die Faust zu zeigen. Ein wirklich flächendeckender Mindestlohn aber, der in seiner Höhe(!) - und das wären mehr als 8.50 Euro in der Stunde - auch tatsächlich ein Leben in Würde ermöglichte, müsste erkämpft werden. Und zwar auf der Straße durch den persönlichen Einsatz der Betroffenen. Das am Ende stehende Ergebnis wäre dann das Resultat dieses Klassenkampfes und würde konkret das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen zum Ausdruck bringen. Findet dieser Kampf nicht statt, und das wird aus objektiven Gründen so sein, bleibt Wetzel nur noch das Gespräch mit seinen "Parteifreunden Es wird sich dann zeigen wie groß der Einfluss auf die Regierungspolitik, der ja angeblich "noch nie so groß war, wie heute war", dann tatsächlich ist. Aber auch dieses Ergebnis ist dann ganz konkret Ausdruck der realen Klassen-Kräfteverhältnisse in Deutschland.

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 183 - Frühjahr 2014, Seite 1 und 3 bis 6
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
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Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2014